Veröffentlicht im Selbstverlag
Erstausgabe 1987, Freiburg im Breisgau
Copyright © by Peter Möller



 



Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur Internet-Fassung 1999
Vorwort zur Internet-Fassung 2003
Vorwort zur Internet-Fassung 2007


EINLEITUNG


I. TEIL – DIE ZERSTÖRUNG DER ALTEN SICHERHEITEN

1. Wie ich dazu kam an allem zu zweifeln
1a) Die Vielfalt der Weltanschauungen

1b) Meine Sinne können mich täuschen
1c) Mein Verstand kann mich in die Irre führen
1d) Auf Gefühle ist kein Verlass
1e) Träume
2. Wie ich dazu kam, mir meiner Existenz als einem erlebenden und bewussten Wesen sicher zu sein
3. Wie ich zum Skeptizismus kam
4. Wie ich zum Solipsismus kam
5. Wie ich zum Nihilismus kam


II. TEIL – VERSUCH EINES NEUAUFBAUS

6. Die Grundgruppen meiner Erlebnisse

7. Möglichkeiten und Grenzen der Überwindung des Skeptizismus
8. Wahrheitsbegriffe
9. Gedanken zur Überwindung des Nihilismus


III. TEIL – MEINE NEIGUNG ZU EINER IDEALISTISCHEN WELTERKLÄRUNG

10. Bewusstsein und Materie

11. Gedanken über den Tod
12. Philosophie statt Religion
13. Philosophie und Parapsychologie
14. Gedanken zur Dialektik


IV. TEIL – MEIN MENSCHENBILD

15. Bedürfnisse und Gerechtigkeit

16. Gedanken über das Glück
17. Der Mensch als Egoist und Gemeinschaftswesen


Nachworte 1999, 2001 und 2003

Anmerkungen

Literaturverzeichnis


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Vorwort zur Internet-Fassung 1999

Die in diesem Text vertretenen philosophischen Auffassungen habe ich in den Jahren 1985 bis 87 nach und nach entwickelt und aufgeschrieben. Sie unterscheiden sich zu großen Teilen stark von dem, was ich in der Zeit davor gedacht habe. Davor, in meiner »vorkritischen Zeit«, wie ich es nenne (ohne mich etwa mit Kant auf eine Stufe stellen zu wollen) [1], hatte ich nur wenige eigene Gedanken. Meistens hatte ich mich den Gedanken anderer angeschlossen, ohne dass mir dies richtig bewusst war.

In den letzten zwölf Jahren habe ich diesen Text im Bekanntenkreis herumgegeben und ihn in der Folge von Diskussionen, Anregungen, Kritiken und eigenen neuen Erkenntnissen des Öfteren überarbeitet, ohne dass substantielle Änderungen vorgenommen wurden. Seit 1987 haben sich meine philosophischen Auffassungen im Kern nicht mehr geändert. Deshalb ist dieser Text auch heute noch eine gute Einführung in meine Philosophie. Allerdings sind meine philosophischen Kenntnisse inzwischen tiefer und breiter geworden. Meine philosophischen Auffassungen erschöpfen sich nicht in dem, was hier steht.

Ursprünglich hatte ich vor gehabt, diesen Text nur an mir bekannte Personen weiterzugeben. Wenn es nicht inzwischen das Internet gäbe, hätte sich daran auch nichts geändert. Das hat folgende Gründe:

  1. Der Text ist z. T. sehr persönlich geschrieben.
  2. Es steht in dem Text nichts substantiell neues. Alles ist irgendwann schon einmal von anderen gedacht und aufgeschrieben worden. Lediglich in dieser spezifischen Zusammenstellung mag es einmalig sein. (Wenn allerdings nur Bücher veröffentlicht würden, in denen substantiell neues steht, wären die Buchhandlungen und Bibliotheken erheblich leerer.)
  3. Ich hatte das Bedürfnis, über bestimmte Fragen zu diskutieren, nicht aber das Bedürfnis von mir für richtig gehaltene philosophische Vorstellungen zu propagieren. Für so wichtig habe ich mich und meine Texte nie gehalten.
  4. Ich war 33 bis 35 Jahre alt, als ich diese Gedanken entwickelte. Manches, was hier steht, erinnert aber mehr an einen Jugendlichen oder jungen Erwachsenen, der erst vor relativ kurzer Zeit damit begonnen hat, ein selbständig denkender Mensch zu werden. Ich wollte nicht vor einem breiterem Publikum demonstrieren, was für ein schrecklicher Spätentwickler ich war.

Für diese Spätentwicklung gibt es allerdings eine Erklärung:

Ich bitte, das Folgende nur als Erklärung, nicht als Jammerei anzusehen. Eine solche finde ich ungerechtfertigt, wenn sie von gesunden erwachsenen Menschen kommt, die das unverdiente (?) Glück haben in Frieden und Freiheit in einem der reichsten Länder der Welt zu leben.

Ich war von meiner sozialen und familiären Herkunft nicht dazu prädestiniert, später einmal philosophische Abhandlungen zu schreiben. Ich stamme aus einer Arbeiterfamilie. Meine Eltern hatten sehr wenig Bildung und darüber hinaus waren die Familienverhältnisse in meiner späteren Kindheit so sehr zerrüttet, dass keine Betreuung und Förderung der Kinder mehr stattfand.

Mit 15 Jahren bin ich aus der Volksschule entlassen worden, ohne das Ziel der 8. Klasse erreicht zu haben. Danach habe ich viele Jahre in allen möglichen einfachen Berufen gearbeitet: Wagenwäscher, Bauerngehilfe, Lagerarbeiter, Fabrikarbeiter etc. Hätte ich mir zu dieser Zeit die hier aufgeschriebenen Gedanken machen können, wäre ich ein Genie gewesen. Das war ich aber nicht und das bin ich nicht. [2]

Durch politisches Interesse bin ich in andere Freundes- und Bekanntenkreise geraten und habe in meinen 20er Jahren nach und nach eine Entwicklung von einem extrem ungebildeten Menschen zu einem Intellektuellen eingeschlagen, anfänglich stark an marxistischem Gedankengut orientiert.

Von 1976–79 habe ich in Hamburg an der Hochschule für Wirtschaft und Politik studiert, einer Einrichtung des 2. Bildungsweges, und dort einen Abschluss als Diplom-Sozialwirt gemacht. (Das liegt zwischen Soziologe und Volkswirt.) Danach habe ich viele Jahre an den Universitäten Hamburg und Freiburg studiert (ohne Abschluss) und in Seminaren und Vorlesungen, über Geschichte, Politik, Soziologie, Philosophie, Latein, Erziehungswissenschaft, Psychologie, Parapsychologie, Allgemeine Zoologie u. ä. m. ein bisschen von dem nachgeholt, was andere in ihrer Kindheit und Jugendzeit am Gymnasium gelernt haben. Aber trotz des Besuches von Vorlesungen und Seminaren bin ich im Großen und Ganzen immer ein Autodidakt gewesen. Den größten Teil meines heutigen Wissens habe ich mir selbständig aus Büchern herausgelesen bzw. in den Bereichen der Gesellschaftswissenschaften und der Philosophie selbst erdacht oder erarbeitet.

Es ist klar, dass man im Laufe einer solchen Entwicklung nicht nur eine Menge Wissen in seinem Gehirn aufspeichert, sondern auch qualitativ ein anderer Mensch wird. Ich stehe heute zwischen zwei sozialen Schichten. Mit einem Teil meiner Bedürfnisse, Anschauungen und Verhaltensweisen gehöre ich zu der sozialen Schicht, aus der ich stamme, zu den Arbeitern, mit einem anderen Teil meiner Bedürfnisse, Anschauungen und Verhaltensweisen gehöre ich zu den Intellektuellen.

Diese individuelle Lebensgeschichte ist letztlich der Grund dafür, weshalb ich folgende Gedanken mit ca. »10–15jähriger Verspätung« entwickelt habe.

Berlin, 26. November 1999.


P.S. Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich philosophiere nicht tagtäglich, jahrein, jahraus. Philosophieren, Lesen und Schreiben philosophischer Texte ist ein Hobby von mir, das ich neben anderen Hobbys und neben einer Reihe von Verpflichtungen gelegentlich betreibe.


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Vorwort zur Internet-Fassung 2003

Dieser Text war ursprünglich mal nur für den Bekanntenkreis gedacht. Deshalb hat er auch keinen anderen Titel als »Peter Möller – Meine Philosophie«. Im Zusammenhang mit der Erstellung meiner Homepage und besonders der Entwicklung des philolex [3] habe ich den Text überarbeitet und besonders den Anmerkungsteil beträchtlich erweitert. In seiner heutigen Fassung kann dieser Text auch einer breiteren Öffentlichkeit – soweit sie philosophisch interessiert ist – durchaus etwas geben.

Den Text einem Verlag anzubieten, dafür hatte ich in früheren Jahren zu wenig Selbstvertrauen, zuwenig Selbstwertgefühl. Ich hatte eine stakte Neigung dazu, meine eigenen intellektuellen Produkte geringzuschätzen. Gemessen an den Werken der »großen Philosophen«, an Kants »Kritik der reinen Vernunft« oder an Hegels »Phänomenologie des Geistes«, erschien mir mein Text nicht gut genug, um als Buch zu erscheinen. (Nun hatte mir allerdings auch schon in früheren Jahren mancher Leser gesagt, dass bei einem solchen Maßstab ca. 99% aller philosophischen Schriften der letzten 200 Jahre nicht hätten erscheinen dürfen.)

1998 hatte ich in dem damals neuen Medium »Internet« einige philosophische Aufsätze veröffentlicht und nachdem ich über diese Aufsätze viele Leser und Diskussionspartner gefunden hatte, entschloss ich mich im Herbst 1999 dazu auch »Meine Philosophie« im Internet zu veröffentlichen. Seitdem ist dieser Text nach den Zählungen meines Providers einige tausend Mal abgerufen worden. Es sind auch viele Mails mit zustimmenden und ablehnenden Kommentaren bei mir eingetroffen. Dadurch habe ich den Eindruck gewonnen, dass dieser Text vielen Menschen etwas gibt, sie zum Denken, zum Widerspruch etc. anregt. Es müssen eben nicht immer nur die ganz großen Werke sein, die einen voranbringen können.

Meine philosophischen Auffassungen erschöpfen sich nicht in dem, was hier steht. Dieser Text ist heutzutage lediglich eine Einführung in meine Philosophie. Viele meiner Gedanken habe ich in den philolex-Artikeln – häufig in der Auseinandersetzung mit anderen philosophischen Auffassungen – weiter ausgearbeitet.

Berlin, 22. März 2003.


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Vorwort zur Internet-Fassung 2007

Es kommt immer wieder vor, dass sowohl der Haupttext durch neue Sätze, Absätze und Absatzgruppen ergänzt wird, wie auch vorhandene Anmerkungen erweitert und neue Anmerkungen hinzugefügt werden. Ein Leser, der diesen Text nach einigen Jahren noch einmal liest, wird hier vieles finden, was er aus früheren Jahren nicht erinnert. Weil es eben in früheren Jahren in diesem Text noch gar nicht vorhanden war.

Früher, als solche Texte nur in gedruckter Form veröffentlicht werden konnten, war dies nicht möglich. Ein Buch, einmal gedruckt, war nicht mehr veränderbar. (Was manchem Autor und manchem Verlag sehr ungelegen kam, wenn sich erst nach Drucklegung bzw. Auslieferung peinliche Rechtschreibfehler oder noch peinlichere Falschaussagen herausstellten.) Nach Jahren kam dann vielleicht eine 2. Auflage, in der im Vorwort darauf hingewiesen wurde, dass gegenüber der ersten Auflage bestimmte Änderungen vorgenommen wurden.

Einen im Internet veröffentlichten Text kann man ständig ändern. Und davon mache ich auch des Öfteren Gebrauch. Diese Änderungen waren bisher ausnahmslos Zusätze oder Ergänzungen. Es waren bzw. sind entweder Erkenntnisse, die ich in früheren Jahren noch nicht hatte, oder Erkenntnisse, die zwar in früheren Jahren schon bei mir vorhanden waren, in diesem Text aber nicht erwähnt wurden. Bezüglich derer ich aber zwischenzeitlich zu der Auffassung gekommen war, dass sie zur Vermeidung von Missverständnissen und/oder zur Konkretisierung bestimmter Aussagen hier erwähnt werden sollten.

Sollte ich Änderungen vornehmen, die von mir früher gemachte Aussagen widerrufen, dann würde ich darauf in aller Deutlichkeit hinweisen. Dies war aber bisher nicht der Fall.

Noch eine kurze Ergänzung zum Vorwort 2003. Dieser Text ist inzwischen nicht einige tausend, sondern einige zehntausend mal abgerufen worden.

Berlin, 1. Januar 2007.


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EINLEITUNG

Ich habe diesen Text geschrieben, erstens weil es mir Spaß gemacht hat, einmal meine philosophischen Überzeugungen zusammenhängend darzustellen und zweitens, um ihn Bekannten, mit denen ich hin und wieder über Philosophie diskutiere, zum Kennenlernen meiner Grundauffassungen zu geben.

Ich möchte gleich zu Beginn betonen, dass man diesen Text entweder ganz oder gar nicht lesen sollte. Genauso wenig wie man die Algebra verstehen kann, bevor man nicht die vier Grundrechenarten erlernt hat, genauso wenig wird man die späteren Kapitel dieses Textes verstehen, wenn man die vorherigen nicht gelesen hat. Man würde mich wahrscheinlich missverstehen. Und missverstehen würde man mich auch, wenn man nach dem 1. Teil, entsetzt über so viel Absurdität und Unmenschlichkeit, aufhört zu lesen, denn im weiteren Verlauf wird vieles, was als absurd und unmenschlich erscheint, wieder gerade gerückt.

Die Anmerkungen sind Literaturangaben, Zitate, Auseinandersetzungen mit anderen philosophischen Hypothesen, Entgegnungen auf Einwände und weiterführende Gedanken, die man zum Verständnis meiner Auffassungen nicht unbedingt kennen muss. Lesern, die philosophisch nicht oder nur wenig vorgebildet sind, empfehle ich, diesen Text beim ersten Mal ohne die Anmerkungen zu lesen. Ich versuche meine philosophischen Auffassungen Schritt für Schritt zu entwickeln und die Anmerkungen stören den Gedankenfluss und sind häufig ein Vorgriff. Bei einer etwas intensiveren Beschäftigung mit diesem Text oder für philosophisch vorgebildete Leser ist es allerdings sinnvoll, auch die Anmerkungen zu lesen.

Die  Anmerkungen befinden sich am Ende des Textes, sind aber auch als Links eingerichtet. Wer sie lesen will, kann sie durch Anklicken des Anmerkungszeichen erreichen.

Ich habe im Haupttext die erwähnten Philosophen, philosophischen Richtungen und philosophischen Begriffe nicht als Links zu den von mir über sie verfassten philolex-Artikeln eingerichtet. Das fand ich bei diesem Text, der für sich allein gelesen werden kann, nicht angemessen. Solche Links habe ich dann allerdings bei den Anmerkungen eingerichtet.

Nicht jede Wahrheit ist jedem vermittelbar. Aber auch nicht jede Wahrheit ist jedem zumutbar! Das Leben ist ja leider häufig sehr grausam. Wenn diese Grausamkeit scheinbar nur andere betrifft, dann können das die meisten Menschen auch noch einsehen. Betrifft aber diese Grausamkeit den Einzelnen selbst, hat er an dieser Grausamkeit als Opfer oder Täter teil (viele Menschen glauben, nur Opfer, nicht aber auch Täter zu sein), dann neigen viele Menschen dazu, sich mit Illusionen und Selbstlügen über die Wahrheit hinwegzutäuschen. Ich mache ihnen deshalb keine Vorwürfe. Viele, besonders unphilosophische Menschen, könnten bei Anerkennung der Wahrheit einfach kein glückliches Leben mehr führen.

Hier wird darauf keine Rücksicht genommen!

Es werden hier z. T. Thesen vorgetragen, die jeder halbwegs intelligente Mensch zwar als richtig erkennen kann, die aber, besonders von sensibleren Naturen, psychisch nur schwer verdaulich sind. Doch wer das Streben nach Wahrheit zur höchsten Leidenschaft erhoben hat (um mit Spinoza zu sprechen), der wird nicht umhinkommen, auch Unbequemes zu denken und zu lesen.

Die Gedanken, die ich hier aufschreibe, hätte ich mir nicht machen können, wenn ich in den vergangenen Jahren nicht philosophische Literatur gelesen hätte. Aber es hat mir immer mehr Spaß gemacht, selbst zu philosophieren. Was hier steht, kann nicht mit dem mithalten, was viele der berühmten Philosophen an Tiefe, Breite und Systematik entwickelt haben. Diesen Anspruch erhebe ich auch gar nicht. Aber dafür ist es meine Philosophie! Ich habe diese Auffassungen nicht einfach irgendwo abgeschrieben. (Und ich habe sie nicht aufgeschrieben, um einen Studiennachweis oder einen Titel zu erwerben.) Sie sind das Produkt meines eigenen Denkens, auch wenn sie so oder ähnlich schon oft von anderen gedacht und aufgeschrieben wurden. [4]

Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass ich im weiteren Verlauf meines Lebens vieles von dem, was hier steht, revidieren, relativieren und ergänzen werde. Ich erhebe keinen Absolutheitsanspruch. Ich bin bereit, jeden Satz zur Diskussion zu stellen. Bei manchem, was hier steht, hatte ich schon beim Aufschreiben den Eindruck, dass es noch nicht ausgereift ist. Häufig war ich mir unsicher. Aber wenn ich daraus den Schluss gezogen hätte, diesen Text nicht zu schreiben, hätte ich einen solchen Text wohl nie schreiben können, da ich mich ständig weiterentwickele.

Vieles, was hier steht, widerspricht dem sogenannten »Gesunden Menschenverstand«, d. h., es widerspricht dem, was ich in meiner vorkritischen Zeit mit Selbstverständlichkeit als richtig angesehen habe und viele andere Menschen noch immer mit Selbstverständlichkeit für richtig halten. Gegen manches wird sich auch das Gefühl sträuben. Viele Menschen würde mich wegen der hier geäußerten Gedanken für verrückt erklären, das ist mir völlig klar. Aber: »Wer ein Philosoph werden will, darf sich nicht vor Absurditäten fürchten« schrieb Russell. Und Wittgenstein sagte: »Die Methode zu Philosophieren ist sich wahnsinnig zu machen, und den Wahnsinn wieder zu heilen.«

Im Übrigen ist mir Kritik immer willkommen, da ich der Überzeugung bin, dass ich immer was dazulernen kann.

Der Grund dafür, dass ich überhaupt anfing zu philosophieren war folgender: Ich wollte die Welt verbessern und ich glaubte (und glaube heute noch), dass ich umso erfolgreicher sein würde, je besser ich die Welt kenne. Als dann auch meine eigene Person mehr und mehr in den Mittelpunkt meines Interesses rückte, wollte ich durch ein gutes Wissen auch meine eigene Situation verbessern. Neben diesen praktischen Gründen gab es aber auch schon immer ein reines Neugierverhalten. Ich wollte die Wahrheit auch um ihrer selbst willen finden.

Inzwischen hat sich das Philosophieren so verselbständigt, dass es zu meinem Hobby geworden ist, das ich auch um seiner selbst willen betreibe, auch auf die Gefahr hin, dass es keinen außerhalb des Philosophierens gelegenen Sinn dafür gibt.

Wenn man mich fragt, warum ich denn philosophiere, was ich denn davon habe, dann kann man genauso einen passionierten Musiker fragen, warum er musiziert, und einen passionierten Naturfreund, warum er Pflanzen und Tiere beobachtet. Es macht mir Spaß!


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I. TEIL
DIE ZERSTÖRUNG DER ALTEN SICHERHEITEN

1. Wie ich dazu kam an allem zu zweifeln

1a) Die Vielfalt der Weltanschauungen

In meiner Kindheit lernte ich einen sehr naiven Gottesglauben kennen. Meine Verwandten glaubten, dass sie die einzig wahre Religion haben und in der einzig richtigen Kirche sind. Dass Milliarden von Menschen mit der gleichen Sicherheit von anderen Religionen überzeugt und in anderen religiösen Gemeinschaften organisiert sind, wussten sie zwar, aber dies löste bei ihnen nicht die geringste Skepsis aus.

Als Jugendlicher wurde ich Kommunist. Auf Grund einer emotionalen Verbundenheit mit den Idealen des Kommunismus, ohne seine Geschichte und Theorie näher zu kennen. Als ich dann etwas älter wurde und sowohl in der Theorie wie im praktischen Leben etwas mehr Durchblick bekam, bemerkte ich, dass sich auch unter den politischen Linken viele Fanatiker befinden. Bei vielen traf ich die gleiche Unfähigkeit an, sich vorzustellen, dass man sich auch in grundsätzlichen Fragen täuschen kann. Sie hatten statt einer Religion eine politisch-philosophische Weltanschauung zum Dogma erhoben und glaubten ohne jeden Zweifel an den Sieg des Kommunismus, wie andere an das Jüngste Gericht glauben.

Nach diesen Erfahrungen entwickelte ich eine starke Abneigung gegen jeglichen Dogmatismus. Ich nahm mir vor, alles Dogmatische in mir zu streichen und nur noch das als richtig anzuerkennen, das zweifelsfrei als richtig erkennbar ist. (Zu diesem Zeitpunkt wusste ich allerdings noch nicht, wohin das führen würde.)

Als ich dann mehr und mehr die Geschichte und den gegenwärtigen Zustand der Menschheit kennen lernte, stellte ich fest, dass der Dogmatismus ein sehr weit verbreitetes Phänomen ist.

Es gibt die unterschiedlichsten religiösen, politischen, moralischen und kulturellen Überzeugungen und Verhaltensweisen. Es scheint so zu sein, dass die Menschen, je nachdem in welcher Zeit, in welchem Kulturkreis, in welchem Land, in welcher sozialen Schicht und in welcher ganz spezifischen Familie sie aufwachsen, bestimmte Auffassungen entwickeln (hin und wieder auch in Opposition gegen das Anerzogene, jedenfalls gegen Teile davon) und sich diese Auffassungen dann so verfestigen, dass sehr viele Menschen nicht mehr dazu in der Lage sind sich vorzustellen, dass sie sich täuschen könnten, bzw. dass man auch mit anderen Auffassungen ein glückliches Leben führen kann. Neben einem psychischen Sicherheitsbedürfnis mag hier intellektuelle Trägheit eine größere Rolle spielen als intellektuelle Beschränktheit. Auch die Interessen, die ein Mensch hat, scheinen eine Rolle zu spielen bei seinem Urteil über falsch und richtig.

Auch die enge Verzahnung in einer Gruppe spielt eine Rolle. Die Mitglieder in einer Gruppe bestätigen sich gegenseitig immer wieder in ihren Auffassungen, die außerhalb dieser Gruppe vielleicht von fast niemandem sonst geteilt werden. Es gibt auch einen Gruppenzwang. Außenseiter haben es leichter als andere intellektuell ebenbürtige oder überlegene Menschen Dogmen zu überwinden, da sie weniger mit den anderen verzahnt sind und weniger dem Gruppenzwang unterliegen. (Ich glaube das dies – neben einer gewissen intellektuellen Kraft, die ich mir bei aller Bescheidenheit zuspreche, – einer der Gründe ist, weshalb es mir leichter als anderen gefallen war, den Dogmatismus zu überwinden. Denn ich war in den verschiedenen Phasen meines Lebens immer Außenseiter.)

Ein weiterer Punkt, der mir erst gut 15 Jahre nach dem erstmaligen Verfassen dieses Textes nach und nach klar wurde, könnte sein, dass es in meiner späten Kindheit und frühen Jugendzeit wegen dem Zerfall meiner Familie praktisch keinerlei Betreuung und Erziehung durch Erwachsene gab, damit aber auch keine Autorität, keine geistige Beeinflussung oder gar Indoktrination. Ich wurde zwangsläufig schon mit ca. 12 Jahren frei, unabhängig und selbstständig. Mir blieb gar nichts anderes übrig. Ich betrachtete dies lange Zeit nur negativ. Weil mir so viel Bildung in dieser Zeit verloren gegangen war. Aber vielleicht wäre ich heute viel weniger zu selbständigem Denken fähig, wenn ich viele Jahre länger von Eltern, Lehrern, religiösen oder politischen Autoritäten beeinflusst bzw. erzogen worden wäre. Vielleicht können andere Menschen auch deshalb weniger frei und selbständig denken, weil sie länger fremder Autorität unterlagen und mehr die Auffassungen anderer Menschen verinnerlicht haben.

Auch die natürliche Konstitution des Einzelnen scheint bei der Entstehung der großen Vielfalt der Überzeugungen eine Rolle zu spielen. In einer Zeit, wo fast kein Tag vergeht, an dem Genforscher nicht entdecken, dass bestimmte Genkonstellationen bestimmte Einstellungen und Verhaltensweisen präferieren (ohne sie unbedingt zu determinieren!) kann man eine solche Aussage machen. (1987 hatte ich die Frage nach der Bedeutung der natürlichen Konstitution noch offen gelassen. Damals wirkte noch meine marxistische Vergangenheit nach und ich neigte dazu, den Menschen entscheidend durch seine Sozialisation geprägt zu sehen.) [5]

Nun muss ich mir darüber im Klaren sein, dass auch ich wahrscheinlich, zumindest teilweise, ein Produkt meiner Sozialisation, meiner natürlichen Konstitution und meiner Interessenslage bin, und dass das, was ich bisher mit Selbstverständlichkeit als richtig ansah, ebenso falsch sein kann. Deshalb muss ich allen meinen Auffassungen gegenüber skeptisch sein.

Die Menschen sind von den unterschiedlichsten Auffassungen überzeugt, und können deshalb unmöglich alle Recht haben. Der Grad an Sicherheit, mit der ein Mensch an seine Auffassungen glaubt, kann kein Kriterium dafür sein, ob sie richtig sind.

Beispiel Religion: Ich kann mich jeden Tag mit dem Angehörigen einer bestimmten Religionsgemeinschaft unterhalten, mit Katholiken und Protestanten, mit Lutheranern, Calvinisten und Methodisten, Altgläubigen und Neuapostolischen, mit Quäkern, Baptisten und Pfingstlern, Mormonen und Zeugen Jehovas, mit Buddhisten, Hindus und Moslems, Anhängern von Scientology, Bhagwan und Moon, mit Theosophen, Anthroposophen, Okkultisten und Spiritisten und Hunderten weiteren Gruppen, Abspaltungen, Verzweigungen usw. usf. und (falls ich es überleben sollte ;-) würde ich nach einem Jahr 365 verschiedene Religionen und 365 verschiedene Menschen kennen, die mir versichern ganz sicher zu wissen, dass sie Recht haben, dass sie ganz ganz tief fühlen, dass sie (und nur sie) den einzig wahren Glauben haben. Sie werden mich vor der »Hure Vernunft« (oder der »Hure Babylon«) warnen und mir empfehlen, wie ein Kind zu glauben. (An ihre Religion natürlich, nicht an die Religion anderer.)

Wenn ich das ersteinmal weiß, wenn ich nicht zu einer dieser Gruppen gehöre, sondern das Ganze von außen betrachten kann, wie soll ich dann noch einem bestimmten Menschen Glauben schenken und allen anderen nicht? Das ist mir nicht möglich. [6]

Inzwischen habe ich auch ein bisschen Kenntnis in der Philosophiegeschichte. Die berühmten Philosophen der letzten drei Jahrtausende haben die unterschiedlichsten philosophischen Auffassungen und Systeme hervorgebracht und sich untereinander nicht selten gegenseitig zu Scharlatanen erklärt.

Milesische Naturphilosophie und pythagoreische Mystiker, sokratische Ethik und sophistischer Relativismus, der Idealismus Platons und der Materialismus Leukipps und Demokrits, die widersprechenden Lebensphilosophien der Stoiker und der Epikureer, Realisten und Nominalisten, Rationalisten und Empiristen, mechanische und dialektische Bewegungslehre, der Geschichtsoptimismus Hegels und der Pessimismus Schopenhauers, der Materialismus der Marxisten, der Agnostizismus der Kantianer und der subjektive und objektive Idealismus der Leibniz, Berkeley, Fichte und Schelling, Phänomenologie und Psychologismus, Positivismus, Utilitarismus, Existentialismus, Biologismus, Strukturalismus, Pragmatismus, Sprachphilosophie und und und. (Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.) Und auch hier unter jedem Oberbegriff Verzweigungen und Abspaltungen, Philosophen, die unter keinen Oberbegriff subsumierbar sind, und jede Menge von Neo-Philosophien, Neoaristoteliker, Neopositivisten usw. usf. [7]

Da es in der Philosophie im Gegensatz zur Religion, zumindest potentiell, nicht ums Glauben, sondern ums Denken geht, ist eine solche Vielfalt letztlich begrüßenswert, solange eben nicht, was auch hier häufig passiert, dogmatisiert wird. Meinungsverschiedenheiten scheinen unter selbstdenkenden Menschen eine Selbstverständlichkeit zu sein. [8]

Wie man sieht, kann ich mich also auch nicht einfach den großen Denkern der Menschheit anschließen mit dem Argument, »die sind mir intellektuell weit überlegen, mehr werde ich auch nicht herausfinden, eher weniger«. Ich müsste mich dann schon einem ganz bestimmten Denker anschließen, aber nach welchen Kriterien sollte ich den auswählen?

Ich komme nicht daran vorbei, selbst zu denken. Ich muss versuchen, mit meinen kleinen Kräften selbst die Wahrheit zu finden, selbst zu entscheiden, wer für mich ein großer Philosoph ist und wer nicht. [9]

Auch die Naturwissenschaftler, die ja häufig großen Wert darauf legen, dass sie im Gegensatz zur Religion oder Philosophie weder glauben noch spekulieren, haben in den vergangenen Jahrhunderten schon des Öfteren Behauptungen aufgestellt und Theorien hervorgebracht, die lange Zeit als unumstößlich galten und dann doch ganz oder teilweise wieder aufgegeben wurden. Zwei Beispiele von hunderten, die man nennen könnte:

1. Die Materie: Atome sah man im 19. Jahrhundert als feste, unteilbare kleine Körperchen an, als Grundsubstanz des Universums. Später zeigte sich, dass sie teilbar sind und sich in Energie auflösen können. Eine neue Theorie betrachtet Materie als Vibrationen von »superstrings«, winzig dünnen Fäden, die das Weltall durchziehen. Welche Theorie von der Materie werden die Wissenschaftler in hundert Jahren haben?

2. Das Universum: Nachdem das heliozentrische Weltbild gegen das geozentrische durchgesetzt wurde, erkannte man, dass unsere Sonne nicht das Zentrum, sondern nur ein Gestirn unter Milliarden darstellt. Das gekrümmte Universum der Relativitätstheorie hat überhaupt kein Zentrum mehr. (Schon Blaise Pascal sagte vor ca. 350 Jahren, dass das Weltall eine Kugel sei, deren Mittelpunkt überall, deren Oberfläche nirgends ist.) Die Urknalltheorie ist inzwischen ergänzt worden durch die Theorie von Millionen oder Milliarden kleiner »Urknälle« im Gefolge des großen, die zu einer blasigen Beschaffenheit des Weltalls geführt hätten. Einige amerikanische Astronomen bezweifeln inzwischen generell die Urknallhypothese wegen der Entdeckung riesiger Galaxienhaufen, deren Existenz sie mit dieser Theorie für nicht erklärbar halten. Welches Bild vom Universum werden die Menschen in hundert Jahren haben?

Karl Popper zeigt am Beispiel der Newtonschen Physik, dass auch die scheinbar sichersten und bestbewiesenen naturwissenschaftlichen Auffassungen im weiteren Verlauf der Geschichte wieder gestrichen werden können. Noch nie, so sagt er, war eine wissenschaftliche Theorie dermaßen gut abgesichert und in der Praxis erfolgreich wie die Newtonsche Physik und doch wurde sie von Einstein revidiert. [10]

Beim Lesen von populärwissenschaftlichen Zeitschriften kann es vorkommen, dass man in einem Heft drei Beiträge von drei verschiedenen Journalisten über Kosmologie lesen kann, die alle mit dem Anspruch und den entsprechenden Formulierungen auftreten, unumstößliche Erkenntnisse zu vermitteln, obwohl sie alle was anderes behaupten. [11]


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1b) Meine Sinne können mich täuschen

Ein Mensch, der sich noch nie Gedanken über Philosophie oder Erkenntnistheorie gemacht hat, geht normalerweise davon aus, dass das, was er um sich herum wahrnimmt, auch unabhängig von ihm genauso existiert, auch wenn er oder ein anderes Wesen es nicht wahrnehmen würde. So habe ich es früher auch gehalten. In der Philosophie nennt man eine solche Einstellung »Naiven Realismus«.

Der Gesichtssinn ist der, auf den wir uns am stärksten verlassen, obwohl er uns täuschen kann, wie ich im Folgenden an Hand einiger Beispiele aufzeigen werde.




Abbildung 1 zeigt einen grünen Kreis mit gelbem Rand. Wenn man ca. 30 Sekunden lang den Blick auf den schwarzen Punkt in der Mitte des Kreises fixiert und dann auf eine weiße Fläche schaut, dann sieht man dort einen roten Kreis mit blauem Rand.


a                 e


Abbildung 2 zeigt ein blaues »a« und ein blaue »e« in einer Entfernung von ca. 9,5 cm zueinander. [Hängt ab von der Monitorgröße u. w. Notfalls selbst aufzeichnen.] Wenn man nun das rechte Auge schließt, mit dem linken Auge das blauen »e« fixiert und seinen Kopf auf eine Distanz von ca. 30 cm zum Monitor bringt, verschwindet das blaue »a«.




Abbildung 3 zeigt einen in ein Glas Wasser getauchten Stab, der nun geknickt aussieht, ein Phänomen, das fast jeder kennt und jeder mit einem Löffel und einem Glas Wasser selbst nachprüfen kann. Zieht man den Stab bzw. den Löffel wieder aus dem Glas heraus, sieht man, dass er nach wie vor keinen Knick hat.

Im ersten Beispiel sehen wir etwas, das nicht existiert, oder besser gesagt, das scheinbar nicht unabhängig vom Sehenden existiert. Im zweiten Beispiel sehen wir etwas, das existiert, plötzlich nicht mehr. Ist es deshalb auch aus der Realität verschwunden? Im dritten Beispiel sehen wir etwas anders, als es in Wirklichkeit ist. Oder hat der Stab bzw. der Löffel tatsächlich immer einen Knick, wenn er im Wasser steckt?

Die Naturwissenschaft hat für diese Sinnestäuschungen natürlich schon lange Erklärungen parat. Aber im Moment interessieren mich Erklärungen nicht. (Im nächsten Kapitel über das Denken gehe ich darauf ein, wie sicher Erklärungen sind.) Im Moment geht es mir lediglich um die Darstellung von Sinnestäuschungen.




Abbildung 4 zeigt das Bildnis einer Frau, besser gesagt, es zeigt zwei Frauen, eine junge und eine alte. Einige Betrachter sehen zuerst die junge Frau, andere zuerst die alte. Bei längerem Hinsehen »kippt« das Bild plötzlich um und zeigt uns etwas anderes.




Abbildung 5 zeigt eine Würfelpyramide, bei der die grauen Quadrate sowohl die linke, wie die rechte Seite der Würfel sind, je nachdem, wie man es gerade »sieht«. [12]

Bei der Würfelpyramide und der Zeichnung der Frau(en) sehen wir etwas mal so und mal anders. Während es im ersten, zweiten und dritten Beispiel noch leicht schien, zwischen Wirklichkeit und Täuschung zu unterscheiden, so ist dies bei diesen Beispielen nicht mehr möglich. Es scheinen hier zwei Wirklichkeiten zu existieren, oder es scheint sich hier zu zeigen, dass wir Reize der Außenwelt, die auf unsere Augen treffen, einmal so und einmal anders interpretieren, obwohl die Reize selbst sich nicht verändert haben. Wir scheinen hier an der Schaffung der Wirklichkeit zumindest beteiligt zu sein.




Abbildung 6 zeigt eine Menge schwarzer Flecken von unterschiedlicher Form und Größe. Die meisten Menschen werden damit nichts anzufangen wissen. Hat man aber einmal dieses Bild gesehen, dann erkennt man dieses Bild in diesem Chaos schwarzer Flecken wieder. Es scheint so zu sein, dass wir auf Grund unserer Erinnerung an das Bild, dieses nun auch in diesem Gewirr schwarzer Flecken sehen, wegen einer gewissen Ähnlichkeit der Grundstrukturen. Auch hier scheinen wir an der Schaffung von Wirklichkeit beteiligt zu sein. Was im Beispiel mit den schwarzen Flecken sehr schnell geschah, das passiert bei Sprache und Schrift über viele Jahre hinweg, in der Regel in der Kindheit. [13]

Auch im Bereich anderer Sinne kommt es zu Täuschungen, bzw. sind wir an der Schaffung von Wirklichkeit beteiligt.

Eine gut ausbalancierte Stereoanlage vermittelt uns den Eindruck, das ganze Orchester vor uns zu haben. Wir hören die Instrumente an verschiedenen Orten, obwohl »in Wirklichkeit« nur aus zwei Ecken Lautsprecher Schallwellen abstrahlen.

Wenn man drei Eimer mit Wasser füllt, einen mit heißem, einen mit lauwarmem und einen mit kaltem und nun für ca. eine Minute die eine Hand in das heiße, die andere Hand in das kalte Wasser steckt und danach beide Hände in das lauwarme Wasser, dann wird man dieses mit der einen Hand als kalt, mit der anderen Hand als heiß empfinden.

Auch im Bereich des Riechens und Schmeckens gibt es Sinnestäuschungen mit z. T. fatalen Folgen, wenn z. B. ein kleines Kind Haarwaschmittel trinkt, weil es so schön nach Apfelsaft riecht.

Doch nicht nur an Hand von künstlich hergestellten Dingen und Situationen lässt sich Sinnestäuschung demonstrieren. Wie wenig wir unseren Sinnen trauen können, lässt sich auch an Hand des täglichen Lebens aufzeigen.

Die Sonne ist rein empirisch, d. h. von der Wahrnehmung her, eine stark leuchtende gelbe Scheibe, die sich über den Himmel bewegt und abends und morgens, wenn sie niedrig steht, etwas größer und rötlich ist. Mehr haben die Menschen früherer Zeiten auch nicht geglaubt, es sei denn, sie sahen in der Sonne einen Gott. Heute gehen die Naturwissenschaften und mit ihnen die meisten Menschen der zivilisierten Welt davon aus, dass die Sonne eine riesige Kugel aus Wasserstoff (und inzwischen einer Menge Helium) ist, die sich nicht um uns bewegt, sondern um die wir uns bewegen. Und wir machen diese Auffassung, die dem reinen Augenschein widerspricht, mit Erfolg zur Grundlage praktischen Handelns, z. B. in der Weltraumfahrt.

Die Luft um uns herum war für frühere Generationen einfach nur »Luft«. Man sieht nichts, man ertastet nichts, man kann hindurchgehen und so dachten die Menschen früherer Zeiten, dass dort auch nichts ist. Heute gehen wir davon aus, dass um uns herum sehr wohl etwas ist, nämlich jede Menge von Stickstoff- und Sauerstoffmolekülen, ohne letztere wir überhaupt nicht leben könnten.

Die Menschen früherer Zeiten wussten nichts von Radiowellen, denn wahrnehmbar sind sie für den Menschen nicht. Heute gründen wir auf die Theorie der Radiowellen praktisches Handeln, in dem wir Radio- und Fernsehprogramme ausstrahlen. Wenn man sich ein Radio mit gutem Kurzwellenteil nimmt, dann kann man hier »aus der Luft« einige hundert Programme holen, obwohl nicht wahrnehmbar ist, wie das funktioniert. (In früheren Jahrhunderten wäre jemand, der so etwas fertig gebracht hätte, wegen Hexerei auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden.)

Dass mich meine Sinnesorgane hin und wieder täuschen oder mir die Welt anders darstellen als mein Verstand (man könnte Hunderte weitere Beispiele nennen), bedeutet nun nicht, dass sie mich notwendigerweise immer täuschen, oder immer mit meinen Verstandeserkenntnissen kollidieren, aber sie verlieren zur Gänze ihre Gewissheit! Ich kann nie mit letzter Sicherheit feststellen, ob mich meine Sinne gerade täuschen oder nicht.

Wenn wir einmal mit großer Wahrscheinlichkeit von der Existenz von Dingen ausgehen, die wir nicht wahrnehmen können, ist es dann noch so absurd und weit hergeholt, wenn wir annehmen, dass es um uns herum noch viel mehr geben kann, von dem wir nichts wissen, von dem spätere Generationen vielleicht mal Kenntnis haben werden, oder von dem die Menschen möglicherweise nie Kenntnis haben werden?

Wenn wir einmal wissen, dass uns unsere Sinne Dinge der Außenwelt anders zeigen, als sie scheinbar in Wirklichkeit sind, ist es dann noch so absurd und weit hergeholt, wenn wir annehmen, dass vielleicht auch noch andere Dinge, bei denen wir es bisher nie vermutet haben, anders sind, als wir auf Grund unserer Wahrnehmungen meinen, dass es auch anderswo mehr als eine Wirklichkeit gibt?

Und wenn wir einmal bemerkt haben, dass uns unser Sinne Dinge zeigen, die scheinbar gar nicht unabhängig von uns existieren, sondern unser geistiges Produkt sind (auch Fata Morganas, Halluzinationen, Träume u. ä. gehören dazu), ist es dann noch so absurd und weit hergeholt, wenn wir annehmen, dass vielleicht auch noch andere Dinge, bei denen wir es bisher nie vermutet haben, auch Produkte unseres Geistes sind, nicht unabhängig von uns existieren? [14]

Aus der Erkenntnis, dass unsere Sinneswahrnehmungen keine Gewissheit haben, zogen einige Philosophen den Schluss, Rationalisten zu werden und nicht das als Wirklichkeit anzusehen, was uns unsere Sinne vermitteln, wie es die Empiristen tun, sondern jenes, auf das wir mit unserem Verstand schließen können. Aber nicht nur unsere Sinne, auch unser Verstand kann uns täuschen.


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1c) Mein Verstand kann mich in die Irre führen

Denken ist einerseits die Bewusstmachung von Differenzen, womit die Klärung von Begriffen zusammenhängt und andererseits das Suchen von Gesetzmäßigkeiten und Kausalverbindungen (Ursache-Wirkungszusammenhänge).

Durch Denken können mir Differenzen klar werden, die mir vorher nicht bewusst waren. So habe ich z. B. in einer früheren Fassung dieses Textes »Wille« unter den Begriff »Gefühl« subsumiert. Später ist mir aber ein wichtiger Unterschied aufgefallen. Gefühl beschreibt einen gewissen Zustand wie Freude oder Trauer. Wille dagegen ist das Bestreben, einen gewissen Zustand zu ändern oder beizubehalten.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass mir im weiteren Verlauf meines Philosophierens noch andere Differenzen auffallen werden, die mir im Moment noch nicht bewusst sind, und dass ich viele Begriffe benutze, bei denen mir gar nicht richtig klar ist, was ich eigentlich alles unter sie subsumiere. Wenn ich überlege, was ich alles unter einen bestimmten Begriff zusammenfasse, kann ich etwas übersehen. Ist »denken« nicht schon vielleicht viel mehr, als ich eben beschrieben habe? Wie ist es z. B. mit der Kreativität, mit dem Hervorbringen neuer Gedanken? Wie ist es mit Mathematik und Logik? [15]

Auch wenn ich durch Nachdenken eine Kausalverbindung gefunden zu haben glaube, kann ich mich täuschen. In meiner vorkritischen Zeit war ich mir über viele Ursachen von Erscheinungen sehr sicher, z. B. ging ich davon aus, dass für die Ungleichheit der Menschen die gesellschaftlichen Verhältnisse verantwortlich sind und es lassen sich ja auch viele gute Argumente für eine solche These vortragen. Die Ungleichheit kann aber auch, zumindest teilweise, von der Natur der Einzelnen abhängen und von weiteren Ursachen, die ich nicht kenne. (Z. B. Ursachen, die im Metaphysischen liegen, wie Karma, Vorsehung, Einfluss der Sterne etc.) Meine Wünsche spielen in meinen Erkenntnisprozess, häufig unbemerkt, hinein.

Auch das, was ich bisher immer für richtig hielt – ich fange ja nie an einem Nullpunkt an zu denken, wie sehr ich mich auch darum bemühen mag –, die Gesamtheit aller meiner Überzeugungen, also meine Ideologie, schränkt mein Erkenntnisvermögen ein. Ich denke, häufig unbemerkt, in vorgegebenen Bahnen.

So kann es sein, dass bestimmte Erscheinungen innerhalb eines bestimmten Erklärungsmusters unmöglich sind, obwohl es sie gibt. Zwei Beispiele hierfür:

1. In früheren Jahrhunderten dachten die meisten Menschen, die Erde könne keine Kugel sein, da ja, »völlig logisch«, auf der anderen Seite alles herunterfallen würde. Heute haben wir die Erkenntnis, dass Materie sich gegenseitig anzieht, wir haben das Gesetz der Schwerkraft und damit können wir uns erklären, warum wir auf einer Kugel leben können, ohne an irgendeiner Stelle herunterzufallen.

Nun wird mancher sagen, unsere heutige Erkenntnis ist richtig und die Auffassungen früherer Generationen waren eben falsch. Aber wie können wir uns denn sicher sein, dass nicht die Menschen späterer Jahrhunderte über unser Schwerkraftgesetz so lachen werden, wie wir über die Auffassung, dass die Erde eine Scheibe sei? [16]

Einige werden mir jetzt entgegenhalten, dass die Menschen, die glaubten, die Erde sei eine Scheibe, ja keine »exakte Wissenschaft« betrieben hätten. Unsere Erkenntnis von der Existenz der Schwerkraft sei dagegen das Ergebnis von exakter Wissenschaft und darum könne man diese beiden »Erkenntnisse« gar nicht auf eine Stufe stellen.

Die Menschen früherer Zeiten hielten ihre Erkenntnismethoden aber auch sehr häufig für wissenschaftlich, so wie wir unsere Erkenntnismethoden für wissenschaftlich halten.

2. Bis vor kurzer Zeit wurde die Akupunktur von der westlichen Schulmedizin in Bausch und Bogen abgelehnt. Sie passte nicht in das Bild des menschlichen Körpers der exakten Wissenschaft »Medizin«. Aber es gibt Menschen, bei denen Schmerzen dadurch gelindert oder abgestellt wurden, indem man ihnen an bestimmten Stellen des Körpers kleine Nadeln ins Fleisch stach und inzwischen ist auch unter westlichen Medizinern die Ablehnung der Akupunktur im Schwinden. Wer allerdings weiterhin am traditionellen westlichen Bild des menschlichen Körpers festhalten will, kann auch weiterhin alle Berichte von gelungene Akupunkturbehandlungen als erlogen bezeichnen. Und genauso kann ein Anhänger der biblischen Schöpfungsgeschichte behaupten, die Knochen der Saurier habe der Teufel vergraben, um die Menschen in die Irre zu führen. (Beweisen Sie mal das Gegenteil!)

Aber nicht nur die Ergebnisse unseres Denkens können falsch sein. Wir können gar nicht wissen, ob die von uns unabhängig existierende Welt mit unserer Art zu denken, überhaupt begriffen werden kann.

Der als großer Zweifler in die Philosophiegeschichte eingegangene Rene Descartes hat nie an der Tauglichkeit seiner Art zu denken gezweifelt. Immanuel Kant hat dann festgestellt, dass wir nicht vom Denken auf das Sein schließen dürfen, eine Auffassung, die mir sehr einleuchtet. (Kant selbst hat sich allerdings häufig nicht an diesen Vorsatz gehalten.) [17] Das Sein mag überrational, für uns einfach nicht begreifbar sein. Wir dürfen nicht glauben, mit unseren intellektuellen Fähigkeiten den höchstmöglichen Entwicklungsstand erreicht zu haben. Wir dürfen nicht glauben, dass etwas, das wir nicht verstehen können, das unser Vorstellungsvermögen sprengt, deshalb auch unmöglich sei. Haben wir nicht auch als Kinder manches nicht verstanden, das wir heute als Erwachsene verstehen? Schon in der Quantenphysik kommen wir mit Logik und gesundem Menschenverstand nicht weit. [18]

Im Bereich des Denkens streiten sich z. B. die Logiker und die Dialektiker. Die zweiwertige Logik sagt: Entweder ja oder nein! Dazwischen gibt es nichts. Entweder ein Ding existiert oder es existiert nicht. Positiv und negativ schließen einander aus. Entweder ein Ding bewegt sich oder bewegt sich nicht. Eine solche Denkweise ist uns wohl am ehesten verständlich.

Die Dialektiker dagegen stellen Behauptungen auf, die dem gesunden Menschenverstand widersprechen. Die starren Gegensätze der zweiwertigen Logik werden »aufgehoben« in eine Theorie von der Einheit und dem Kampf der Gegensätze. Ja oder nein, positiv oder negativ, existent oder nicht existent ist nichts absolutes, sondern hängt ab vom jeweiligen Blickwinkel, Bezugsrahmen oder der praktischen Absicht. (Näheres zur Dialektik im 14. Kapitel.)


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1d) Auf Gefühle ist kein Verlass

Nun gibt es auch Menschen, die überzeugt sind, mit dem Gefühl zu verstehen. Sie fühlen so intensiv die Richtigkeit einer bestimmten Auffassung, dass es für sie unvorstellbar ist, dass diese falsch sein könnte. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass auf diese Weise Milliarden von Menschen von den verschiedensten Religionen überzeugt sind.

Im Zustand der »Großen Liebe« wird häufig der Partner vergöttert. Man fühlt ganz intensiv, dass es dieses Mal die oder der Richtige ist und dass es dieses Mal wirklich die ganz, ganz große Liebe für das ganze Leben ist. Mit der Zeit merkt man dann, dass der andere Fehler hat oder dass vielleicht sogar seine ganze Liebe nur Heuchelei war. Fast immer folgt auf diesem Gebiet der Euphorie die Ernüchterung.


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1e) Träume

Wenn ich nachts träume, dann nehme ich um mich herum eine Welt wahr, spreche mit anderen Menschen und halte dies alles für die Wirklichkeit. Aber nach dem Erwachen betrachte ich alles im Traum Erlebte als Halluzination, als Produkt meines Geistes.

Wenn ich einmal weiß, oder besser, wenn ich einmal annehme, dass ich im Traum mir selbst eine Welt schaffe, dann ist es auch möglich, dass ich die Welt meines Wachbewusstseins auch schaffe, dass auch sie ein Produkt meines Geistes ist. Wo ich nun die Möglichkeit der Täuschung meiner Sinne, meines Verstandes und meiner Gefühle weiß, woher soll ich da noch die Sicherheit nehmen, dass die Welt meines Wachbewusstseins mehr ist als eine Halluzination, ein Traum, ein Produkt meines Geistes? [19]


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2. Wie ich dazu kam, mir meiner Existenz als einem erlebenden und bewussten Wesen sicher zu sein

Als ich mir darüber im Klaren war, wie unsicher alles ist, was ich bisher mit Selbstverständlichkeit für richtig hielt und was andere Menschen für richtig halten, machte ich etwas, das vor mir schon viele andere Menschen gemacht haben: Ich zweifelte alles an! Mochte dieser Zweifel auch noch so absurd erscheinen.

Absurd ist, was im Gegensatz zu dem steht, was wir mit Selbstverständlichkeit für richtig halten. Für jemanden, der jede Sicherheit verloren hat, gibt es keinen absurden Zweifel mehr.

Das Ziel war, etwas zu finden, das jeglichem, selbst dem scheinbar absurdesten Zweifel standhält. Wenn ich so etwas hätte, dachte ich, dann hätte ich einen unerschütterlichen Grund, eine unerschütterliche Ausgangsbasis, auf der ich mir vielleicht Schritt für Schritt ein System sicherer Erkenntnisse aufbauen könnte.

Ich zweifelte also an der Richtigkeit aller philosophischen Systeme, aller wissenschaftlicher Weltbilder, aller Religionen, aller politischen, moralischen und kulturellen Auffassungen, ich zweifelte an der Existenz der ganzen Welt und aller Menschen, bezweifelte die Existenz von Raum und Zeit, von jeglicher Gesetzmäßigkeit, Kontinuität und Kausalität. Ich bezweifelte die Fähigkeit meines Verstandes, mit dieser Aufgabe überhaupt fertig zu werden und ich bezweifelte meine eigene Existenz.

Gibt es etwas, das einem solchen radikalen Zweifel standhält? Trotz aller Täuschungsmöglichkeiten, es bleibt das unmittelbare Erleben! Das unmittelbare Erleben ist unbezweifelbar. In dem unmittelbaren Erleben ist ein Ich, das erlebt. [20] Ich denke darüber nach, was ich eigentlich wissen kann. Damit sind diese Gedanken unbezweifelbar existent und auch ich als Denkender bin unbezweifelbar existent. In dem Moment, wo ich mit Descartes sage: »Cogito ergo sum!« (»Ich denke, also bin ich!«), in diesem Moment ist dieser Satz richtig.

Ich fühle mich glücklich oder unglücklich. Damit sind diese Gefühle unbezweifelbar existent. Ich nehme um mich herum eine materielle Welt wahr. Damit sind diese Wahrnehmungen unbezweifelbar existent. Ich philosophiere und ich tue dies mit Wörtern, mit Sprache. Damit ist diese Sprache unbezweifelbar existent. Ich vergleiche meine Gedanken mit anderen philosophischen Auffassungen. Damit sind diese anderen philosophischen Auffassungen unbezweifelbar existent.

Ich habe mich dann dazu entschlossen, das Wort »erleben« zum Schlüsselwort oder zum Universalverb meiner Philosophie zu machen. (Zu Beginn hatte ich das Wort »empfinden« als Universalverb, empfand dann aber das Wort »erleben« als passender.) Ich habe dieses Wort gewählt, um mich von drei anderen Formulierungen abzugrenzen:

Descartes subsumiert alles unter das »Denken«, auch die Gefühle und Wahrnehmungen. Dadurch wird der Mensch zu sehr als Verstandeswesen betrachtet. Denn in der Umgangssprache bedeutet »denken« das, was in unserem Kopf, in unserem Gehirn vor sich geht. Dass der Mensch auch ein Gefühlswesen ist, kommt zu kurz.

Kant und die Positivisten sprechen von der Welt unserer »Erscheinungen«. Dies klingt für mich wie eine Vorentscheidung dafür, dass mir eine von mir unabhängig existierende Welt in einer bestimmten Weise »erscheint«. Außerdem erlebe ich neben der äußeren Welt auch noch eine innere Welt, die mit dem Begriff »Erscheinung« ungenügend beschrieben ist.

Für Schopenhauer ist die Welt unsere »Vorstellung«. Dies klingt für mich wie eine Vorentscheidung dafür, dass ich mir die Welt nur »vorstelle«, sie aber unabhängig von mir nicht existiert.

»Erleben« klingt für mich neutraler und lässt noch alles weitere offen.

Zum Erleben gehört untrennbar das Bewusstsein. Ich bin mir meiner Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen bewusst. Dieses Bewusstsein ist so unmittelbar existent, dass ich mir seine Existenz nicht zu beweisen brauche. Erleben und bewusst erleben sind identisch. [21]

So kam ich also zu dem Schluss, den cartesischen Grundsatz etwas abzuwandeln und zu sagen: »Ich erlebe, also bin ich.« Über jeden Zweifel erhaben ist die simple Erkenntnis, dass ich als ein erlebendes Wesen, als ein denkendes, fühlendes und wahrnehmendes Wesen existiere, und dass das Erlebte mindestens in Form meiner Erlebnisse existiert.


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3. Wie ich zum Skeptizismus kam

Der radikale Zweifel an der Existenz der Welt hat also nicht zum Verschwinden der Welt geführt. Verschwunden ist aber der »Naive Realismus«. Verschwunden ist die naive Auffassung, die Welt sei unabhängig von mir das, was sie für mich ist. Was die »Welt an sich« ist, weiß ich beim gegenwärtigen Erklärungspunkt noch nicht. Ich weiß nicht mal, ob sie unabhängig von mir überhaupt ist.

Es ist ein Trugschluss zu glauben, weil ich Sinneswahrnehmungen habe, müsse es auch etwas geben, das auf meine Sinne einwirkt. Ich könnte ja auch ganz allein der Schöpfer dieser Wahrnehmungen sein (wie im Traum). Außerdem, unbezweifelbar sind lediglich meine Wahrnehmungen als ein Erlebnis. Meine Sinne können auch das Produkt meines Erlebens sein und keine von diesem Erleben unabhängige Existenz haben. [22]

Als ich mir darüber im Klaren war, dass ich mir einer von mir unabhängig existierenden materiellen Welt nicht sicher sein kann, fragte ich mich, ob ich mir dann zumindest der Existenz unabhängig von mir existierender »ideeller Dinge« sicher sein kann. Entweder existiert die Welt auch unabhängig von mir, oder ich schaffe sie mit meinem Geist. Wenn ich mal annehme, ich schaffe sie mit meinem Geist, müsste dies dann nicht einen Grund, eine Ursache haben? Und da ich diese Ursache nicht kenne, würde zumindest diese Ursache unabhängig von mir existieren. Aber dann kam mir der Gedanke, dass das vielleicht gar keine Ursache hat, denn die Existenz von Kausalität habe ich ja auch bezweifelt.

Ich glaube etwas zu kennen, das außerhalb einer Kausalkette existiert, nämlich das Sein. Das Sein ist alles, was in irgendeiner Weise existiert, ob ich es kenne oder nicht. Außerhalb des Seins gibt es nichts, da alles, was es gibt, per Definition Teil des Seins ist. Alles was das Sein und seine konkreten Ausformungen bedingen könnte, wäre selbst wieder ein Teil des Seins. Ein Teil des Seins kann einen anderen Teil des Seins bedingen, schaffen oder bewegen, aber das Sein in seiner Gänze kann nur ein sich selbst bedingendes, sich selbst schaffendes und sich selbst bewegendes Sein sein. [23]

Aber dann kam mir ein noch viel wichtigerer Gedanke: Soviel ich auch nachdenke, soviel ich auch versuche mit dem Gefühl zu verstehen oder mich um neue Wahrnehmungen bzw. Informationen bemühe, ich kann doch immer nur neue Erlebnisse hervorbringen, nichts anderes. Es scheint, dass ich in der Welt meiner subjektiven Erlebnisse gefangen bin und kein Weg hinausführt. Es scheint so zu sein, dass jegliche objektive Wahrheit für mich unerreichbar ist.

»Objektive Wahrheit« heißt für mich, dass ein unabhängig von mir existierender Tatbestand oder ein Ding oder eine Idee oder eine Beziehung oder was auch immer, mir bewusstseinsmäßig gegenwärtig ist und zwar in einer solchen Weise, dass Täuschung ausgeschlossen ist. (Adequatio intellectus et rei = Übereinstimmung von Geist und Sache. Dies ist der klassische Wahrheitsbegriff der abendländischen Philosophie.)

Für diese Auffassung werden in der Philosophie unterschiedliche Wörter benutzt. Das geläufigste ist »Skeptizismus«. Aber auch der Begriff »Agnostizismus« (gr., agnostikos = unerkennbar) wird hierfür benutzt, meistens allerdings speziell auf die Frage bezogen, ob Gott existiert oder nicht.

Was nun die Welt betrifft, die ich um mich herum wahrnehme, so sehe ich vier Möglichkeiten:

Erstens: Trotz gelegentlicher Täuschungen ist die »Welt an sich« genauso oder fast genauso wie die »Welt für mich«. Ich spiegele die unabhängig von mir existierende Welt in meinem Bewusstsein wieder. Dieses ist die Auffassung des gesunden Menschenverstandes, sprich des Naiven Realismus – ich sehe einen Baum, weil dort unabhängig von mir ein Baum ist. Dies ist auch die Auffassung der marxistisch-leninistischen Philosophie. [24]

Die zweite Möglichkeit ist das entgegengesetzte Extrem. Die Welt ist zur Gänze das Produkt meines Geistes. Ihr kommt keine weitere Realität zu, als Wahrnehmungsbündel zu sein. (Esse est percipi.) Für diese Auffassungen kann man wohl die Philosophen Berkeley und Fichte nennen.

Die dritte Möglichkeit ist ein Mittelweg zwischen den Extremen. Die Welt ist z. T. etwas, das unabhängig von mir existiert und auf mich einwirkt, und z. T. etwas, das mein Geist hinzufügt, d. h., mein Geist interpretiert bzw. verarbeitet die äußeren Reize auf eine bestimmte Weise und erst dadurch entsteht für mich die Welt, so wie ich sie kenne. Für diese Position steht Immanuel Kant. Und die moderne Naturwissenschaft.

Die vierte Möglichkeit ist eine dialektische. Die Welt ist zur Gänze das Produkt meines Geistes und ist doch zugleich zur Gänze nicht das Produkt meines Geistes. Ich bin mit der Welt identisch und zugleich doch nicht mit ihr identisch. Es kommt immer darauf an, wie man es gerade betrachtet.

Diese Auffassung widerspricht am stärksten dem gesunden Menschenverstand. Vielen wird diese Auffassung als offensichtlicher Unsinn erscheinen. Ich hoffe, dass nach dem Lesen des III. Teils, besonders des 14. Kapitels über die Dialektik, diese Auffassung nicht mehr als so völlig absurd erscheinen wird.

Ich sehe mich nicht dazu in der Lage mit Sicherheit zu entscheiden, welche dieser vier Möglichkeiten den Tatsachen entspricht oder ob es nicht noch weitere Möglichkeiten gibt und bin von daher in letzter Instanz ein Skeptizist. Aber in »vorletzter Instanz« halte ich eine idealistisch-dialektische Welterklärung für am plausibelsten. (Hiermit wird sich der III. Teil beschäftigen.)

Der Übersicht halber fasse ich meine bisherigen Erkenntnisse in drei Grundsätze zusammen:

  1. Was ich unmittelbar erlebe, hat für mich unbezweifelbare subjektive Realität.
  2. Die Erklärungen dafür, warum ich etwas Bestimmtes erlebe, warum ich etwas Bestimmtes fühle, denke oder wahrnehme, sind zwar als Bewusstseinsinhalte subjektive Realität, aber soweit sie sich auf etwas Objektives, unabhängig von mir Existierendes, oder auch auf etwas zwar zu mir Gehöriges, mir aber nicht Bewusstes, beziehen, z. B. auf eine Ursache, sind sie Vermutungen und können nichts anderes sein.
  3. Denn soviel ich auch nachdenke, soviel ich auch versuche mit dem Gefühl zu verstehen oder mich um neue Wahrnehmungen bzw. Informationen bemühe, ich bleibe doch immer in der Welt meiner subjektiven Erlebnisse stecken. Es führt mich kein Weg hinaus. [25]


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4. Wie ich zum Solipsismus kam

Das erlebende Wesen, das ich bin, ist ein geistiges Wesen. Es ist nicht mein Körper. Mein Körper ist etwas Erlebtes. Auch von ihm weiß ich nicht, ob er eine von meinen Erlebnissen unabhängige Existenz hat. (In meinen Träumen habe ich auch einen Körper.)

Nun nehme ich um mich herum andere Menschen wahr. Aber was nehme ich an ihnen wahr? Einen menschlichen Körper, wie ich einen habe, der zu mir spricht, mich berührt, mich in einer bestimmten Weise behandelt etc.

Aber das, was ich von meiner eigenen Existenz über jeden Zweifel erhaben weiß, nämlich ein bewusst erlebendes Wesen zu sein, nehme ich an den anderen Menschen gerade nicht wahr. Ob die anderen Menschen sich wissende, bewusst erlebende Subjekte sind wie ich, weiß ich nicht und kann ich nicht wissen. In meinen Träumen kommen auch Menschen vor. Was ist mit denen? Wenn sie Produkte meines Geistes sind, warum dann nicht auch die Menschen meines Wachbewusstseins?

Dass ich mir meiner Existenz bewusst bin, erlebe ich so unmittelbar, dass ich mir das nicht zu beweisen brauche und anderen kann ich es nicht beweisen. Und aus der Perspektive der anderen (vorausgesetzt sie sind bewusst erlebende »Ichs«) gilt das Gleiche. Das Bewusstsein des anderen, das Fremdseelische, ist unerreichbar. [26]

Diese Auffassung nennt man in der Philosophie »Solipsismus« (lat., solus = allein, ipse = selbst). Unter Solipsismus kann man aber zweierlei, wie ich meine, Grundverschiedenes verstehen. Einmal die Behauptung das einzige sich wissende Subjekt zu sein, das existiert, und zweites die Behauptung, nicht wissen zu können, ob es auch noch andere sich wissende Subjekte gibt. Im zweiten Sinne bin ich Solipsist, da der Skeptizismus notwendigerweise den Solipsismus (in der ersten Bedeutung) als Möglichkeit beinhaltet. Im ersten Sinne kann ich nicht Solipsist sein, da ich die Behauptung, das einzige sich wissende Subjekt zu sein, ebenso wenig beweisen kann, wie die Behauptung, es gäbe mehrere sich wissende Subjekte.

Als ich mir erst einmal darüber im Klaren war, wunderte ich mich, dass sich die Philosophen Jahrhunderte lang damit beschäftigt haben, rationale Gottesbeweise zu suchen, aber scheinbar nie auf die Idee gekommen sind, sich zu beweisen, dass ihr Mitmensch ein sich wissendes Subjekt ist. Dies scheint ebenso unmöglich. [27]


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5. Wie ich zum Nihilismus kam

Ich bin in meiner vorkritischen Zeit mit nichtreflektierter Selbstverständlichkeit davon ausgegangen, dass es objektive ethische Werte gibt, die jedem gutwilligen und halbwegs intelligenten Menschen einsichtig sind und auf die wir deshalb alle Menschen verpflichten können. Inzwischen weiß ich, dass dem nicht so ist.

Da ich scheinbar keine objektive Wahrheit erkennen kann, kann ich auch nicht wissen, ob es objektive ethische Werte gibt, die für alle verbindlich sind. Und wenn ich mal stillschweigend voraussetze, dass es solche Werte gibt, kann ich trotzdem nicht wissen, wie diese ethischen Werte aussehen, welches Verhalten sie von mir fordern. Und selbst wenn ich dies wüsste, könnte ich immer noch sagen, die objektiven ethischen Werte sind mir egal! Ich mache was ich will.

Ich kann nicht wissen, ob es einen Gott gibt, der die Taten der Menschen in gute und böse einteilt und die Menschen nach ihrem Tode belohnt oder bestraft. (Und nur dann hätte ich einen Anreiz, mich nach seinen Maßstäben zu verhalten.) [28]

Ich kann nicht wissen, ob es eine platonische Sphäre der Ideen des Guten, Wahren und Schönen gibt.

Ich kann nicht wissen, ob die in meiner Zeit, in meinem Kulturkreis und in meinem Land vorherrschenden ethischen Überzeugungen die richtigen sind. Zu anderen Zeiten und in anderen Ländern galten und gelten ganz andere Werte. Hatten die Mongolen oder Normannen ein schlechtes Gewissen, wenn sie fremde Länder plünderten und die Menschen massakrierten? (Oder näherliegend: Hatten die Nazis ein schlechtes Gewissen bei dem, was sie taten?) Ich kann auch nicht wissen, ob die ethischen Werte, die ich in meinem eigenen Inneren vorfinde, objektiv, also unabhängig von meinem Dafürhalten, richtig oder falsch, gut oder böse sind.

Dazu kommt, dass ich in mir verschiedene und widersprechende Gefühle vorfinde. Liebe und Hass, Mitleid und Gleichgültigkeit, Rachegelüste und Verzeihung, Produktivität und Zerstörungswut, Geselligkeit und Eigenbrötelei, Verantwortung für die Gemeinschaft und Streben nach Triebbefriedigung, schade es auch anderen, alles dies ist in mir vorhanden. Wie soll ich bei einer solchen inneren Zerrissenheit Ethik begründen, wenn ich alle objektiven Maßstäbe verloren habe?

Und warum soll ich mich danach richten, was meine Mitmenschen von mir verlangen? Ich weiß ja nicht einmal mit Sicherheit, ob sie unabhängig von mir existierende sich wissende Subjekte sind. Und selbst wenn ich das mal stillschweigend voraussetze, was ändert das?

Der kantische kategorische Imperativ »handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne«, ist eine Forderung, die von außen an mich herangetragen wird. (Mag Kant auch hundertmal etwas anderes behaupten.) [29] Warum soll ich ihr Folge leisten? Warum soll ich, was ich nicht will, dass man es mir tut, nicht anderen antun, wenn ich dabei gut zurechtkomme?

Nun mag sich mancher Entsetzen über eine solche Kaltschnäuzigkeit, aber bitte, nehme ich doch mal die Welt, die ich um mich herum wahrnehme, als Tatsache hin und untersuche, wie sich die Menschen dort verhalten:

Soweit ich die Geschichte der Menschheit zurückverfolgen kann, haben sich die Menschen gegenseitig erschlagen, gefoltert, unterdrückt, ausgeplündert, vergewaltigt, vertrieben usw. Milliarden Menschen sind gewaltsam und oft auf grausamste Weise ums Leben gekommen. Milliarden Menschen haben ihr Leben in von anderen Menschen erzeugtem Elend verbracht. Das geht so bis in unsere heutige Zeit und ein Ende ist nicht absehbar. Und waren es nicht immer die Rücksichtslosesten und Kaltschnäuzigsten, die dabei am besten weggekommen sind?

Da lernt man als Kind: »Du sollst nicht lügen!« Und dann merkt man als junger Mensch, dass unsere Gesellschaft bis in die höchsten Etagen von Politik und Wirtschaft (und gerade dort) zu einem beträchtlichen Teil auf Lüge, Heuchelei und Verschlagenheit aufgebaut ist.

Da lernt man als Kind: »Du sollst nicht töten!« Und dann erfährt man als junger Mensch, dass im Westen »christliche« (also an dem christlichen Grundsatz der Nächstenliebe orientierte) und im Osten »kommunistische« (also an dem kommunistischen Ideal der Menschheitsbefreiung orientierte) Politiker und Militärs Planspiele veranstalten, in denen sie auf der jeweils anderen Seite mit einem Atomschlag mal eben einige hundert Millionen Menschen umbringen. Und dass es Leute gibt, die dazu in der Lage sind, im Ernstfall diese Massenmorde auch zu begehen, dafür braucht man ja nur die Namen »Auschwitz« und »Hiroshima« zu nennen.

Und die meisten Menschen scheinen zu dumm oder zu gleichgültig zu sein, um diesen Wahnsinn überhaupt noch zur Kenntnis zu nehmen. Sie verdrängen ihn, einschließlich des anderen Elends, das sie nicht unmittelbar betrifft. Sie gehen in ihrem kleinen privaten Leben auf, materielle Dinge und der engste Familienkreis sind ihnen das Wichtigste. Zu höheren Gedanken scheinen die meisten absolut unfähig zu sein. Wenn sie sich tatsächlich mal über ihren beschränkten Horizont erheben und zu gesamtgesellschaftlichen und philosophischen Fragen (im weitesten Sinne) Stellung nehmen, dann posaunen sie meistens nichts als Patentrezepte und dogmatisierte Vorurteile aus, die oft den reinsten Schwachsinn darstellen.

Die Welt um mich herum erscheint mir sehr oft als eine Mischung aus sadistischem Irrenhaus und Kasperletheater!

Und wenn man dann auch noch die ganze Grausamkeit und Dummheit der Welt in sich selbst wiederfindet, wenn man sich gar nicht über die anderen erheben will, weil man alles das, was andere zu ihren Verbrechen treibt, auch in sich selbst hat, wenn man weiß, wie oft man sich selbst schon geirrt hat, wie soll man da noch Ethik begründen? [30]

In meiner vorkritischen Zeit hatte ich die, aus meiner heutigen Sicht äußerst merkwürdige, Auffassung, ich hätte auf bestimmte Dinge einen selbstverständlichen Anspruch, z. B. auf Gesundheit, auf eine hübsche Freundin oder auf gesellschaftlichen Aufstieg. Heute weiß ich, dass dem nicht so ist! Ich habe Wünsche, aber soweit mein Erkenntnisvermögen reicht, sehe ich nicht, dass ich auch ein selbstverständliches oder natürliches Recht darauf hätte, dass diese Wünsche in Erfüllung gehen.

Aber genauso wenig wie ich in dieser Welt irgendwelche selbstverständlichen Rechte habe, genauso wenig habe ich in dieser Welt irgendwelche selbstverständlichen Pflichten!

Ich habe genauso viele Rechte, wie ich die Macht habe, für mich zu realisieren oder wie mir andere zugestehen und ich habe genauso viele Pflichten, wie ich bereit bin für mich zu akzeptieren. Die letzte Instanz, mir etwas zu erlauben oder zu verbieten, bin ich!

Bereits vor zweieinhalb Jahrtausenden hat der griechische Philosoph Protagoras festgestellt: »Der Mensch ist das Maß aller Dinge [...] Es gibt keine absolute Wahrheit, sondern nur eine relative, keine objektive, sondern nur eine subjektive, eben für den Menschen. Und zwar so [...], dass nicht ›Der Mensch‹ das Maß sei, das wäre ja immer noch eine Art allgemeiner Maßstab – sondern der jeweilige einzelne Mensch. Ein und derselbe Satz kann einmal wahr und das andere Mal falsch sein, je nachdem, von wem und unter welchen Umständen er ausgesprochen wird.« [31]

Alle Verhaltensweisen und Begriffe, die ich früher mit Selbstverständlichkeit für positiv oder für negativ hielt, verlieren ihren Eigenwert oder Eigenunwert. Ob Hilfsbereitschaft oder Egoismus, ob Aufrichtigkeit oder Verschlagenheit, ob aufrechter Gang oder Kriecherei, ob offene Auseinandersetzung oder Intrige, ob Gesetzestreue oder Verbrechen, es liegt in meinem Ermessen, wie ich es bewerten will, für was ich mich entscheide.

»Nihilismus« nenne ich die Relativität aller ethischen Werte. (lat., nihil = nichts) In der Philosophie wird dieser Begriff in unterschiedlichster Weise verwendet, hat aber immer was mit Verneinung zu tun. So wie ich diesen Begriff benutze, wird er wohl am ähnlichsten von Sartre verwendet. [32] Es gibt aber einen wichtigen Unterschied zwischen meinen Auffassungen und denen Sartres. Sartre meint, beeinflusst von der Phänomenologie Husserls, objektive Wahrheit erkennen zu können. Ich bin Skeptizist.

Wenn Sartre sagt: »Objektiv ist alles sinnlos« und »der Mensch ist eine sinnlose Leidenschaft«, dann kann ich lediglich sagen, vielleicht ist objektiv alles sinnlos und möglicherweise ist der Mensch eine sinnlose Leidenschaft. Es mag aber auch anders sein. [33]


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II. TEIL – VERSUCH EINES NEUAUFBAUS

6. Die Grundgruppen meiner Erlebnisse

Da ich nichts anderes haben kann als Erlebnisse, aber diese Erlebnisse auch unbezweifelbare subjektive Realität sind, beginnt ein Neuaufbau damit, mir die Differenziertheit meiner Erlebnisse in immer stärkerem Maße bewusst zu machen. Damit bringe ich aber auch ständig neue Erlebnisse, neue Bewusstseinsinhalte hervor. Diesen Prozess nenne ich »Erkenntnis«. Meine aktive Tätigkeit in diesem Erkenntnisprozess nenne ich »denken«.

Meine Erlebnisse sind nicht nur vielfältig, sondern sie ändern sich auch ständig. Sie sind nicht statisch, sondern dynamisch. Diesen ständigen Wechsel in meinen Erlebnissen nenne ich »Zeit«. Wo es keine Veränderung gäbe, gäbe es auch keine Zeit. [34]

Ich bin immer im Jetzt, immer in der Gegenwart, nie in der Vergangenheit oder Zukunft. Aber ich habe das Erleben, es gebe ein »vor dem Jetzt«, es habe eine Vergangenheit gegeben. Diese Erlebnisse nenne ich »Erinnerungen«. Und ich habe das Erleben, es werde ein »nach dem Jetzt«, eine Zukunft geben. Diese Erlebnisse nenne ich »Erwartungen«. Auch für die Reihenfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft benutze ich das Wort »Zeit«.

Aber: Vergangenheit und Zukunft haben keine subjektive Realität! Subjektive Realität haben nur die Erinnerungen und Erwartungen als Erlebnisse im Jetzt. Ebenso wenig wie ich wissen kann, ob meinen Wahrnehmungen einer äußeren Welt auch eine unabhängig von mir existierende äußere Welt zu Grunde liegt, und wenn, was für eine, ebenso wenig kann ich wissen, ob meinen Erinnerungen eine wirklich erlebte Vergangenheit zu Grunde liegt, und wenn, welche. D. h., ich kann mir nicht einmal meiner eigenen Kontinuität sicher sein.

Die Dinge, die ich um mich herum wahrnehme, und mein Körper sind ausgedehnt und nebeneinander. Die sind »räumlich« und »materiell«. [35]

Meine Gedanken erlebe ich als »nichträumlich« und »nichtmateriell«. Auch Erscheinungen der Außenwelt wie »menschliche Gesellschaft«, »Familie«, »Staat« u. ä. sind nichträumlich und nichtmateriell. Sie bestehen darin, dass Menschen sich in einer bestimmten Weise verhalten und in diesem Verhalten trotz aller Veränderungen bestimmte Regelmäßigkeiten sind. [36]

Auch die anderen materiellen Dinge zeigen in ihrem Verhalten Regelmäßigkeiten. Diese nenne ich »Naturgesetze«.

Ich erlebe etwas als »Ich« und etwas als »Nicht-Ich«. Ich bin mein Bewusstsein und mein Körper. Das ist das »Subjekt« oder das »Subjektive«. Als Nicht-Ich erlebe ich die um mich herum wahrgenommene Welt. Das ist das »Objekt« oder das »Objektive«.

Nun stehe ich allerdings vor dem Problem, dass ich die Begriffe »Subjekt« und »Objekt« in zweierlei Weise gebrauche. Einerseits zur Bezeichnung dessen, was tatsächlich, also unabhängig von meinem Dafürhalten, Ich und Nicht-Ich ist, und andererseits zur Bezeichnung dessen, was ich in der Welt meiner Erlebnisse vorfinde und als Ich und Nicht-Ich ansehe. Nur weil ich in der Welt meiner Erlebnisse zwischen Ich und Nicht-Ich unterscheide, komme ich ja überhaupt erst auf die Idee, anzunehmen, dass es auch unabhängig von meinen Erlebnissen Subjekt und Objekt gibt. Es mag sein, dass außerhalb der Welt meiner Erlebnisse keine Trennung zwischen Subjekt und Objekt existiert, die Begriffe dort also sinnlos wären.

Ich habe mir dann überlegt, ob ich nicht zur Vermeidung von Missverständnissen hier zwei neue Begriffe einführen sollte, oder im weiteren Verlauf hinter die Wörter Subjekt und Objekt die Zahlen (1) und (2) setzen sollte. Aber ich mache dies nicht. Der aufmerksame Leser wird aus dem Zusammenhang entnehmen können, in welchem der beiden Sinne ich die Wörter gerade gebrauche. [37]

Hier zeigt sich auch, dass die Sprache zu dem gehört, was ich unmittelbar erlebe. Wenn ich philosophiere, dann tue ich das mit Wörtern, die schon vor dem Philosophieren da sind. [38]

Auf einige Erlebnisarten bin ich im I. Teil schon eingegangen. Der Systematik und Ausführlichkeit zuliebe erörtere ich sie hier noch einmal.

»Wahrnehmen« heißt, dass ich um mich herum eine Welt erlebe, sehe, höre, ertaste, rieche und schmecke. Wahrnehmung ist die äußere Erfahrung.

»Fühlen« ist inneres Erleben. Bei den Gefühlen sind zwei Gruppen wichtig zu unterscheiden, die positiven und die negativen Gefühle. Es gibt Gefühle, die ich gerne erlebe, z. B. Freude, Triebbefriedigung, bzw. das Ausleben von Trieben, wozu auch der Aufbau von Triebspannungen gehören kann (z. B. beim Sexualtrieb), das Gefühl Erfolg zu haben, von anderen anerkannt zu werden, das Erringen neuer Erkenntnisse usw. Andere Gefühle sind mir unangenehm, z. B. Trauer, Schmerz, Peinlichkeit, Schuldgefühle, Triebunterdrückung, Langeweile u. ä. [39]

Mit diesen beiden Gruppen von positiven und negativen Gefühlen hängen nun auf das Engste meine »Bedürfnisse« zusammen. Ein Bedürfnis ist der Wunsch, einen gewissen Gefühlszustand zu erreichen bzw. zu erhalten und damit zugleich einen anderen Gefühlszustand zu beseitigen bzw. zu vermeiden, wobei ich das Ziel habe, die positiven Gefühle zu erleben und die negativen nicht. (Wobei noch zu beachten ist, dass diese verschiedenen Gefühle in unterschiedlich starkem Maße erwünscht oder unerwünscht sind.) [40]

Meine Bedürfnisse sind aber sehr vielfältig und z. T. widersprüchlich. Ich kann mir nicht alle Bedürfnisse befriedigen. Nicht nur, weil die äußere Welt meinem Streben einen Widerstand entgegensetzt, sondern auch wegen meiner inneren Zerrissenheit. Ich unterdrücke laufend einen Teil meiner Bedürfnisse im Interesse der Realisierung bzw. des Realisierungsversuchs anderer Bedürfnisse.

Dieses tatsächliche Streben, also nicht nur die Wünsche, sondern der aktive Versuch bestimmte Bedürfnisse zu befriedigen und andere zu unterdrücken, das ist der »Wille«.

Hier nun setzt mein »Denken« ein. Denken bedeutet, (neben der zu Beginn dieses Kapitels schon dargestellten Tätigkeit der Bewusstmachung von Differenzen), das Aufstellen von Vermutungen über die Beschaffenheit der Dinge und Erscheinungen, ihr Verhalten und ihre Beziehung untereinander und aufbauend darauf die Entwicklung von Handlungsstrategien, um Gewolltes zu erreichen, wobei sich diese Vermutungen und Handlungsstrategien dann als brauchbar oder unbrauchbar zur Erreichung praktischer Ziele erweisen können.

Denken in dieser zweiten Bedeutung richtet sich besonders auf das Aufstellen von Vermutungen über »Kausalitäten« und »Gesetzmäßigkeiten«.

Ich habe die Vermutung, dass die Welt von Ursache-Wirkungsketten durchzogen ist, dass die Dinge und Erscheinungen einander bedingen, hervorbringen. Mein ganzes Handeln beruht auf der Anerkennung der Kausalität. Ich unternehme etwas, um etwas anderes zu erreichen. Aber Kausalität ist nicht wahrnehmbar! Wahrnehmen kann ich nur ein »Miteinander«. Wahrnehmungen und Erinnerungen zusammen ergeben ein »Nacheinander«. Aber ein »Durcheinanderbedingt« ist eine Vermutung meines Verstandes. Und dass mein Verstand Kausalität vermutet und ich mein Handeln auf die Anerkennung der Kausalität aufbaue, heißt nicht, dass im Sein auch unabhängig von mir Kausalität ist, und wenn, ob überall oder nur bei Teilen des Seins. Und selbst wenn ich mal die Existenz von Kausalität unabhängig von meinem Denken voraussetze, weiß ich immer noch nicht, ob meine Kausalitätsvermutungen mit der tatsächlichen Kausalität übereinstimmen. [41]

Außerdem habe ich das Erleben, dass die Bewegung der Welt nach Gesetzen abläuft, also Regelmäßigkeiten aufzeigt. Dies ist für mein Handeln sehr wichtig. Hier gilt aber das Gleiche wie für die Kausalität. Ich kann nie mit Sicherheit wissen, ob meinen Vermutungen über Gesetze auch unabhängig von mir existierende Gesetze zu Grunde liegen und wenn, welche.

Manchmal habe ich das Erleben, dass das, was um mich herum passiert, auch unabhängig von mir existiert, und manchmal habe ich das Erleben, dass ich etwas geträumt habe. »Traum« und »Realität« sind zwei verschiedene Bewusstseinszustände, die ich im weiteren Verlauf Bewusstseinszustand I (BZ I = Traum) und Bewusstseinszustand II (BZ II = Realität) nennen werde. (Dass ich nicht umgekehrt nummeriere, hat damit zu tun, dass ich im 11. Kapitel, wo es um den Tod geht, die Frage nach einem möglichen BZ III stelle.)

Der Nachttraum wird im Moment seines Stattfindens von mir als Realität erlebt und erst aus der Perspektive des Wachbewusstseins als Halluzination, als Produkt meines Geistes betrachtet. Aber in letzter Instanz kann ich weder wissen, ob der Traum nur Traum, noch ob die Realität wirklich Realität ist. Was dem von mir im BZ I und im BZ II Erlebten zu Grunde liegt, kann ich mit letzter Sicherheit nicht wissen.

Wenn ich Traum und Realität miteinander vergleichen will, dann darf ich nicht die augenblicklich erlebte Realität mit dem Traum der letzten Nacht vergleichen. Dann vergleiche ich nämlich nicht Traum und Realität, sondern Wahrnehmungen und Gefühle mit Erinnerungen. Traum und Realität könnte ich nur dann miteinander vergleichen, wenn ich mich in beiden Bewusstseinszuständen zugleich befinden würde. Dies ist mir aber noch nie passiert. [42] Deshalb kann ich nur Erinnerungen an Träume mit Erinnerungen an vergangene Realität vergleichen.

Der wichtigste Unterschied, der mir bei einem solchen Vergleich auffällt, ist, dass die Erinnerungen an vergangene Realität einen Bezug zur jetzigen Realität haben, dass Realität in meinen Erinnerungen eine Kontinuität aufweist, dass Ereignisse aufeinander aufbauen, nachfolgende scheinbar bedingen. Den Erinnerungen an Träume fehlt dies. Die Träume einer Nacht bauen nicht auf die Träume der vorherigen Nacht auf.

Das Erinnerungsvermögen scheint bei der Realität viel stärker zu sein als beim Traum. Nach dem Erwachen habe ich den Eindruck, viel mehr geträumt zu haben, als ich erinnern kann. (Dies kann aber eine Täuschung sein.)

In erinnerter Realität scheint eine viel größere Ordnung und Logik zu sein. In meinen Träumen geht alles drunter und drüber.

Die Erlebnisse scheinen in der Realität intensiver zu sein als im Traum. Wenn ich mich z. B. an meinen letzten Zahnarztbesuch erinnere und an das Gefühl, das ich empfand, als in der Nähe des Nervs gebohrt wurde, dann muss ich sagen, dass ich mich aus Träumen an kein ähnlich starkes Gefühl erinnern kann. (Z. B. habe ich schon des Öfteren geträumt, von Hunden gebissen zu werden, und ich habe mich dann jedes Mal gewundert, dass es nicht weh tat.)

Es gibt Dinge und Erscheinungen, die Teil meines »eigenen Erlebens« sind. Von anderen Dingen und Erscheinungen höre ich nur »Berichte von anderen«. [43] Subjektive Realität hat nur, was ich selbst erlebe. Berichte anderer sind zwar als Berichte Teil meines Erlebens, der Inhalt aber unterliegt dem Zweifel. Ich kann nie wissen, ob der andere mir die Wahrheit über sein subjektives Erleben mitteilt, oder ob er bewusst oder unbewusst die Unwahrheit sagt.

Dabei sind die Berichte anderer (besonders im praktischen Leben) in zwei Gruppen zu teilen: In die mit großer Wahrscheinlichkeit nachprüfbaren und in die mit großer Wahrscheinlichkeit nicht nachprüfbaren. Nachprüfbar ist wohl, dass es die Stadt New York gibt, die ich selbst noch nie gesehen habe (außer auf Landkarten und auf Bildern) und die Rotverschiebung des Lichts von Galaxien, die wir durch Teleskope beobachten können. Nicht nachprüfbar sind die Berichte von Träumen und von nicht beliebig wiederholbaren mystischen und parapsychologischen Erlebnissen. Da ich selbst noch nie solche Erlebnisse hatte, kann ich nicht wissen, ob es so etwas überhaupt gibt.

Als letzte Gruppe will ich noch anführen »aktives Handeln« und »passives Erleiden«. Manchmal habe ich das Erleben aktiv tätig zu sein, auf die Bewegung der Welt meiner Erlebnisse einzuwirken. Ein anderes Mal erlebe ich mich als passiv, als Objekt der mich umgebenden Welt. Häufig sind aber auch beide Erlebnisse gleichzeitig vorhanden. [44]


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7. Möglichkeiten und Grenzen der Überwindung des Skeptizismus

Obwohl ich nur subjektive Erlebnisse haben kann, sind für mich doch gewisse objektive Wahrheiten erreichbar, und zwar durch die Ausschließung allzu naiver Behauptungen. Dies möchte ich an folgendem Beispiel erläutern:

Wenn ich einem Kleinkind Märchen vorlese, dann kann das Kind nicht mit Sicherheit entscheiden, ob Rumpelstilzchen nur eine Erfindung ist oder eine wirklich existierende Person. Für das Kind ist auf Grund seines kindlichen Niveaus beides möglich. Das Kind ist der Frage gegenüber »Hat Rumpelstilzchen existiert oder nicht?« sozusagen Agnostiker.

Der normal entwickelte Erwachsene nicht. Er kann zwar nicht beweisen, dass Rumpelstilzchen eine Erfindung ist, aber ab einem bestimmten intellektuellen Niveau ist das überhaupt keine Frage mehr. Rumpelstilzchen ist eine Erfindung. Er ist keine real existierende Person. Dies ist eine objektive Wahrheit! Eine andere Behauptung ist auf meinem intellektuellen Niveau unmöglich. Und wenn ich nur einen einzigen solchen Satz hätte, wäre der Skeptizismus bereits überwunden.

Allerdings nur partiell! Denn ich sage ja nicht: »So und so ist das Sein beschaffen«, sondern ich sage: »So ist es jedenfalls nicht beschaffen.« Es ist sozusagen eine »Negativ-Aussage«. [45]

Und ähnlich wie mit Märchen ist dies mit anderen allzu naiven Geschichten, z. B. über Gott und Teufel usw. Es ist unmöglich zu beweisen, dass es sich bei diesen Geschichten um Erfindungen handelt. Aber das ändert nichts daran, dass man ab einem bestimmten intellektuellen Niveau solche Geschichten nur noch als Märchen ansehen kann. Es geht gar nicht mehr anders.

Wenn ich glauben soll (oder besser gesagt »glauben kann«), dass im Verlauf der »Großen Trübsal« (siehe Offenbarung des Johannes) der Teufel tausend Jahre lang festgebunden wird, dann kann ich auch gleich glauben, dass es schneit, weil Frau Holle ihre Betten ausschüttelt. Das ist das gleiche Niveau. Bloß verschiedene Bücher.

Einem Gott gegenüber, der wie ein Mensch aussieht und in einem raum/zeitlichen Himmel sitzt, umgeben von seinen Engeln und Heiligen, einem solchen Gott gegenüber bin ich kein Agnostiker. Einem solchen Gott gegenüber bin ich Atheist! Ohne jeden Zweifel! (Das bezieht sich aber nicht auf jede Gottesvorstellung, wie im 12. Kapitel noch deutlich wird.)

Nun gibt es allerdings erwachsene Menschen mit einem Buchstabenglauben an die Bibel. Diese Leute befinden sich auf einem niedrigeren intellektuellen Niveau als ich. So arrogant diese Aussage auch von den betreffenden Menschen empfunden wird, es ist so. Ohne jeden Zweifel.

Im Verlaufe der mengenmäßigen, quantitativen Häufung philosophischer, naturwissenschaftlicher und praktischer Kenntnisse und des selbständigen Denkens kann es zum Umschlagen quantitativer in qualitative Veränderungen kommen und intuitiv Erkenntnis in Einem entstehen. Das sind geistige Vorgänge, die ich selbst erlebt habe. (Soweit ich jetzt mal den Zweifel an der Richtigkeit meiner Erinnerungen ausklammere.) Man muss anschließend bestimmte Behauptungen als naiv verwerfen. Es geht gar nicht mehr anders. Aber diesen Prozess der qualitativen Sprünge, der intuitiven Erkenntnisse, den kann man anderen Menschen nicht wirklich erklären, nicht vermitteln. Man kann anderen Menschen nur Vorschläge machen, wie sie vorgehen sollten um eventuell dann in sich selbst solche qualitativen Sprünge und intuitiven Erkenntnisse zu erzeugen.

Ob sich auch das Solipsismusproblem und das Problem der Existenz der Welt als einem unabhängig von mir existierenden objektiven Tatbestand (oder nach Wegfall des Solipsismus zumindest als einem intersubjektiven Tatbestand) auf diese Weise lösen lässt, da bin ich mir nicht sicher. Aber vielleicht können andere Menschen sich da sicher sein. Das schließe ich nicht aus. Es gibt nicht nur niedrigere intellektuelle Niveaus als meines, es gibt auch höhere. Eine andere Annahme wäre für mich schon wieder naiv.

Außerdem ziehe ich durchaus in Erwägung, dass neben dem intellektuellen Niveau auch die allgemeine Lebens- und Gefühlslage eines Menschen mit dafür ursächlich sein kann, ob er eine bestimmte Behauptung mit Sicherheit ausschließen kann oder nicht. Z. B. mag für einen Menschen, der ein sehr intensives Verhältnis zu seinen Kindern hat, das Solipsismusproblem überhaupt kein Thema sein.

Wenn ich nun allerdings »Positiv-Aussagen« über das Sein machen will, dann bleibe ich weiterhin Skeptizist. (Mit der Ausnahme allerdings, dass es eine objektive Wahrheit ist, dass es überhaupt etwas gibt!)

Die einzige mir vorstellbare Möglichkeit weitere Positiv-Aussagen über das von mir unabhängige Sein zu machen, wäre die Hervorbringung eines Erlebnisses, das sich von allen bisherigen Erlebnissen so stark unterscheidet, dass es eigentlich schon nicht mehr unter das zu subsumieren wäre, was ich bisher unter Erlebnisse verstand und das von solcher mir im Moment unvorstellbarer Art wäre, dass es Täuschung ausschlösse.

Falls ein solches Erlebnis möglich sein sollte, so würde es wohl dem, was ich Gefühl nenne, näher stehen als dem, was ich Verstand nenne. Es ginge wahrscheinlich in die Richtung dessen, was die christlichen Mystiker »Versenkung« und die indischen Philosophen »Meditation« nannten, oder was Lao Tse meinte, als er sagte, man könne durch die Anschauung der uns umgebenden Welt das in ihr wirkende »Tao« erahnen.

Auch die Auffassung Platons, durch die Entwicklung der Liebe von einer Stufe auf die andere, letztlich das Reich der Ideen zu schauen, halte ich für überlegenswert. [46] Sie wird in ähnlicher Weise von Erich Fromm vertreten, der meinte, es sei die Liebe, die uns erst an eine unabhängig von uns existierende Außenwelt glauben lasse. [47] Ähnliches findet man auch bei Feuerbach. [48]

Vielleicht werde ich mich im weiteren Verlauf meines Lebens mal darauf einlassen, in diese Richtung und mit diesen Methoden Wahrheit im objektiven Sinne zu suchen. Aber ich bin sehr skeptisch. Man kann ohne Benutzung des Verstandes sehr schnell gefühlsmäßig von etwas überzeugt sein. Doch wie das Sprichwort sagt: »Wer sich nicht in Gefahr begibt, der kommt drin um!« Vielleicht muss ich mich in diese Gefahr begeben, um nicht umzukommen (Im übertragenen Sinne natürlich). [49]

Sehr interessant finde ich die Auffassung des amerikanischen pragmatischen Philosophen William James, den ich hier wörtlich zitieren will:

»Ich selbst lehne entschieden den Glauben ab, dass unsere menschliche Erfahrung die höchste Form der Erfahrung, die es im Weltall gibt, sein soll. Eher glaube ich, dass wir zum Ganzen der Welt in fast derselben Beziehung stehen wie unsere Lieblingshunde und -katzen zum Ganzen des menschlichen Lebens. Sie bevölkern unsere Wohnzimmer und Bibliotheken. Sie nehmen teil an Szenen, von deren Bedeutung sie keine Ahnung haben. Sie treten in bloß vorübergehende, tangentenhafte Berührung mit dem gewundenen Lauf der Geschichte [...] Ähnlich kommen wir mit dem umfassenderen Leben der Dinge nur tangential in Berührung.« [50]

Ich habe einmal eine Wespe dabei beobachtet, wie sie versuchte, durch eine Fensterscheibe zu fliegen. Stundenlang surrt ein solches Insekt an der Scheibe auf und ab, bis es tot auf der Fensterbank liegt. Glasscheiben liegen außerhalb seines Erkenntnisvermögens und so hat es nie auch nur ansatzweise die Vergeblichkeit all seiner Anstrengungen erkannt.

Ähnlich ergeht es vielleicht uns Menschen. Unsere Versuche mit dem Verstand oder mit dem Gefühl das Sein zu begreifen, sind möglicherweise ähnlich dem Bestreben der Wespe, durch die Fensterscheibe zu fliegen. Wir mühen uns ab, denken, philosophieren, meditieren, spekulieren, diskutieren, erklären uns untereinander zu Idioten und irgendwann sind wir tot. Und haben nichts begriffen. Und haben nie die Vergeblichkeit all unserer Anstrengungen erkannt, nie gemerkt, dass uns einige geistige Dimensionen fehlen, um auch nur ansatzweise zu begreifen, was hier eigentlich abläuft.

Das Sein ist wahrscheinlich so kompliziert, dass wir es nicht in seiner Gänze verstehen können. Das lässt sich an einer Frage aufzeigen, die mitunter schon kleine Kinder stellen: »Warum gibt es überhaupt etwas?« Eine solche Frage ist für den Menschen unbeantwortbar! Falls es überhaupt eine Antwort darauf gibt (es mag ja sein, dass diese Frage auf höheren intellektuellen Niveaus völlig sinnlos ist) [51], dann wäre sie den Menschen unbegreiflich. Sie wäre wohl nur auf einem höheren geistigen Niveau verständlich. Dass ein solch höheres geistiges Niveau möglich ist, dafür gibt es Anhaltspunkte.

Niedere Intelligenz kann höhere Intelligenz nicht begreifen. Man kann nach unten gucken und verstehen, aber nicht nach oben. Wenn man aber die Stufenleiter unter sich kennt, dann kann man sich vorstellen, dass es auch über einem selbst weitergeht, dass man mit seinen eigenen intellektuellen Fähigkeiten nicht die Krönung der Schöpfung darstellt. Wobei es hier nicht um Quantität, sondern um Qualität geht. Das Bewusstsein und die intellektuelle Leistungsfähigkeit eines Kindes unterscheidet sich von der eines Erwachsenen ja nicht nur quantitativ, dadurch, dass der Erwachsene mehr Wissen gespeichert und mehr intellektuelle Fertigkeiten erlernt hat, sondern es unterscheidet sich auch qualitativ.

Aber genauso wenig, wie ein Kind das höhere Bewusstsein und die höhere intellektuelle Leistungsfähigkeit des Erwachsenen verstehen kann, genauso wenig kann ein Erwachsener das über ihm stehende Bewusstsein, die über ihm stehende intellektuelle Leistungsfähigkeit verstehen. (In dem Moment, wo man ein höheres Niveau verstehen kann, befindet man sich auf diesem höheren Niveau.) Er kann nur vermuten, dass es über ihm etwas gibt.

Vielleicht ist es ja dem Menschen möglich, ein höheres Bewusstseinsniveau zu erreichen, oder zumindest sich ihm anzunähern. Aber dazu müsste man einen Weg finden. Einen Weg zu einem Ziel, das man nicht kennt, dessen Existenz man nicht einmal mit Sicherheit weiß.

Ob allerdings ein solch höheres Bewusstseinsniveau eine nicht nur partielle Aufhebung des Skeptizismus ermöglicht, oder diesen nur auf einem höheren Niveau bestätigt, ist eine weitere von mir nicht zu beantwortende Frage.

Auf meinen jetzigen intellektuellen Niveau kann ich lediglich Folgendes sagen: Ich halte es für wahrscheinlich, dass die Welt und die Menschen als sich wissende Subjekte auch unabhängig von mir existieren. Wenn es lediglich darum ginge, dass ich eine materielle Welt, einschließlich menschlicher Körper, um mich herum wahrnähme, dann würde es mir keinerlei Probleme machen, mir vorzustellen, diese Welt sei ein Produkt meines Geistes, eben wie im Traum. Aber wenn ich mir die kulturelle Welt, die Bücher, die philosophischen Systeme, die wissenschaftlichen Theorien, die Kunstwerke, die Gemälde und Skulpturen, die Musik von Beethoven und Mozart etc. selbst schaffen würde, dann wäre ich viel mehr, als ich unter »Ich« verstehe. [52]

Es ist wahrscheinlich, dass es etwas unabhängig von mir Existierendes gibt, denn könnte ich mir die Welt nach freien Belieben schaffen, warum ist sie dann so ganz anders, als ich sie gerne hätte? Es scheint doch etwas zu geben, das meinem Willen einen Widerstand entgegensetzt.

Aber: Das, was meinem Willen einen Widerstand entgegensetzt, kann auch ein mir nicht bewusster Teil meiner selbst sein! [53] Es kommt darauf an, was ich überhaupt unter »Ich« verstehen will. Vielleicht bin ich aus einer anderen Betrachtungsweise der Schöpfer von allem, aber dann bin ich auch nicht mehr das Ich, als das ich mich jetzt erlebe.

Ich glaube, dass der subjektive Idealismus (d. h., der subjektive Geist ist der Schöpfer der Welt) und Solipsismus, wenn er konsequent zu Ende gedacht wird, zu einem Bewusstseinsmonismus und damit zu einem Idealismus führt, der den Gegensatz zwischen subjektivem und objektivem Idealismus (d. h., ein objektiver Geist, z. B. ein Gott, ist Schöpfer der Welt) überwindet, weil nicht nur das »Nicht-Ich« und das »Du« problematisch wird, sondern auch das »Ich«.

Um den Bewusstseinsmonismus näher zu erklären, müsste ich auf vieles vorgreifen, das erst im III. Teil erläutert wird. Ich werde im 10. Kapitel noch mal auf die Überwindung des Solipsismus zurückkommen. [54]

(Als Ergänzung zu diesem Kapitel habe ich einige Jahre später den Aufsatz »Gedanken zur Erkenntnistheorie« geschrieben.)


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8. Wahrheitsbegriffe

Ich benutze die Begriffe objektive, absolute, subjektive, empirische, relative, praktische und intersubjektive Wahrheit. Im Folgenden eine kurze Erklärung dieser Begriffe und ihrer Beziehung zueinander. (Der Systematik zuliebe nehme ich Wiederholungen in Kauf.)

»Objektive Wahrheit« heißt für mich, dass mir ein unabhängig von mir existierender Tatbestand oder ein Ding oder eine Idee oder eine Beziehung oder was auch immer bewusstseinsmäßig gegenwärtig ist und zwar in einer solchen Weise, dass Täuschung ausgeschlossen ist. »Es existiert etwas.« Das ist eine objektive Wahrheit. Weitere objektive Wahrheiten besitze ich nur in Form von Ausschließungssätzen.

»Absolute Wahrheit« ist für mich eine andere Formulierung für objektive Wahrheit. Als Gegenbegriff zur subjektiven Wahrheit gibt es die objektive Wahrheit und als Gegenbegriff zur relativen Wahrheit gibt es die absolute Wahrheit.

»Subjektive Wahrheit« heißt, dass ich mir eines bestimmten Erlebnisses zweifelsfrei sicher sein kann. Die Gesamtheit aller meiner Erlebnisse ist die umfassende subjektive Wahrheit.

Innerhalb der subjektiven Wahrheit unterscheide ich noch zwischen empirischer, relativer und praktischer Wahrheit.

»Empirische Wahrheit« heißt, dass ich mit meinen Sinnen etwas wahrnehme. Dies Wahrgenommene hat empirische Realität.

»Relative Wahrheit« könnte ich auch »rationale Wahrheit« nennen. Es sind die Erkenntnisse, die ich mit Hilfe meines Verstandes erschließe. Relative Wahrheiten sind in letzter Instanz immer Vermutungen. Ich bezweifle für den Moment mal einiges nicht, obwohl ich es könnte, und schaffe damit einen Bezugsrahmen, innerhalb dessen ich dann eine relative Wahrheit erschließe. Zu diesem Bezugsrahmen gehören z. B.: Die Tauglichkeit meines Verstandes im Erkenntnisprozess, die (im Großen und Ganzen) Richtigkeit meiner Erinnerungen, die Existenz von Kausalität und Gesetzmäßigkeit und die Annahme, dass ich alle Fakten, die zur Beurteilung eines Dinges oder einer Situation wichtig sind, kenne. Innerhalb dieses Bezugsrahmens sage ich dann: »Diese Dinge verhalten sich in jener Situation immer so und so«, »diese Erscheinung ist durch jene bedingt«, »wenn ich dies tue, dann passiert jenes« usw. Wenn in diesem Text die Formulierungen »ich halte für wahrscheinlich«, »es scheint so«, »es wird wohl so sein« und »ich glaube« auftauchen, dann meine ich damit immer relative Wahrheiten. [55]

»Praktische Wahrheit« ist eine Auffassung, die ich zur Grundlage praktischen Verhaltens mache. Ich erlebe mich als materiellen Körper in einer materiellen Welt und ich bin in ihr ein zielgerichtet handelndes Wesen, indem ich ständig versuche Bedürfnisse zu befriedigen. Dies ist unbezweifelbar! Meinem Handeln lege ich Vermutungen über die Beschaffenheit des Seins zu Grunde, die ich im täglichen Leben »Wissen« nenne. Ist mein Handeln erfolgreich, d. h., erreiche ich mein Ziel, dann haben sich die Vermutungen und Handlungsstrategien als brauchbar herausgestellt, um Ziele zu erreichen. Mehr nicht! Ich werde im praktischen Leben diese Vermutungen auch weiterhin zur Grundlage meines Handelns machen, aber ich kann nicht ausschließen, dass sich diese Vermutungen nicht plötzlich mal als unbrauchbar erweisen werden. Zur objektiven Wahrheit werden sie durch ihre Bewährung in der Praxis nicht. [56]

»Intersubjektive Wahrheit« heißt, dass mehrere Subjekte ein gemeinsames oder zumindest sehr ähnliches Erlebnis haben. Diesem intersubjektiven Erlebnis lege damit zwar nicht automatisch ein objektiver Tatbestand zu Grunde, aber es gäbe etwas wieder, das doch unabhängig vom einzelnen Subjekt besteht. So gehe ich z. B. davon aus, dass die Welt, die ich um mich herum wahrnehme, zwar kein objektiver, aber ein intersubjektiver Tatbestand ist. Ohne die Anerkennung intersubjektiver Wahrheiten würden wir im praktischen Leben nicht zurecht kommen. Intersubjektive Wahrheiten sind also praktische Wahrheiten. Und da die intersubjektiven Wahrheiten eine Vermutung zur Voraussetzung haben, nämlich die Existenz von mehr als einem Subjekt, sind sie in letzter Instanz relative Wahrheiten. Wenn in der Umgangssprache von Wahrheit die Rede ist, dann ist damit immer, auch wenn sich die Menschen dessen nicht bewusst sind, intersubjektive Wahrheit gemeint.

Um das Verhältnis zwischen empirischer, relativer und praktischer Wahrheit zu verdeutlichen einige Beispiele:

Wenn ein Mensch mit einem nassen Mantel mein Zimmer betritt, schließe ich daraus, dass es draußen regnet. Dies ist eine relative Wahrheit, denn in den allermeisten Fällen ist Regen die Ursache dafür, wenn Menschen nasse Kleidung tragen. Ich kann mich mit dieser Vermutung aber auch täuschen. So habe ich es einmal erlebt, dass Kinder, die über mir wohnten, Wasser vom Balkon gossen und damit einen Arbeiter trafen, der gerade Möbel aus einem Lieferwagen auslud. Wenn ich aber aus dem Fenster schaue und sehe, dass es regnet, dann ist aus der relativen Wahrheit eine empirische Wahrheit geworden.

Die These, dass sich die Erde um ihre eigene Achse dreht, war lange Zeit nur eine relative Wahrheit. Für einen Astronauten, der die Erde vom Mond aus betrachtet, kann sie zu einer empirischen Wahrheit werden. (Letztlich bleibt es aber eine Interpretation des Betrachters, was sich bewegt und was sich nicht bewegt.) Zur praktischen Wahrheit wurde diese These, als die Menschen, aufbauend auch auf diese Vermutung, z. B. geostationäre Satelliten im All platzierten.

Es gibt relative Wahrheiten, die nie empirische Wahrheiten werden können, jedenfalls nicht für uns Menschen, z. B. die Evolutionstheorie oder die Behauptung der Ägyptologen, dass die Cheops-Pyramide in der Zeit zwischen 2551 und 2528 vor unserer Zeitrechnung erbaut wurde.

Es gibt auch naturwissenschaftliche Thesen, bei denen ich mir sehr unsicher bin, ob man sie überhaupt noch als relative Wahrheiten bezeichnen sollte, z. B. die These des 2. Hauptsatzes der Thermodynamik vom Wärmetod des Universums. Diese These ist ja nicht nur eine physikalische, sondern eine zutiefst philosophische Aussage. Es stellt sich doch die Frage, wieso ist denn überhaupt ein anderer Zustand als der des Wärmetodes möglich?

An dieser Stelle möchte ich auch betonen, dass mich meine skeptizistische Grundeinstellung nicht zu einem Gegner der Wissenschaft macht. Die Wissenschaftler haben die Aufgabe, relative Wahrheiten zu erkennen, die wir vielleicht zu praktischen Wahrheiten machen können.

Aber wenn wissenschaftliche Erkenntnisse zu objektiven, absoluten Wahrheiten letzter Instanz hochstilisiert werden, dann sage ich, wird die Wissenschaft selbst zur Metaphysik, zur Spekulation, dogmatisiert sie Auffassungen, die eben nicht über jeden Zweifel erhaben sind. Wissenschaft beruht auf willkürlichen Voraussetzungen, deren Tauglichkeit zur Erkenntnis objektiver Wahrheit unbeweisbar ist.

Ich habe auch überhaupt nichts dagegen, wenn Wissenschaftler über das praktisch Verwertbare hinaus Hypothesen aufstellen und mit wissenschaftlichen Methoden spekulieren. Schon alleine deshalb, weil man ja gar nicht wissen kann, was davon nicht morgen schon praktisch verwertbar sein wird. Ich halte diese Spekulationen sogar für sehr interessant und verfolge sie in populärwissenschaftlichen Zeitschriften und Fernsehsendungen. Ich halte es durchaus für möglich, dass die heutigen naturwissenschaftlichen Theorien über die Entstehung des Universums und des Lebens objektive Vorgänge mindestens teilweise richtig beschreiben.

Aber es sind und bleiben letztlich Spekulationen. Die Urknallhypothese z. B. ist für mich keine unumstößliche objektive Wahrheit. Es ist nicht auszuschließen, dass jene Indizien, die auf einen Urknall hindeuten, in hundert Jahren auf Grund neuer Erkenntnisse anders interpretiert werden. [57]


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9. Gedanken zur Überwindung des Nihilismus

Ohne die Erkenntnis objektiver Maßstäbe und ohne einsichtige Gründe, warum ich mich an von außen kommende Forderungen halten soll, kann nur mein Wille die Grundlage meiner Ethik sein. Mein Wille stützt sich auf meine Bedürfnisse, und zwar auf diejenigen, die in mir am stärksten sind. Und die Bedürfnisse resultieren daraus, welche Gefühle ich als positiv ansehe und empfinden will. In diesem Sinne bin ich »Gefühlsethiker«. [58]

Alle Ziele, die ich mir stelle, soweit sie nicht weitergehenden Zielen unterordnet sind, sind Ziele meines Willens! Mein Verstand kann nur (und muss!) Teilziele setzen, indem er mir aufzeigt, was ich tun muss, um die von meinem Willen gesetzten Ziele zu erreichen.

Alle ethischen Grundaussagen sind bedingt durch meinen Willen! Der Verstand steht allen ethischen Grundaussagen neutral gegenüber. Er kann nur (und muss!) meine Bedürfnisse erkennen, mir bewusst machen, welche Bedürfnisse mir am wichtigsten sind und welche ich im Interesse dieser wichtigeren unterdrücken will. Mein Verstand hilft bei der Entstehung des Willens und bei der Realisierung dessen, was ich will. Er hat eine dienende Funktion. [59]

Nun ist es so, dass ich trotz unterschiedlicher und z. T. widersprechender Neigungen durch alle theoretischen Überzeugungen und durch alle Frustrationsphasen meines Lebens hindurch doch immer eine bestimmte Gruppe von Bedürfnissen am stärksten in mir empfand, auf die ich auch fast immer mein Verhalten begründet habe. Aus der Beobachtung anderer Menschen schließe ich, dass bei den meisten die gleichen Bedürfnisse dominieren und ich leite hieraus eine relative Wahrheit ab.

Menschen haben primär die Bedürfnisse nach Liebe, Geselligkeit, Produktivität u. ä., und nur wenn sie auf Grund von physischen Defekten, ihrer Sozialisation, ihrer Lebensumstände und/oder mangelnder Geschicklichkeit und Einsichtsfähigkeit daran gehindert sind, diese Bedürfnisse zu befriedigen, dann entstehen im Menschen als sekundäre Bedürfnisse Hass, Ungeselligkeit, Sadismus, Destruktivität u. ä. als eine krankhafte Entartung des Menschen. [60]

Warum nun die primären Bedürfnisse bei mir am stärksten sind, weiß ich mit letzter Sicherheit nicht. Nach meinen heutigen Überzeugungen (2010) liegen die Ursachen primär in der menschlichen Natur und sekundär in der im Verlaufe der Sozialisation entstandenen psychischen Struktur. Drittens werden auch die individuellen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen eine Rolle spielen. Viertens spielt auch die Vernunft, bzw. die Höhe, die die Entwicklung der Vernunft in einem Individuum erreicht hat, eine Rolle, wenn auch keine unmittelbare. Welche Ursachen nun bei der Entstehung der primären Bedürfnisse auch immer entscheidend sein mögen, für das praktische Leben entscheidend ist, dass diese Bedürfnisse in mir primär sind und ich auf sie meine Ethik begründen will! [61]

Ich will glücklich sein und die überwältigende Mehrheit der anderen Menschen wollen auch glücklich sein. (Die Minderheit der Leidsucher, Asketen, Stoiker und »Glücksleugner« klammere ich hier mal aus.) Ich glaube, dass es verschiedene Glücksarten oder Glücksintensitäten gibt und ich ziehe die höheren Glücksarten den niederen Glücksarten vor.

Aus der Befriedigung sekundärer Bedürfnisse kann ich Glück schöpfen. Aber aus der Befriedigung primärer Bedürfnisse kann ich ein höheres, intensiveres Glück schöpfen. Soweit ich meinen Erinnerungen trauen kann, ist das Glück, das ich erlebe, wenn ich die Liebe oder Anerkennung anderer Menschen gewinne, ein viel intensiveres Glück als das, was ich erlebe, wenn ich mit einem anderen Menschen eine offene Rechnung begleiche, mich an ihm räche. Es bleibt in solchen und ähnlichen Fällen bei mir ein bitterer Nachgeschmack, ein Trauergefühl, das letztlich stärker ist als die empfundene Genugtuung.

Für mich ergibt sich hieraus die Aufgabe, nach Befriedigung der primären Bedürfnisse zu streben und die sekundären, wann immer sie auftauchen, zu unterdrücken und Lebensumstände zu schaffen, sowohl individuelle wie gesellschaftliche, die es mir und anderen ermöglichen, diese Aufgabe so erfolgreich wie möglich zu bewältigen. (Nicht nur mir, auch anderen, weil ich umgeben von unglücklichen Menschen selbst nicht glücklich sein kann. Es ist also letztlich eine egoistische Motivation.) [62]

Ich kann aber nicht wissen, ob ich mich auch in Zukunft an diesen Vorsatz halten werde. Vielleicht werde ich im weiteren Verlauf meines Lebens in Situationen geraten, in denen ich das Glück aus der Befriedigung sekundärer Bedürfnisse der totalen Glücklosigkeit vorziehen werde.

Mein Weg zur Überwindung des Nihilismus ist also kein sicherer, endgültiger, keiner, der mich letztlich voll befriedigen kann. In letzter Instanz kann ich jederzeit das machen, was ich in diesem Moment gerade machen will. (Natürlich im Rahmen meiner Möglichkeiten.)

Um ein extremes Beispiel zu wählen: Wenn ein Sadist sein Glück daraus schöpft, dass er kleine Mädchen tot quält, dann kann ich nicht zu ihm sagen, das darfst du nicht, weil du gegen die göttlichen oder natürlichen oder vernünftigen ewigen Menschenrechte oder gegen die auch für dich verbindlichen objektiven ethischen Werte verstößt. Ich kann nur sagen: Ich will das nicht! Und die meisten anderen Menschen wollen das auch nicht. Wir können unseren Willen seinem Willen entgegensetzen. Mehr nicht! [63]

Wir können uns nicht einmal moralisch über ihn erheben, erstens weil wir keinen objektiven moralischen Standpunkt haben, von dem aus wir sein Verhalten verurteilen könnten, und zweitens weil sadomasochistische Phantasien massenhaft verbreitet sind, auch unter Menschen, die solche Phantasien niemals in der Realität ausleben werden. (Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein!)

Und was ich auch für richtig halte: Alle die Menschen, die solche und ähnliche Grausamkeiten verabscheuen, sollten sich zusammenschließen, Menschenrechtskataloge aufstellen, Gesetze machen und sich die Machtmittel verschaffen, solche Grausamkeiten zu verhindern. Aber aus diesen Menschenrechten und Gesetzen werden nie ewige, unumstößliche, von Gott oder der Natur oder von der menschlichen Vernunft gesetzte Regeln! Es sind Regeln, die die Menschen aus ihrem subjektiven Inneren, aus ihren primären Bedürfnissen ableiten. [64]

Gegenüber Menschen, die diese Regeln nicht einhalten wollen, gibt es drei Möglichkeiten des Handelns: 1. Man sperrt sie ein, im Extremfall tötet man sie. 2. Man erzieht die betreffenden Menschen um, so dass die primären Bedürfnisse auch ihr Handeln dominieren und sie aus ihrem Inneren heraus solche Grausamkeiten nicht mehr begehen wollen. (Dies ist die mir liebste Lösung, die aber leider häufig nicht funktioniert.) 3. Man redet den Menschen ein, es handele sich bei diesen Regeln um gottgewollte, deren Nichtbefolgung nach dem Tode mit ewigen Höllenqualen gesühnt wird. (Eine Notlösung, die aber bei mir und vielen anderen nicht funktioniert.)

Ich kann mir durchaus vorstellen, dass wir im praktischen Leben eine gewisse Menge an ethischen Dogmen brauchen, z. B. eben religiös gerechtfertigte, damit nicht alles noch schlimmer wird.



SCHLUSSBEMERKUNG ZUM II. TEIL

Wer einmal das Lesen gelernt hat, der wird immer, wenn er ein Buch in seiner Sprache aufschlägt, Wörter erkennen, mit denen er etwas verbindet. Er kann es ab einer bestimmten Stufen nicht wieder verlernen. Er kann nicht in einen Zustand zurück, indem er nur undefinierbare schwarze Zeichen sieht. (Wenn wir mal von Hirnverletzungen oder Geisteskrankheit absehen.)

Und wenn man erst einmal einen kritischen Geist ausgebildet und voll verinnerlicht hat, wenn man einmal die Relativität und Subjektivität fast allen Wissens erkannt hat, dann kann man nicht wieder zurück in ein vorkritisches Stadium. Es ist nicht mehr die Frage, was man davon hat. Man hat es! Der Zauberwunsch ist getan und lässt sich nicht wieder zurücknehmen. Das Leben wird dadurch nicht leichter. Menschen mit einem festen Glauben, egal welchen Inhalts, kommen im Leben wahrscheinlich besser zurecht. »Beati pauperes spiritu!« So steht es in der Bergpredigt. »Selig sind die geistig Armen«. (Denn ihrer ist das Himmelreich.) Aber wer einmal vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, für den ist das Paradies verloren. [65] Unwiederbringlich! Es führt kein Weg zurück in die alte Naivität. Ein solcher Mensch ist zur Orientierungslosigkeit, ist zur Freiheit verurteilt! Die einzige Hoffnung, die er haben kann, ist, dass es einen Weg über den kritischen Zustand hinaus gibt. Vielleicht eine vergebliche Hoffnung. Aber ohne diese Hoffnung ist er wie ein alter brüchiger Kahn in stürmischer See, bei pechschwarzer Nacht, mit einer Besatzung, die keine Ahnung hat, von der jeder etwas anderes will und von der jeder mal zeitweilig das Kommando hat. [66]


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III. TEIL – MEINE NEIGUNG ZU EINER IDEALISTISCHEN WELTERKLÄRUNG

10. Bewusstsein und Materie

[67] Diejenigen Naturwissenschaftler und deren Anhänger, die die wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht auf das Reich der Erlebnisse (oder Erscheinungen) begrenzt sehen, sondern sie für objektive, absolute Wahrheiten halten, sehen, wie die philosophischen Materialisten, das menschliche Bewusstsein als Produkt der Materie an, als Produkt des materiellen Organs Gehirn. Eine Reihe von Gedanken haben mich dazu veranlasst, diese Auffassung, die ich selbst lange Zeit vertreten habe, zu bezweifeln.

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war der philosophische Materiebegriff identisch mit dem physikalischen Materiebegriff. Damals sah auch die Naturwissenschaft die Atome als die ewige und unzerstörbare Grundsubstanz der Welt an. Heute gehen die Naturwissenschaften davon aus, dass sich Materie in Energie, also Bewegung, auflösen kann und damit verschwindet. [68] Wenn die Materie sich in Bewegung auflösen kann, dann kann sie nicht Grundsubstanz der Welt sein, denn es scheint doch etwas anderes zu bleiben, das sich bewegt. Bewegung ohne etwas, das sich bewegt, ist mir nicht vorstellbar.

Nun kann diese naturwissenschaftliche These natürlich falsch sein, aber es ist doch beachtenswert, dass der Materialismus aus naturwissenschaftlicher Sicht dubios geworden ist, besonders deshalb, weil Materialisten im allgemeinen behaupten, sie seien im Gegensatz zu den Idealisten und Agnostizisten mit den Naturwissenschaften im Bunde. [69]

Nach dem gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Weltbild ist die Materie überhaupt nicht ewig existent gewesen, sondern erst mit dem Urknall entstanden. Und dann hat sich diese Materie im Verlaufe der subatomaren, molekularen und biotischen Evolution aus einfachen zu immer komplexeren Formen entwickelt. Aus den verschiedenen Elementarteilchen entstanden unterschiedliche Atome, aus diesen dann Moleküle in millionenfacher Vielfalt, daraus die ersten sich selbst duplizierenden DNS-Moleküle, dann entstanden die Zellen, schon sehr komplexe Organismen, dann Zellenverbände. Innerhalb dieser Zellenverbände spezialisierten sich die einzelnen Zellen für bestimmte Aufgaben, es entstanden Nervenzellen, dann Zusammenballungen von Nervenzellen und dann, über viele Zwischenstufen, entstand die komplexeste Struktur von Materie, die wir kennen, das menschliche Gehirn und damit zum ersten Mal Geist, Bewusstsein. (Bei den Tieren gibt es Vorformen.)

Nun frage ich mich, warum macht die Materie das? Ist der von den Naturwissenschaften postulierte Evolutionsdruck allein hinreichend genug die Entstehung dieser Komplexität zu erklären? Wenn Materie in ihrem Anfangszustand aus nichts anderem besteht als aus kleinen Körperchen bzw. Energiebündeln mit einer beschränkten Anzahl von physikalischen Grundeigenschaften, könnte sie dann überhaupt diese Komplexität hervorbringen? Es scheint doch in dieser Entwicklung eine Gesetzmäßigkeit des Fortschritts von einfachen zu komplexeren Strukturen zu sein. Aber muss es dann nicht auch in der Materie selbst oder außerhalb von ihr eine Kraft geben, die sie dazu treibt? [70]

Aber die Materie bringt ja nicht nur eine immer größere Komplexität hervor, sondern nach Meinung der Materialisten und vieler Naturwissenschaftler ab einer bestimmten Komplexität ihrer Struktur auch etwas völlig Neues, das es vorher noch gar nicht gab, nämlich Geist, Bewusstsein. Ein Materiekloß (und nichts anderes ist der menschliche Körper aus naturwissenschaftlicher Sicht), ein sehr komplexes Konglomerat toter, unbewusster Materie wird sich seiner Existenz bewusst. [71]

Intellektuelle Leistungen kann ich mir noch auf der Basis eines materialistisch-mechanischen Weltbildes vorstellen (Elektronenhirne können ja auch intellektuelle Operationen ausführen), aber der Mensch kann ja nicht nur Rechnen, Lesen, Schreiben, Komponieren, Maschinen bauen etc., sondern er weiß das auch. Er ist ein sich wissendes, Leid und Freude bewusst erlebendes Wesen.

Wenn es stimmen würde, dass mein Gehirn, also Materie, mein Bewusstsein produziert, müsste dann die Materie nicht schon in ihren einfachsten Formen viel mehr sein als kleine Körperchen oder Energiebündel mit bestimmten physikalischen Eigenschaften? Müsste nicht schon in den einfachsten Formen, in den elementarsten Teilchen, die Fähigkeit angelegt, vorhanden sein, in komplexeren Formen Bewusstsein hervorbringen zu können? Müsste die Materie dann nicht viel mehr sein, als die Naturwissenschaftler an ihr erkannt haben oder mehr sein, als die Naturwissenschaft mit ihren Methoden überhaupt erkennen kann? Ich glaube, dass das Bewusstsein mit naturwissenschaftlichen Methoden gar nicht erfasst und gar nicht erklärt werden kann.

Vor Jahren sah ich mal einen Science-Fiction Film (Die phantastische Reise), in dem ein U-Boot mit Besatzung so extrem verkleinert wurde, dass es in die Ader eines Menschen injiziert werden konnte. Es fuhr dann über die Blutbahnen ins Gehirn und die Besatzung zerstörte dort ein Blutgerinnsel. Nehmen wir mal an, wir könnten auf diese Weise durch ein lebendes menschliches Gehirn fahren [72], was würden wir dort sehen? Ein unheimlich komplexes System vernetzter Nervenzellen, Nervenfasern, auf denen mit großer Geschwindigkeit Elektronen an uns vorüberrauschen, chemische Überträgerstoffe zwischen den einzelnen Nervenzellen, einen Biocomputer von innen. Aber sähen wir dort irgendwo einen Geist, ein Bewusstsein? Sähen wir dort irgendwo, dass dieses Gehirn einem Menschen gehört, der sich seiner Existenz bewusst ist?

Das Bewusstsein ist (im Gegensatz zur Materie) unsichtbar, unfassbar, unwiegbar, unmessbar, in kein Reagenzglas füllbar, keiner positivistischen Wissenschaft zugänglich, aber dennoch ist es da! Es ist dem Einzelnen (jedenfalls mir!) unmittelbar, unbezweifelbar. Und es ist etwas ganz anderes als die Materie. (Das war 1987, als ich den Text erstmals schrieb, für mich sehr wichtig zu betonen, da ich mich zu der Zeit stark mit meiner materialistischen Vergangenheit auseinander gesetzt hatte. Heute sehe ich es so, dass Materie im unmittelbaren Erleben eine spezifische Form von Bewusstsein ist, mithin in der philosophischen Betrachtung nichts grundverschiedenes. Sollte Materie unabhängig vom Erleben eine Existenz haben, dann ist es allerdings sehr wichtig, zwischen Bewusstsein und Materie zu unterscheiden.)

Ich kann ein Gehirn in ein Reagenzglas tun, aber kein menschliches Bewusstsein. Der Schmerz, den ich erleide, ist mehr, als dass Elektronen über die Nervenfasern zum Schmerzzentrum ins Gehirn fließen. Die Freude, die ich erlebe, ist mehr als Hormone, die irgendeine Drüse in die Blutbahn kippt.

Aus naturwissenschaftlicher Sicht haben alle Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen eine physiologische Grundlage, und wenn auf diese Behauptung praktisches Handeln aufgebaut wird, indem man z. B. einen kranken Menschen wieder gesund macht, finde ich dies auch völlig in Ordnung. Aber das ändert nichts daran, dass das bewusste Erleben meiner Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen nicht identisch ist mit diesen physiologischen Grundlagen.

Kann nun dieses völlig andere des Bewusstseins überhaupt ein Produkt der Materie sein? Zuerst hatte ich diesen Satz gar nicht als Frage, sondern als Behauptung formuliert, dass dies nämlich nicht sein kann. Aber dann fiel mir auf, dass ich nur den zweiten cartesischen Gottesbeweis nachempfunden hatte. Nach Descartes kann das Vollkommenere nicht das Produkt des weniger Vollkommenen sein. [73]

Die Frage, die hier angeschnitten ist, ist die nach der Kreativität. Kann etwas (z. B. ein Stück Materie, ein Mensch, ein angenommener Gott usw.) etwas anderes schaffen, das komplizierter oder qualitativ anders ist als es selbst? Wenn dies möglich sein sollte, dann könnte die Materie das völlig andere, das Bewusstsein, schaffen. Wenn dies nicht möglich ist, dann kann überhaupt nichts qualitativ Neues geschaffen werden. Innerhalb einer qualitativen Sphäre könnte es Wandel geben, aber es würden keine neuen Qualitäten entstehen. Dann sind wir z. B. bei Platon und seinen Ideen. Die materialistische Dialektik dagegen behauptet, dass durch quantitative Veränderungen (Häufung von Nervenzellen) eine qualitative Änderung bzw. ein qualitativer Sprung stattfindet. Und so Bewusstsein entsteht.

Wenn es stimmen würde, dass Materie ab einer bestimmten Komplexität ihrer Struktur, wenn sie sich zu einem informationsverarbeitenden System organisiert hat, Geist, Bewusstsein, Subjektivität hervorbringt, müsste dann nicht auch ein Elektronenhirn, dem man so viele Speicherkapazitäten und Vernetzungsmöglichkeiten zur Verfügung stellt, wie ein menschliches Gehirn hat, Selbstbewusstsein entwickeln? Wenn das nicht gehen sollte (für mich ist diese Frage offen), dann muss doch beim Menschen zu seinem Biocomputer Gehirn noch etwas hinzukommen. [74]

Ich habe mir mal mit einem Hammer auf den Finger gehauen und als der Schmerz soweit abgeklungen war, dass ich wieder denken konnte, da fiel mir auf, dass mir nicht nur der Finger weh tat, sondern dass auch das Wissen um den Schmerz in meinem Finger war und nicht in meinem Kopf. Mir fiel in dieser Situation schlag(!)artig auf, dass in meinem unmittelbaren Erleben das Bewusstsein überhaupt nicht nur in meinem Kopf ist! Sondern überall! Überall wo ich etwas fühle oder wahrnehme. [75] Wenn ich meinen Computermonitor ansehe, dann habe ich das unmittelbare Erleben, dass das Wissen um die Existenz dieses Monitors dort ist, wo der Monitor ist und nicht in meinem Kopf. Wenn mein Bewusstsein in meinem Kopf entstünde, könnte ich dann überhaupt außerhalb meines Kopfes Bewusstsein erleben? Und wenn die Welt, so wie ich sie bewusst wahrnehme, erst in meinem Kopf entstünde (wie es z. B. Kant und die moderne Naturwissenschaft behauptet), wie kommt dann diese Welt wieder aus meinem Kopf heraus? Denn in meinem unmittelbaren Erleben ist die Welt nicht in meinem Kopf, sondern um mich herum. [76]

Wie groß war zu einem beliebigen Zeitpunkt in der Vergangenheit die Wahrscheinlichkeit, dass aus der unfassbaren Menge von Elementarteilchen und ihren unerschöpflichen Kombinationsmöglichkeiten (»unerschöpflich« erscheint mir geradezu als eine Bagatellisierung, aber ich weiß keine bessere Formulierung) gerade der Körper, das Gehirn hervorging, das ich mein eigen nenne? Die Wahrscheinlichkeit war gleich Null! Und zwar in einem solchen Maße, dass ich fast von einer Unmöglichkeit sprechen könnte. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich ab sofort bis zum Ende meines Lebens jeden Sonnabend Sechs Richtige im Lotto habe, ist um ein Vielfaches größer, als die Wahrscheinlichkeit war, dass mein Gehirn entsteht. Die Evolutionstheorie mag, wenn man erst einmal einige Voraussetzungen akzeptiert (siehe Anmerkung 83, Punkt 5), plausible Erklärungen dafür haben, warum sich immer höhere Lebensformen entwickelt haben, also auch dafür, warum der Mensch entstand. (Meine Skepsis an dieser Vorstellung habe ich in Anmerkung 70 dargelegt.) Die Evolutionstheorie mag erklären können, warum sich eine Materiestruktur wie der menschliche Körper entwickelt hat. Aber das gerade die ganz spezifische Materiezusammenballung entstanden ist, die meinen Körper, mein Gehirn darstellt, bleibt auch dann Zufall. Mein Vater hat in seinem Leben wahrscheinlich einige Trillionen Spermien erzeugt. Daraus sind vier Kinder hervorgegangen, eines davon zufälligerweise (?) ich. Bei meinen Großvätern, Urgroßvätern usw., war es ähnlich. Was wäre passiert, wenn sie eine andere Frau bekommen hätten? Was wäre passiert, wenn das Spermium, aus dem ich einst hervorgegangen bin, und das in diesem einen Samenerguss noch ca. 300.000.000 bis 500.000.000 Konkurrenten hatte, auf eine andere Eizelle gestoßen wäre? Gäbe es mich heute dann nur zur Hälfte?

Auf dem Wege vom Urknall bis zur Entstehung meines Körpers gibt es noch viele weitere solcher Zufälligkeiten, ohne die mein Körper nie entstanden wäre, z. B. die Existenz eines Planeten Erde, der nicht zu groß und nicht zu klein ist und der sich nicht zu nahe und nicht zu fern von einem Stern von der Größe unserer Sonne befindet. Auch ohne den 2. Weltkrieg würde es mich nicht geben, genauso wenig wie weitere zig Millionen Europäer unter fünfzig. (Alle Ereignisse wäre so verschoben worden, dass andere Menschen gezeugt worden wären.)

Wenn mein Bewusstsein, mein Geist, meine Subjektivität das Produkt meines Gehirns ist und sich dieses Gehirn nach den heutigen Grundauffassungen der Naturwissenschaft entwickelt hat, dann bin ich das Ergebnis eines ko(s)mischen Zufalls höchster Ordnung. Der Wahrscheinlichkeitstheorie nach dürfte ich einfach nicht existieren. Aber ich existiere! Unbezweifelbar! [77]

Zum Leib-Seele Problem (man kann auch sagen »Materie-Bewusstsein Problem«) sind schon die unterschiedlichsten Erklärungen abgegeben worden und ich glaube nicht, dass ich das Problem lösen kann. Von meiner skeptizistischen Grundposition aus kann ich lediglich sagen, wenn ich einmal meinen Verstand benutzen will, dann erscheinen mir folgende Erklärungen überlegenswert:

1. Die Materie hat gar keine eigenständige Existenz, sondern ist das Produkt, oder besser eine Vorstellung, eine Phantasie des Geistes. Ein Produkt existiert, wenn es einmal produziert ist, auch unabhängig vom Produzenten. Genauso verstehe ich es nicht. Ich glaube nicht, dass irgendein Gott aus dem Nichts die materielle Welt geschaffen hat, sondern das die Materie nur in Form der Vorstellung des Geistes existiert. [78]

Eine solche Auffassung muss auch nicht zwangsläufig zum subjektiven Idealismus und Solipsismus führen. Nach der Erklärung, warum das Bewusstsein wahrscheinlich kein Produkt des Gehirns ist, kann ich nun auch erklären, wieso ein konsequent zu Ende gedachter Solipsismus zu einem Bewusstseinsmonismus und damit zu einem Idealismus führt, der den Gegensatz zwischen subjektiven und objektiven Idealismus aufhebt.

In meinen Träumen nehme ich auch Menschen um mich herum wahr. Da ich aber, wie im 6. Kapitel erläutert, nicht wissen kann, ob der Traum nur Traum, die Realität dagegen wirklich Realität ist, kann ich nicht nur annehmen, die Menschen meines Wachbewusstseins seien Produkte meines Geistes, sondern ich kann auch annehmen, die Menschen in meinen Träumen seien unabhängig von mir existierende Subjekte.

Die vorherrschende psychologische Lehrmeinung ist die, dass die Menschen meiner Träume Teile meines eigenen Unbewusstseins sind. So können aber auch die Menschen meines Wachbewusstseins Teile meines Unbewusstseins sein.

Vielleicht ist es nun so, dass zwar alle Menschen in der Welt meines Wachbewusstseins selbständige, sich wissende Subjekte sind, also ein Bewusstsein von sich und der Welt haben, aber diese individuellen Bewusstseins Aufspaltungen eines alles umfassenden Weltbewusstseins sind. Die Trennung der einzelnen individuellen Bewusstseins wäre nur eine partielle, vorübergehende, oder eine Täuschung, oder aber auch eine Wirklichkeit, der eine andere, widersprechende Wirklichkeit gegenübersteht. Ob es nur ein Bewusstsein gibt oder mehrere, wäre nur eine Frage der Betrachtungsweise. Der Weltgeist wäre eine Art »Multipler Persönlichkeit«, jeder Mensch wäre eine Person in ihm, die Welt eine göttliche, gleichzeitig aber auch »interpersonale« Vorstellung. Im Unterschied zu einer menschlichen multiplen Persönlichkeit wären sich aber viele dieser Personen gleichzeitig ihrer bewusst. Wir hätten es vereinfacht ausgedrückt mit einem verrückten Weltgeist zu tun. So ließe sich auch die Dummheit und Grausamkeit der Welt trefflich erklären. [79] Außerdem wäre es eine gute Erklärung dafür, dass in meinem unmittelbaren Erleben das Bewusstsein überall ist.

Dieser Weltgeist, nehmen wir an, es gibt ihn, wäre aber dann auch ein viel komplexeres Wesen, als wir mit unseren jetzigen intellektuellen Fähigkeiten erfassen könnten, ein Wesen, dass wir uns mit dem Namen »Geist« nur annäherungsweise vergegenwärtigen könnten. [80] Und es wäre ein Wesen, dass natürlich nichts mit dem »Lieben Gott« der Christen zu tun hat.

Ein solches monistisches Weltbild mit dem Geist als primärem Element hat nicht mit dem Problem zu kämpfen, wie Materie und Geist aufeinander wirken können, wenn sie zwei völlig verschiedene Substanzen sind.

2. Die Materie und damit mein Körper, mein Gehirn, hat zwar eine von meinem Bewusstsein unabhängige Existenz, aber sie produziert nicht das Bewusstsein. Dieses Bewusstsein, das ich auch »Seele« nennen könnte, käme zum Körper hinzu, ginge eine zeitweilige Verbindung mit ihm ein. In diesem Falle könnte ich mir vorstellen, dass die konkreten intellektuellen Leistungen nur auf Basis des Gehirns und der Sinnesorgane möglich sind und mit dem Tode des Körpers wieder verschwinden. Aber das Bewusstsein selbst würde erhalten bleiben. Da das Bewusstsein aber einen Inhalt braucht, wäre die Seele unabhängig vom Körper Bewusstsein plus x.

In diesem Falle könnte mein Körper und meine konkreten Lebensumstände zufällig entstanden sein. Aus der unheimlichen Vielzahl der Möglichkeiten entsteht halt irgendwas. Dies würde dann aber nicht für die Seele gelten.

Wenn ich nun aber annähme, dass diese Seele von einem Gott nach Gutdünken geschaffen wurde, bliebe auch hier die Unwahrscheinlichkeit meiner Existenz. Wieso denn gerade meine Seele? Außerdem besteht hier das Problem, wie Materie und Geist aufeinander wirken können, wenn sie zwei verschiedene Substanzen sind. [81]

3. Folgende Erklärung erscheint mir zwar nicht mehr als sehr plausibel, aber sie ist doch immer noch akzeptabler als ein platt materialistisches Weltbild. Die Materie ist viel mehr, als die Naturwissenschaft von ihr weiß. Sie ist schon in ihren elementarsten Formen auch Geist, hat Vorformen von Bewusstheit. [82] Nur deshalb ist sie dazu in der Lage, in Form des menschlichen Gehirns menschliches Bewusstsein zu schaffen. Aber auch hier bliebe die Zufälligkeit meiner Existenz.

4. Last not least bleibt auch hier noch die dialektische Erklärung. Die Welt ist zur Gänze materiell und gleichzeitig zur Gänze ideell. Es ist immer nur eine Frage der Betrachtung. (Näheres im 14. Kapitel) [83]


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11. Gedanken über den Tod

Sehr viele Menschen sind zu den verschiedenen Zeiten und in den verschiedenen Kulturkreisen mit unbezweifelter Selbstverständlichkeit davon ausgegangen zu wissen, was mit ihnen nach ihrem Tode passiert. So wie die Menschen des Mittelalters davon ausgingen, nach ihrem Tode in den Himmel zu kommen (nach einer gewissen Durchgangsphase im Fegefeuer vielleicht), und so wie ein gläubiger Inder davon ausgeht, wiedergeboren zu werden, so gehen heute viele Menschen der zivilisierten Welt, die religiös nicht gebunden sind, davon aus, dass sie nach ihrem körperlichen Tod auch geistig nicht mehr existent sind.

Aber die naturwissenschaftliche These, dass der Geist vom Gehirn produziert wird und mit diesem auch wieder vergeht, ist eine unbeweisbare Behauptung. Die Naturwissenschaftler können, soviel sie auch forschen und so viele praktische Wahrheiten sie uns auch vermitteln, mit ihren Methoden immer nur physiologische Vorgänge beobachten, nicht das Bewusstsein. Wenn ein Arzt sagt, er habe den ganzen menschlichen Körper seziert und nirgends eine Seele gefunden, dann müsste er gleich dazu sagen, dass er auch das Bewusstsein nirgends gefunden hat.

Wenn ein Mensch gestorben ist, d. h., keine Lebensäußerungen mehr zeigt, mit den entsprechenden Apparaten keine Gehirnwellen mehr registriert werden, dann kann ich nur sagen, in diesem menschlichen Körper scheint sich ein Geist befunden zu haben und jetzt scheint sich dort keiner mehr zu befinden. Und auch wenn ich davon ausgehe, dass sich in dem Körper ein Geist befand und nun nicht mehr, weiß ich immer noch nicht, ob dieser Geist nun überhaupt nicht mehr existent ist.

Das einzige Ich-Bewusstsein, dessen Existenz ich mit unbezweifelbarer Sicherheit weiß, ist mein Ich-Bewusstsein und ich kann mich nicht an einen Zustand erinnern, in dem ich nicht existiert habe, was ja wohl auch schlecht möglich ist. Der geistige Tod, die bewusstseinsmäßige Nichtexistenz kann unmöglich subjektive Realität sein. Dass mein Bewusstsein irgendwann entstanden ist und irgendwann wieder vergehen wird, ist eine Vermutung, genauso wie die These, dass es auch noch andere individuelle Bewusstseins gibt, die entstehen und vergehen.

Im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen weiß ich nicht, ob ich nach meinem Sterben noch existieren werde oder nicht. Für mich als Skeptizisten ist das eine offene Frage. Mich als Agnostiker würde es nicht wundern, wenn ich nach meinem körperlichen Tod bewusstseinsmäßig fortexistieren würde. Sollte ich nicht fortexistieren, würde mich das aber auch nicht wundern. ;-)

Im Übrigen: So schlimm scheint der Tod nicht zu sein. Es hat sich jedenfalls noch kein Toter beschwert. ;-)

Der Satz »Ich bin tot« oder auch »in Zukunft bin ich tot« ist paradox. »Bin« ist eine Form von »sein« und tot bedeutet gerade das Nichtsein eines Subjekts. Auch für »du bist tot« oder »er/sie ist tot« trifft das zu. Jede Verbindung der Wörter »tot« und »sein« ist bezogen auf Subjekte ein Paralogismus.

Ich sehe zwei Möglichkeiten. Entweder ich werde mit meinem körperlichen Tod auch geistig nicht mehr existieren, dann kann ich mit Epikur sagen: »So wird uns das fürchterlichste Übel, der Tod, vollkommen gleichgültig. Denn solange wir sind, ist er nicht da, wenn er aber da ist, sind wir nicht mehr vorhanden.« [84]

Oder ich werde in irgendeiner Weise geistig, bewusstseinsmäßig weiterexistieren. Da ich aber nicht wissen kann, ob überhaupt und wenn, wie dieses Weiterexistieren aussieht, kann ich das Ganze nur auf mich zukommen lassen. Spekulationen darüber sind wohl sinnlos, jedenfalls wenn man sie in der Absicht betreibt, objektive Wahrheit erkennen zu wollen.

Sinnvoll können solche Spekulationen aber aus zwei anderen Gründen sein. 1. Indem man eine bestimmte Spekulation zu seinem Glauben oder zumindest zu seiner Hoffnung macht und damit eine Lebens- und Sterbehilfe hat. 2. Um eigene Spekulationen den eingefahrenen Weltbildern gegenüberzustellen und aufzuzeigen, dass es auch noch andere Erklärungsmöglichkeiten gibt. In diesem zweiten Sinn sind meine Spekulationen zu verstehen.

Wie ich im vorherigen Kapitel erläutert habe, halte ich es nicht für wahrscheinlich, zufällig entstanden zu sein. Am plausibelsten erscheint mir, dass ich als Teil eines umfassenden Weltbewusstseins schon immer existent war.

Wie im 6. Kapitel erläutert, kenne ich zwei Bewusstseinszustände: Traum (BZ I) und Realität (BZ II). In beiden Bewusstseinszuständen nehme ich um mich herum eine Welt und Menschen wahr. Aus der Perspektive des BZ II aber erscheint mir alles im BZ I Erlebte als Halluzination. Wenn ich nun noch einen BZ III hinzuspekuliere, in dem ich vielleicht vor meiner Geburt war und nach meinem Sterben sein werde, dann wäre Geborenwerden eine Art Einschlafen und Sterben eine Art Aufwachen. Aus der Perspektive des BZ III könnte mir alles im BZ II Erlebte als Traum erscheinen.

Die heute vorherrschende psychologische Lehrmeinung vermutet, dass wir im Traum Kenntnisse der Realität verarbeiten, verdichten, neu zusammensetzen etc. So könnte sich aus der Perspektive des BZ III das im BZ II Erlebte als eine Verarbeitung, Verdichtung, Verbreiterung und Neuzusammensetzung von Kenntnissen aus dem BZ III darstellen. Dieser BZ III könnte z. B. die Sphäre der platonischen Ideen sein.

Aus der Perspektive des BZ II erscheint mir der BZ I als von niederer Qualität, als dumpfer, dunkler, weniger intensiv, weniger rational. (Das mag aber auch daran liegen, dass mir im BZ II immer nur Erinnerungen an den BZ I zur Verfügung stehen.) So könnte es sein, dass ich aus der Perspektive des BZ III den BZ II ähnlich beurteilen werde. Der BZ III mag ein höheres, von mir jetzt unvorstellbares Bewusstseinsniveau sein. [85]

Aus der Perspektive des BZ II erscheint mir das Ich meiner Träume ein sehr beschränktes, rudimentäres Ich zu sein. Es weiß ja sehr vieles nicht, was das Ich meines Wachbewusstseins weiß. Das Ich des BZ III mag dagegen ein viel umfassenderes Ich sein, das das Ich des BZ II ähnlich beurteilen wird wie dieses das Ich des BZ I.

Ich könnte auch noch einen BZ IV, BZ V usw. annehmen bis ins fast unendliche. Am Ende stünde dann das alles umfassende Weltbewusstsein oder der Weltgeist, von dem ich in meinem jetzige Zustand ein winziges Bruchstückchen bin.

Eng mit solchen Vorstellungen hängt auch wieder eine dialektische Möglichkeit zusammen. Ich werde nach meinem körperlichen Tod fortexistieren und gleichzeitig doch nicht fortexistieren. Es kommt ganz darauf an, was ich unter »ich« verstehen will. (Näheres dazu im 14. Kapitel) [86]

Es ist mir klar, dass dies alles Spekulationen sind, denen man viele andere Spekulationen entgegenstellen kann. Ich will auch nicht verhehlen, dass mir diese Spekulationen sehr sympathisch sind und deswegen auch mein Wunschdenken hier eine Rolle spielt. [87] In letzter Instanz bleibe ich Skeptizist.

Ich halte es für einen Fehler, wenn man das Thema »Tod«, wenn man seine eigene Vergänglichkeit, zumindest in der jetzigen Form, verdrängt. Vielleicht gibt es nur deshalb so viel Todesangst, weil die Menschen glauben zu wissen, dass sie nach ihrem körperlichen Tod auch geistig nicht mehr existent sind. [88] Wenn man sich seiner eigenen Vergänglichkeit bewusst ist und nicht jedes Mal in Panik ausbricht, wenn man an seinen Tod denkt, kann dies auch positive Wirkungen auf das Leben haben. Man sieht dann vielleicht manches nicht mehr so verbissen. Man erkennt besser die Banalität und Dummheit von vielem, womit wir uns hier herumschlagen müssen. Man steht über manchem kleinlichen Gezänk.

Bei mir führt es auch dazu, dass ich keine materiellen Dinge aufspeichere, da ich die sowieso irgendwann verlieren werde, es sei denn, es sind Dinge, die ich unmittelbar gebrauche und verbrauche. [89]

Ich verzichte auch nicht auf alles, was Spaß macht, bloß weil es ungesund ist. Mein Körper ist letztlich auch nur ein materielles Ding, das ich im Laufe meines Lebens verbrauche. (»Manche leben so vorsichtig, dass sie wie neu sterben.« Michael Richter)

Das Wissen des Menschen um seine Sterblichkeit wird häufig als eine Ursache für Philosophie genannt (neben »staunen« und »zweifeln«). Den Tod allerdings dermaßen in den Mittelpunkt des Philosophierens zu stellen, wie das z. B. Kierkegaard und Heidegger machen, ist wohl eine Mentalitätsfrage.


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12. Philosophie statt Religion

Es scheint so zu sein, dass fast alle Menschen ein metaphysisches Bedürfnis haben, nur in unterschiedlich starkem Maße ausgeprägt, und dass sie dieses Bedürfnis je nach Intelligenz- und Bildungsgrad und je nach dem allgemeinen kulturellen Hintergrund auf verschiedenen intellektuellen und kulturellen Niveaus ausleben.

Religionen, die traditionellen wie die neu entstehenden, Aberglaube, Okkultismus, aber auch spekulative Philosophie sind Ausdruck dieses Bedürfnisses.

Wenn ich einmal für wahrscheinlich halte, dass mein Bewusstsein kein Produkt der Materie ist, dass der Kern des Seins dem, was ich Geist oder Bewusstsein nenne, näher steht, als dem, was ich Materie nenne, wenn ich einmal annehme, dass meine jetzige Existenzweise oder die mir bekannte Existenzweise, nicht das Einzige ist, was unterscheidet mich dann noch von einem religiösen Menschen?

So wie ich es verstehe, sind Religion und Okkultismus einerseits und Philosophie und Wissenschaft andererseits zwei völlig verschiedene Herangehensweisen an das Sein. In der Religion wird an etwas geglaubt, z. B. an ein heiliges Buch, die Offenbarung eines Propheten, die Worte eines charismatischen Führers u. ä. An den Aussagen der Religion wird nicht gezweifelt. Häufig wird ein solcher Zweifel durch die Androhung übelster Strafen – z. B. ewiger (!) Folter nach dem Tode – im Keime erstickt. Nachgedacht wird höchstens noch, wenn es um die Auslegung der Glaubenssätze geht.

In der Philosophie dagegen, jedenfalls wie ich sie verstehe, gibt es keine Tabus, keine heiligen Kühe. Es darf alles hinterfragt werden, es darf alles bezweifelt werden. Man versucht in einem Prozess des Nachdenkens und der Diskussion mit anderen der Wahrheit auf die Spur zu kommen.

Ob nun letztlich eine der diversen Religionen oder eines der diversen philosophischen oder wissenschaftlichen Weltbilder der objektiven Wahrheit (falls es so etwas überhaupt gibt) näher kommt, halte ich für in letzter Instanz unentscheidbar. (Mit der Ausnahme der Ausschließung allzu naiver Behauptungen.) Ich weiß nur, dass ich das Bedürfnis habe, über alles nachzudenken, und dass ich mir das Nachdenken nicht verbieten lasse.

Der Unterschied zwischen Religion und Philosophie ist der Unterschied zwischen Glauben und Denken. In diesem Sinne bin ich ein philosophischer, kein religiöser Mensch.

Eine Art geistige Ursache der Welt für wahrscheinlich zu halten, ist ja nicht das Gleiche, wie mit unbezweifelter Sicherheit an eine geistige oder göttliche Ursache der Welt zu glauben. (Glauben im Sinne von Wissen!) Eine geistige Fortexistenz nach dem körperlichen Tod für möglich zu halten, ist nicht das Gleiche, wie ohne jeden Zweifel an die Auferstehung oder die Wiedergeburt zu glauben. Ich bleibe Skeptizist. Da ich meine Erklärungen (Plural!) nicht verabsolutiere, habe ich auch keinen missionarischen Eifer und ich teile die Menschen, die andere Erklärungen anbieten, auch nicht in »die Dummen und die Bösen« ein, wie es die Dogmatiker aller Schattierungen leider machen. Und Religionen sind immer dogmatisch.

Außerdem glauben religiöse Menschen meistens nicht einfach nur an eine geistige Ursache der Welt, sondern sie haben häufig noch ein ganzes Lehrgebäude, an das gleich noch mitgeglaubt werden muss.

Vom christlichen Glauben unterscheidet mich zusätzlich noch, dass ich, wenn ich einmal eine geistige Ursache der Welt annehme, »glaube« (im Sinne »für wahrscheinlich halten«) [90], dass geistige Ursache, Welt, Menschen usw. irgendwie identisch sind, d. h. ich vertrete eine pantheistische Position. (Pantheismus bedeutet, die Natur, die Welt ist mit Gott identisch.) Die offizielle christliche Lehre sagt, Gott hat die Welt und die Menschen geschaffen. Zwischen Schöpfer und Geschöpfen gibt es eine klare Trennung, die auch für alle Ewigkeit bestehen bleibt. Es gibt zwar heutzutage unter den undogmatischeren Christen viele Pantheisten, aber offiziell wird der Pantheismus von den christlichen Kirchen nach wie vor abgelehnt und in früheren Zeiten wurden Pantheisten als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt, z. B. Giordano Bruno.

Meiner Vorstellung nach ist die Trennung von Gott und Mensch, Ich und Du, Subjekt und Objekt eine Wirklichkeit, der eine andere Wirklichkeit, nämlich die Einheit von Gott und Mensch, Ich und Du, Subjekt und Objekt gegenübersteht.

Nun mag manch Anhänger der Logik und der exakten Wissenschaften über solche metaphysischen und verstandswidrigen Spekulationen die Nase rümpfen. Aber man sollte sich darüber klar sein, dass auch die theoretische Physik mit der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik Thesen vertritt, die unserem gesunden Menschenverstand widersprechen (z. B. die Identität von Materie und Bewegung, die Relativität von Raum und Zeit, die Verkehrung von Ursache und Wirkung etc.), und dass die meisten bedeutenden theoretischen Physiker im Verlaufe ihrer Forschungen metaphysisch oder religiös gestimmt wurden, bzw. blieben. Einstein und Planck glaubten an Gott, wenn wohl auch nicht im Sinne eines platten Dogmenglaubens, und Carl Friedrich von Weizsäcker hat gesagt, je mehr man sich in die Physik hineinbegibt, desto stärker habe man das Gefühl, dass hinter dieser Welt irgendein großes Geheimnis steckt. [91]


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13. Philosophie und Parapsychologie

Aus dem bisher Geschriebenen dürfte deutlich geworden sein, dass ich einerseits nicht unkritisch etwas glaube, nur weil viele Menschen es berichten, dass ich andererseits aber auch nicht etwas von vornherein verwerfe, nur weil es einem vorgefertigten Weltbild widerspricht. Vor diesem Hintergrund kann ich mich dann auch mit parapsychologischen Phänomenen beschäftigen. Einige Berichte sind so häufig, dass ich es für zu leichtfertig halte, sie einfach als Phantastereien abzutun. (Z. B. die spontane Telepathie zwischen gefühlsmäßig eng verbundenen Menschen, wenn einer von ihnen in eine existentielle Gefahr gerät.)

Wenn ich einmal davon ausgehe, dass Raum und Zeit nicht unabhängig von meinem Geist existieren, dass das menschliche Bewusstsein etwas nichträumliches und nichtmaterielles ist, das nicht einmal, jedenfalls nicht zur Gänze, der Kausalität und der Gesetzmäßigkeit unterworfen ist, dass die individuellen Bewusstseins Teile eines alles umfassenden Weltbewusstseins sind, dass die Trennung von Subjekt und Objekt, Ich und Du, Geist und Materie kein Absolutum darstellt, dass es außer der Seinssphäre meines Wachbewusstseins auch noch andere Seinssphären von ganz anderer Qualität gibt, die vielleicht in die Seinssphäre meines Wachbewusstseins hineinreichen, dann ergeben sich auch ganz neue Möglichkeiten zur Erklärung parapsychologischer Phänomene.

Wenn die Welt eine Phantasie, ein Traum des Weltgeistes ist, dann wäre die einfachste Erklärung für parapsychologische Ereignisse, dass in einem Traum halt alles möglich ist.

Aber soweit mein Erkenntnisvermögen reicht, scheint es Kausalität und Gesetzmäßigkeit in der Welt meines Wachbewusstseins zu geben, die ich und andere nicht so einfach mal außer Kraft setzen können. Der Weltgeist scheint nach gewissen Regeln zu »phantasieren«. [92]

Da die Regeln aber letztlich kein Absolutum darstellen, kann es zuweilen zu einer spontanen oder gezielten Überwindung von ihnen kommen.

Die materielle Welt ist nur ein Teil der Welt und des Seins. Nicht alles, was in der Welt meines Wachbewusstseins abläuft, muss sich materiell, d. h. naturwissenschaftlich erklären lassen. Ich halte es durchaus für möglich, dass sich parapsychologische Ereignisse irgendwann einmal naturwissenschaftlich erklären lassen, z. B. durch die Entdeckung von bisher unbekannten Strahlungen oder Materieformen, aber es ist auch möglich, dass die parapsychologischen Phänomene rein geistiger Natur sind und nie naturwissenschaftlich erfasst werden können.

Telepathie ist die spontane oder gezielte Überwindung der Trennung von zwei nichträumlichen und nichtmateriellen individuellen Bewusstseins, die in einer anderen Seinssphäre oder in einer anderen Wirklichkeit Teile eines Weltbewusstsein sind, bzw. die aus einer anderen Betrachtungsweise ein und das selbe Bewusstsein sind. Etwas, das nichträumlich und nichtmateriell ist, kann auch nicht räumlich oder materiell getrennt sein. Neben der uns bekannten Art der Informationsübermittlung über die Sinne wäre auch eine rein geistige möglich, die sich jeder naturwissenschaftlichen Erklärung entzieht.

Präkognition (Zukunftsvorhersage) und Retrokognition (außersinnliches Wissen um vergangene Ereignisse) wäre dann nicht mehr so erstaunlich, wenn man Zukunft und Vergangenheit nicht als etwas objektives, sondern als etwas subjektives ansieht, als Abstraktionen unseres Verstandes. Veränderungen laufen objektiv nicht im Rahmen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ab, sondern alle erinnerten, gegenwärtigen und erwarteten Zustände sind gleichzeitig oder zeitlos vorhanden, nur dass sie uns in unterschiedlichen Erlebnisformen bewusst sind. Was sich ändert, wären so betrachtet nicht die objektiven Zustände, sondern die subjektiven Bewusstseinsinhalte. [93]


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14. Gedanken zur Dialektik

Unter dem Begriff »Dialektik« hat man in der Geschichte der Philosophie schon Verschiedenes verstanden. [94] Wenn ich von Dialektik spreche, dann meine ich damit Folgendes:

  1. Die starren Gegensätze zwischen Ja und Nein, zwischen Sein und Nichtsein, zwischen entweder so oder so etc. sind Täuschungen einer nur logischen Denkweise. Es kommt immer darauf an, von welcher Basis aus bzw. innerhalb welchen Bezugsrahmens man ein Urteil fällt. Die zweiwertige Logik ist im praktischen Leben unverzichtbar, aber sie allein reicht nicht aus, um die Welt zu verstehen.
  2. Alle Gegensatzpaare sind untrennbar. Jeder Pol eines Gegensatzes hat nur einen Sinn oder nur eine Existenz, weil es den entgegengesetzten Pol gibt. Jede Erscheinung (?) ist je nach Betrachtung sowohl dem einen, wie dem anderen Pol zurechenbar.
  3. Alles in der Welt (der Erlebnis- oder Erscheinungswelt wohlbemerkt, ob es für das Sein schlechthin zutrifft, halte ich für unerkennbar) bewegt, verändert sich. Jede Ruhe ist relativ, vorübergehend. Alles entsteht und vergeht. In dieser Bewegung schlagen die Gegensätze ständig ineinander um.
  4. Es bewegt sich nur dort etwas, wo ein Gegensatz, ein Widerspruch vorhanden ist.

Den dialektische Dreischritt These – Antithese – Synthese behandele ich hier nicht. Ich habe den Eindruck, dass einige Antidialektiker in diesem Dreischritt das Entscheidende an der ganzen Dialektik sehen und sich in ihrer Kritik besonders darauf stürzen. [95] Meines Wissens ist dieser Dreischritt erst bei den Philosophen Fichte, Schelling und Hegel aufgekommen. Was ich unter Dialektik verstehe, geht zurück auf den griechischen Philosophen Heraklit. [96]

Wenn ich in Gesprächen mit anderen erklären will, was ich unter Dialektik verstehe, beginne ich am liebsten immer mit den Begriffen »groß« und »klein«. Alle materiellen Dinge (und im übertragenen Sinne auch alle anderen Erscheinungen) sind groß und klein auf einmal. Es kommt nur darauf an, innerhalb welchen Bezugsrahmens man es betrachtet. Ein Auto ist im Vergleich zu einem Hochhaus klein, im Vergleich zu einem Fingerhut aber groß. Es ist sinnlos zu sagen, »aber letztlich ist das Auto eben doch groß« oder »das Auto ist doch eher groß als klein«. Das Auto ist groß und klein. Keine der beiden Aussagen ist wahrer als die andere.

Wir haben es hier mit einem Widerspruch zu tun, der nicht das Ergebnis ungenügenden Denkens ist. Im Gegenteil: Es scheint so zu sein, dass unser Verstand Widersprüche nicht mag, dass er versucht Widersprüche zu beseitigen, die Welt aber widersprüchlich ist, ob es unserem Verstand nun passt oder nicht.

Außerdem haben die Begriffe »klein« und »groß« nur einen Sinn, wenn sie beide vorhanden sind. Es ist etwas nur groß im Vergleich zu etwas, das klein ist und es ist etwas nur klein im Vergleich zu etwas, das groß ist. Der Begriff »klein« ist für sich allein so sinnlos, wie der Begriff »groß«. Auch wenn in einem Satz oder einer ganzen Geschichte nur einer dieser beiden Begriffe vorkommt, ist der andere immer stillschweigend mit vorhanden.

Genauso wie bei den Begriffen »klein« und »groß« ist es bei sehr vielen Gegensatzpaaren. (Aber scheinbar nicht bei allen. Auch hierzu kommen Beispiele.)

Alle Menschen sind gleich und doch sind alle Menschen ungleich. Man wird nie zwei Menschen finden, an denen nicht irgendetwas gleich und irgendetwas ungleich ist. Jeder Mensch hat einen Kopf und ein Gehirn darin. Dies ist allen Menschen gleich. Aber auch jeder Mensch hat seine ganz spezifischen Erbanlagen. Sein DNS-Faden ist in seiner Struktur einzigartig.

Wenn man aber nun daraus, dass es nicht zwei Menschen gibt, die überhaupt nichts Trennendes haben, den Schluss zieht zu sagen, in letzter Instanz sind eben alle Menschen ungleich, dann können wir das Wort »gleich« aus unserer Sprache streichen, denn man wird nie zwei Dinge finden, die überhaupt nichts Trennendes haben.

Aber ohne den Begriff »gleich« verliert auch der Begriff »ungleich« seinen Sinn.

Ob etwas gleich oder ungleich ist, hängt vom Bezugsrahmen oder der praktischen Absicht ab. Wenn ich z. B. einen Karton mit einigen tausend Büroklammern nehme und sage, das sind alles die gleichen Büroklammern, dann ist dies völlig in Ordnung, wenn ich das Ziel habe, einzelne Blätter zusammenzuhalten. Sähe ich mir aber diese Büroklammern unter einem Mikroskop an, dann würde ich sehen, dass nicht zwei Büroklammern gleich wären.

Auch ob alle Menschen gleich oder ungleich sind, hängt von der praktischen Absicht ab. Wenn die Verfassung verkündet, alle Menschen sind gleich, dann ist dies eine von mir unterstützte ethische Grundlage der Gesellschaft. Alle Menschen können Freude und Leid erleben, alle Menschen sollen gleichberechtigt am demokratischen Leben teilnehmen können. Wenn nun aber ein Arzt, der Bluttransfusionen vornimmt, sagen würde, alle Menschen sind gleich, dann wäre dies ein tödlicher Irrtum.

Der zweiwertigen Logik nach bewegt sich ein Gegenstand entweder, oder er bewegt sich nicht. Die zweiwertige Logik kennt nichts Drittes. Aber die Wirklichkeit kennt es. Gegenstand A und Gegenstand B bleiben zueinander in der gleichen Entfernung. Beide zusammen bewegen sich aber von Gegenstand C weg. Gegenstand A ist bezogen auf Gegenstand B unbewegt, bezogen auf Gegenstand C aber bewegt. Da wir seit Einstein kein absolutes Bezugssystem für Bewegung mehr haben, können wir feststellen: Gegenstand A bewegt sich und Gegenstand A bewegt sich nicht. Keine Aussage ist wahrer als die andere.

Nun habe ich aber den Eindruck, dass diese Relativität ihre Grenzen dort hat, wo es um unmittelbar erlebte subjektive Eigenschaften geht. Wenn ich hungrig bin, dann bin ich nicht gleichzeitig nichthungrig. Wenn ich Schmerzen habe, dann bin ich nicht zugleich schmerzfrei.

Aber auch hier gilt zumindest, dass die Gegensatzpaare nur gemeinsam einen Sinn haben. Ich kann nur Schmerz erleben, weil ich den Zustand der Schmerzlosigkeit kenne. Außerdem verändere ich mich ständig und schwanke zwischen diesen verschiedenen Gefühlen. Wenn ich die Bewegung hinzuziehe, dann stimmt es doch wieder, dann bin ich doch das eine wie das andere.

Sehende Menschen glauben, dass Blinde in Dunkelheit leben. Für Geburtsblinde trifft dies nicht zu. Sie haben nie eine Vorstellung von hell entwickeln können und so auch nie eine Vorstellung von dunkel. Es ist in ihrer Welt nicht dunkel.

Was für die Eigenschaften der Dinge und Erscheinungen gilt, gilt das auch für die Dinge und Erscheinungen selbst? Ist ein Ding überhaupt mehr als die Summe seiner Eigenschaften?

Nehmen wir einen Wald. Wälder gibt es (noch). Ich gehe des Öfteren durch welche spazieren. Aber der Wald besteht aus Bäumen. Eigentlich sind es doch die Bäume, die existieren nicht der Wald (den man ja bekanntlich manchmal vor lauter Bäumen nicht sieht). Der Wald ist eine Abstraktion oder eine Zusammenfassung meines Geistes. Aber der Baum besteht wiederum aus Laub, Ästen, Rinde, Wurzeln usw. Dieses alles wieder aus Zellen, diese aus Molekülen usw. usf. Wenn ich nun immer weiter ins Kleine vorstöße, bliebe dann zum Schluss überhaupt noch etwas, wovon ich sagen könnte, es existiere nicht als meine Zusammenfassung? Die Quarks? Aber Materie ist nach der heute vorherrschenden physikalischen Lehrmeinung doch Energie, also Bewegung. Aber was bewegt sich da? Vielleicht sind es zum Schluss nur noch die Gedanken des Weltgeistes, die sich bewegen.

Aus solchen Gedanken schließe ich, dass es immer nur eine Frage der Betrachtung oder der praktischen Absicht ist, ob ein Ding oder eine Erscheinung existiert oder nicht existiert.

Von solchen Gedanken, die ich mir über Dinge meiner Erlebniswelt mache, leite ich nun einige Spekulationen über das Sein schlechthin ab.

Ist das Sein primär materiell oder primär geistig? Beide Standpunkte haben gute Argumente. Der naturwissenschaftliche Betrachter mag sagen, Geist gibt es nur, wo eine physiologische Grundlage für ihn existiert, und der philosophische Betrachter mag sagen, Materie gibt es nur als Vorstellung des Geistes. Beide mögen recht haben, je nachdem, wie man es gerade betrachtet, mit welchem praktischen Ziel man es gerade beurteilt.

Und möglicherweise ist es sogar unabhängig von unserem menschlichen Dafürhalten im Sein tatsächlich so, dass Materie und Geist so zusammenhängen, sich gegenseitig bedingen, dass das eine ohne das andere nicht existieren kann, und dass es unmöglich ist zu sagen, das eine ist primär, das andere sekundär. [97]

Wenn es so ist, dass Materie und Energie, also Bewegung, untrennbar sind, das eine ohne das andere nicht existieren kann, ja beides sogar identisch ist bzw. ineinander umschlägt, warum sollte das Gleiche dann nicht auch für Materie und Geist gelten?

Und so mag es auch mit dem Subjekt-Objekt Problem sein. In meinem unmittelbaren Erleben unterscheide ich zwischen Subjekt und Objekt. Durch kritisches Denken komme ich dann zu dem Ergebnis, dass alles Objektive ein subjektives Erlebnis ist und es folgt die Frage, ob es denn überhaupt etwas Objektives gibt. Aber durch weiteres Nachdenken komme ich zu dem Ergebnis, dass ich alles, was ich als subjektiv betrachte, objektivieren kann, zum Objekt meines Nachdenkens machen kann, einschließlich des Denkens selbst. Ist es da nicht sinnvoll zu sagen, alles ist subjektiv und alles ist objektiv, es kommt immer nur darauf an, wie man es gerade betrachtet?

Und wenn ich hier erst einmal angekommen bin, dann wird auch das »Ich« problematisch. Wer oder was bin »Ich« eigentlich? Ich bin ein erlebendes Wesen. Wenn ich alle Erlebnisse streichen würde (was gar nicht möglich ist), dann bliebe gar kein Ich mehr übrig. Ich bin identisch mit meinen Erlebnissen. Diese Erlebnisse ändern sich aber ständig. Neue kommen, alte verschwinden. Einige dieser Erlebnisse, die besonders stabil sind, die sich im Vergleich zu anderen nur sehr langsam ändern, die sind es, die ich mit den Namen »Ich« bezeichne.

Ich habe mal darüber nachgedacht, ob ich eigentlich noch der Mensch bin, der ich Ende der 60er Jahre war. Damals war ich ein sehr junger, ungebildeter, auf einem qualitativ anderen geistigen Niveau existierender Hilfsarbeiter ohne Volksschulabschluss. Die Veränderungen, die ich seit Beginn meiner 20er Jahre durchlaufen habe, sind stärker als bei den meisten anderen Menschen. Bin ich also noch der, der ich damals war? Ich bin es und ich bin es nicht!

Hier lässt sich nun die Frage anschließen, ob ich vor meiner Geburt schon existiert habe und nach meinem Tode existieren werde. Nehmen wir mal an, der Seelenwanderungsglaube wäre richtig, nehmen wir mal an, es gäbe einen Kern, der durch alle Inkarnationen identisch geblieben war, ist und bleibt. War ich in den früheren Leben das Ich, das ich heute bin? Werde ich in zukünftigen Leben das Ich sein, das ich heute bin? Ich war es und ich war es nicht. Ich werde es sein und ich werde es nicht sein.

Und wenn ich mir vorstelle, dass es ein alles umfassendes Weltbewusstsein gibt, das sich in viele individuelle Einzelbewusstseins aufgespalten hat, dann wäre ich auch das fremde Bewusstsein, dann wäre ich auch das Du und wäre es doch nicht. Es gäbe nur ein Bewusstsein und gäbe doch viele. Ich wäre der ganze Weltgeist und doch nur ein Teil von ihm.

Ich bin die Summe meiner Erlebnisse. Aber auch die Welt ist die Summe meiner Erlebnisse. Trotzdem unterscheide ich zwischen mir und der Welt. Ich bin die ganze Welt und doch nur ein Teil von ihr. Und vielleicht bin ich darüber hinaus das ganze Sein und doch nur ein Teil von ihm, vielleicht bin ich der Schöpfer und doch das Geschöpfte.

Gibt es etwas, das bei all der Veränderung, bei aller dialektischen Bewegung und Widersprüchlichkeit, bei aller Relativität bleibt? Einen Kern des Seins, auf den die Dialektik der Identität von Sein und Nichtsein nicht anwendbar ist? Oder ist es so, wie Hegel meint, das Sein und das Nichts sind das Gleiche? (Und gleichzeitig doch nicht das Gleiche!) Ich weiß es nicht. Es sprengt mein Vorstellungs- und mein Denkvermögen. Ich kann lediglich sagen, dass meine bisherigen Gedanken mich dahin geführt haben, diese hegelsche Aussage nicht für so völlig absurd, sondern zumindest für überlegenswert zu halten. [98]



Würfel auf dem Titelbild der
Papierausgabe dieses Textes

Der Würfel auf dem Titelbild soll demonstrieren, dass es verschiedene, einander ausschließende Wirklichkeiten gibt, die gleichzeitig vorhanden sind. Beide große Quadrate sind sowohl die Vorderseite wie die Rückseite des Würfels. Die Schriftzüge sind sowohl auf den Flächen wie unter den Flächen. Und nun soll keiner sagen, es handele sich hier um eine optische Täuschung. Hier schaffen wir zwei sich gegenseitig ausschließende Wirklichkeiten, von denen keine wirklicher ist, als die andere.

So wie bei diesem Würfel mag es im Sein generell aussehen. Das Sein mag aus verschiedenen, einander ausschließenden Wirklichkeiten bestehen.

Verständlich machen möchte ich diese Hypothese, indem ich sie mit einer Aussage der Relativitätstheorie vergleiche.

Die Krümmung des Universums, die Existenz eines grenzenlosen und trotzdem endlichen Raumes kann man sich nicht vorstellen. Die in populärwissenschaftlichen Fernsehsendungen aufgeblasenen Luftballons, die das expandierende, in sich gekrümmte All demonstrieren sollen, sind eher eine Irreführung als eine Erkenntnishilfe. Man sieht ein kugelförmiges Weltall und fragt sich unwillkürlich, was denn nun außerhalb dieses Weltalls ist. Aber der Relativitätstheorie nach gibt es kein Außerhalb, denn das Universum ist nicht kugelförmig. Ein gekrümmter Raum widerspricht unserem Raumempfinden und ist deshalb unvorstellbar.

»Vorstellen« bedeutet, vom Wortursprung her, etwas »vor sich stellen«, es damit anschaulich machen. Aber einen gekrümmten Raum kann man sich nicht anschaulich machen. Man kann nur gedanklich auf ihn schließen. Der englische Physiker Paul Davis schreibt, die Relativitätstheorie könne man erst dann verstehen, wenn man darauf verzichtet, sie sich anschaulich machen zu wollen. [99]

Ähnlich verhält es sich mit meinen verschiedenen Wirklichkeiten. Wenn man ausgehend von einem naiven oder auch kritischen Realismus bzw. Materialismus die uns umgebende raumzeitliche Wirklichkeit »und« alles was in ihr ist (die Wirklichkeit ist identisch und gleichzeitig nicht identisch mit ihren Inhalten) als ein auch unabhängig vom denkenden Betrachter existierendes objektives Faktum ansieht und nun versucht, neben diese Wirklichkeit noch eine andere, diese Wirklichkeit ausschließende Wirklichkeit zu stellen, dann ist dies unmöglich. Zwei sich gegenseitig ausschließende, unabhängig von uns existierende Wirklichkeiten kann man sich nicht gleichzeitig existierend vorstellen. Man kann nur gedanklich darauf schließen, dass es aus verschiedenen geistigen Blickwinkeln verschiedene, einander ausschließende Wirklichkeiten gibt, die gleichzeitig, oder zeitlos, vorhanden sind. Mehr nicht.


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IV. TEIL – MEIN MENSCHENBILD

15. Bedürfnisse und Gerechtigkeit

Der Mensch ist ein bedürftiges Wesen. Er will immer was. Er will sich ein Bedürfnis befriedigen. Er will einen bestimmten Zustand verändern oder erhalten, bzw. einen anderen Zustand erreichen oder vermeiden. Wenn es ihm gelingt, das, was er will, zu realisieren, dann empfindet er dies als gerecht, als gut. Gelingt es ihm nicht, empfindet er dies als ungerecht, als böse.

Die Bedürfnisse des Menschen sind nun aber recht vielfältig. Nur eine kleine Auswahl um dies zu verdeutlichen: Natürliche Bedürfnisse wie atmen, essen, trinken, Obdach, Kleidung, Sexualität; Bedürfnisse, die sich aus der Gesellschaftlichkeit des Menschen ergeben wie Liebe, Beachtung, Anerkennung, aber auch nach Macht über andere; Bedürfnisse kultureller Art, Unterhaltung, Sport; Geistige Bedürfnisse wie Kunst, Wissenschaft und Philosophie.

So wie der unkritische Mensch mit Selbstverständlichkeit davon ausgeht, dass die Welt so ist, wie er sie sich denkt, so geht er auch davon aus, dass seine Gerechtigkeitsauffassungen mit einer objektiv existierenden Gerechtigkeit übereinstimmen. (Dies geht meistens unbewusst vor sich.) Die meisten Menschen sind sich nicht bewusst, dass ihre Gerechtigkeitsauffassungen zumindest zu einem großen Teil das Produkt ihrer subjektiven Interessenslage sind, und dass andere Menschen auf Grund einer anderen Interessenslage auch andere Gerechtigkeitsauffassungen haben. Ob es überhaupt eine Gerechtigkeit unabhängig von wertenden Subjekten gibt, da bin ich sehr skeptisch. Und ob das eine Individuum mit seinen Gerechtigkeitsauffassungen mehr mit einer möglicherweise existierenden objektiven Gerechtigkeit übereinstimmt als ein anderes Individuum mit seinen, ist letztlich nicht feststellbar. [100]

Nun muss man allerdings, um Irrtümer zu vermeiden, noch folgendes hinzufügen: Die Menschen haben im Verlaufe ihrer Geschichte Gesetzeswerke, ethische Systeme u. ä. hervorgebracht, die aber zu den verschiedenen Zeiten und in den verschiedenen Kulturkreisen unterschiedlich sind. Die neugeborenen Menschen wachsen nun in eine bestimmte Gesellschaft hinein und verinnerlichen die dort herrschenden Wertvorstellungen. Im weiteren Leben werden sie nun Gut und Böse nicht nur an den natürlichen und individuellen Bedürfnissen messen, sondern auch an den verinnerlichten Wertvorstellungen.

Wie in Kapitel 1a kurz angesprochen, können Auffassungen, bzw. Wertvorstellungen aber auch gegen das Anerzogene, gegen die herrschenden Wertvorstellungen – jedenfalls gegen Teile davon – entstehen. Ansonsten ließe sich ja gar nicht erklären, warum wir überhaupt Wertvorstellungen haben. Irgendwann im Verlaufe der Evolution bzw. der Menschheitsgeschichte mussten diese Werte irgendwann erstmals entstanden sein. Es ließe sich ansonsten auch nicht erklären, warum sich die Wertvorstellungen im Verlaufe der Geschichte schon des Öfteren geändert haben. Wie in Kapitel 9 dargestellt, gehen die Werte eines Menschen aus seiner Natur, seiner Psyche, seinen Lebensumständen, seiner Vernunft und eventuell weiteren Ursachen hervor.

Die verinnerlichten und die selbst gebildeten Wertvorstellungen sind die Ideale (im ethischen Sinne), die ein Mensch hat. (In der Philosophie nennt man sie in der Regel »ethische Werte«.) Während Bedürfnisse auch schon Tiere haben, sind Ideale etwas originär menschliches. (Wobei es bei Tieren Vorformen geben kann.) Was Menschen für gerecht und ungerecht halten, hat also einerseits etwas zu tun mit ihren Bedürfnissen, oder, um ein anderes Wort zu verwenden, mit ihren Interessen, und mit ihren Idealen. D. h. ja nichts anderes, als dass zu den natürlichen und individuellen Bedürfnissen nun noch das Bedürfnis hinzutritt, sich an bestimmte Wertvorstellungen zu halten. Hätte der Mensch nur Interessen, bzw. würden seine Ideale völlig identisch mit seinen Interessen sein, dann ließe sich nicht erklären, warum Menschen, die satt sind, unglücklich darüber sind, dass andere, weit entfernt lebende Menschen, (ver)hungern, dass freie Menschen sich daran stören, dass andere Menschen unterdrückt werden. Es ließe sich dann auch nicht erklären, warum es so etwas wie ein »schlechtes Gewissen« gibt. (Genaueres weiter hinten.)

Der unmittelbar erlebte Inhalt des menschlichen Lebens ist der ständige Versuch Bedürfnisse zu befriedigen, und damit ist die Bedürfnisbefriedigung der unmittelbar erlebte Sinn des Lebens. Dass es darüber hinaus im Metaphysischen noch einen weiteren Sinn gibt, halte ich für möglich aber für unerkennbar.

Der Mensch ist besonders sensibel dafür, wenn ihm selbst ein Unrecht geschieht, d. h., wenn er sich selbst ein Bedürfnis nicht befriedigen kann. Da die meisten Menschen aber neben dem Egoismus auch noch Mitleid empfinden können, sind sie dazu in der Lage, es auch zu bemerken, wenn anderen Unrecht geschieht.

Dies hat allerdings seine Grenzen nicht nur im Egoismus, sondern auch darin, dass die meisten Menschen dazu neigen, nur die Bedürfnisse als natürlich, vernünftig oder moralisch vertretbar anzusehen, die auch sie empfinden, und Bedürfnisse, die sie selbst nicht haben, als falsch, überflüssig oder verwerflich zu betrachten. Die Unmöglichkeit solche Bedürfnisse zu befriedigen, wird dann auch nicht als Unrecht angesehen. (Z. B. betrachten es viele Frauen, besonders feministische, nicht als Unrecht, wenn Männer ihre sexuellen Bedürfnisse nicht befriedigen können.)

Es gibt aber auch eine ganze Menge von Bedürfnissen, auf die sich die große Mehrheit der Menschen als berechtigt einigen können, z. B. kein Krieg, keine Folter, kein Hunger. Und hier sind auch Möglichkeiten, die Welt immer etwas weniger ungerecht zu machen, als sie gerade ist. [101]

Am wenigsten sind die Menschen sensibel dafür, dass sie am Unrecht in der Welt nicht nur als Opfer, sondern auch als Täter teilhaben, dass sie durch eigenes Tun und Lassen mit dazu beitragen, dass andere Menschen sich Bedürfnisse nicht befriedigen können.

Die Menschen neigen dazu, sich mit denen zu vergleichen, denen es besser geht, oder von denen sie dies jedenfalls annehmen (was ja nicht unbedingt stimmen muss) und denken dann: »Dem geht es viel besser als mir, der hat viel mehr materiellen Reichtum, eine höhere gesellschaftliche Position, der hat die Frau, die ich doch so gerne haben wollte. Das ist ungerecht!«

Aber die Menschen neigen schon viel weniger dazu, sich mit denen zu vergleichen, denen es schlechter geht und zu fragen: »Wieso kann ich laufen, während der dort im Rollstuhl sitzen muss? Wieso bin ich satt, während diese kleinen Kinder (irgendwo in der 3. Welt) auf der Müllhalde Essensreste zusammenklauben müssen? Das ist doch ungerecht, dass es denen schlechter geht.«

Wenn man versucht, das ins Bewusstsein zu rücken, ohne den Anspruch zu erheben, es selbst besser zu machen, dann stößt man auf harten Widerstand. Wer so etwas macht, wird schnell in die Ecke gestellt, als ein von Schuldkomplexen und zu starkem Über-Ich gequälter Moraltheologe. (Wobei es mir ja gar nicht um eine Moralpredigt geht, sondern um die Einsicht, dass die Menschen sich mit einem solchen Verhalten nur selbst schaden.) [102]

Eine total gerechte Welt hätten wir dann, wenn jedes vorhandene Bedürfnis auch sofort befriedigt werden könnte. Eine solche Welt halte ich für unmöglich.

Die verschiedenen Menschen haben unterschiedliche und z. T. einander widersprechende Bedürfnisse. Es gibt Interessenskonflikte. Und bei Interessenskonflikten gibt es zwei Lösungsmöglichkeiten. Die Erste: Der Stärkere befriedigt sein Bedürfnis ohne Rücksicht auf den Schwächeren, was dieser dann als Unrecht empfinden wird. Dies ist die vorherrschende Lösung. Das einfachste und archaischste Beispiel ist, dass ein Lebewesen ein anderes Lebewesen frisst! Die zweite Lösung: Man findet einen Kompromiss. Beide Seiten lassen einen Teil ihrer Bedürfnisse unbefriedigt. Auf diese Weise geschieht beiden ein bisschen Recht und ein bisschen Unrecht.

Aber nicht nur zwischen den verschiedenen Menschen, auch innerhalb eines einzelnen Menschen gibt es verschiedene z. T. einander widersprechende Bedürfnisse. Viel Essen, viel Ruhe und gleichzeitig schlank sein, lässt sich schwer realisieren. In solchen Fällen kommt man nicht herum, sich für das eine und gegen das andere zu entscheiden, oder verschiedene Bedürfnisse nur teilweise zu befriedigen. Die Befriedigung eines Bedürfnisses kann auch im Widerspruch stehen zu dem Bedürfnis, sein Handeln an bestimmten ethische Werten zu orientieren. Befriedigt man sich das Bedürfnis trotzdem, entsteht ein »Schlechtes Gewissen«. Sowohl die Befriedigung als auch die Nichtbefriedigung des Bedürfnisses wird als Unrecht empfunden. So werden z. B. in der Phantasie erheblich mehr Menschen vergewaltigt als in der Realität. Viele Menschen leben ihre sexuellen Phantasien nicht aus, einerseits aus Angst vor Strafe und/oder gesellschaftlicher Ächtung, andererseits aber auch deswegen, weil das Mitleid mit dem Opfer, das man produzieren würde, stärker ist, als die sexuelle Gier.

Wenn sich der Mensch ein Bedürfnis befriedigt hat, entsteht ein neues. Unsere Bedürfnisse sind immer größer als unsere Möglichkeiten. Die Welt um uns herum, einschließlich der anderen Menschen, und die Welt in uns, unsere innere Widersprüchlichkeit und Unersättlichkeit setzt unserem Willen einen Widerstand entgegen, an dem wir uns unser Leben lang abarbeiten.

Es spricht viel für die dialektische These, dass nur dort etwas existiert, wo ein Gegensatz, wo ein Widerspruch vorhanden ist. Ein unbefriedigtes Bedürfnis ist ein solcher Widerspruch. Ich stehe deshalb auch der in einigen (fern)östlichen Philosophien und Religionen vorhandenen Auffassung skeptisch gegenüber, dass gerade die Ausschaltung jeglichen Wollens, jeglicher Bedürftigkeit das Ziel und die Erlösung sei. Wo kein Wille ist, ist kein Leben. Und mir ist es lieber, ein bedürftiges Wesen zu sein, als überhaupt nicht zu existieren.

Das Leben ist der ständige Versuch Bedürfnisse zu befriedigen und dies gelingt uns manchmal und manchmal nicht. Der Erfolg wird überhaupt erst dann erstrebenswert, wenn die Möglichkeit des Versagens besteht. Hätten wir von vornherein die Gewähr, dass unsere Wünsche in Erfüllung gehen, dann würde das Leben wahrscheinlich verdammt fade sein. [103]

Ein Mensch allerdings, der allzu viele und allzu starke Bedürfnisse nicht befriedigen kann, der wird die Lust am Leben verlieren.

Das Streben nach Bedürfnisbefriedigung sollte seine Grenzen nur dort haben, wo man anderen Leid zufügt. Jede andere Art der Begrenzung lehne ich ab.

In der Praxis wird es allerdings Grenzbereiche geben, bei denen es umstritten ist, ob eine bestimmte Art von Bedürfnisbefriedigung anderen Leid zufügt oder nicht und eine eindeutige Antwort wird nicht zu finden sein. Beispiele: Pornographie und Gewaltdarstellungen. [104]

Neben dem Streben nach Bedürfnisbefriedigung halte ich es aber auch für sinnvoll, wenn wir uns mal all unsere Bedürfnisse klarmachen und uns dann fragen, ob denn alle diese Bedürfnisse sein müssen, oder ob wir nicht einige davon im Interesse anderer aufgeben sollten.

Dass sich unsere Bedürfnisstruktur ändern kann, dafür folgendes Beispiel:

Ein kleines Mädchen spielt gern mit Puppen und kann sich gar nicht vorstellen, es jemals sein zu lassen. Aber nichts desto trotz hört es irgendwann auf damit. Nicht weil es in Zukunft darauf verzichtet, sondern weil es einfach drüber weg ist. Das Mädchen hat ein höheres Entwicklungsstadium erreicht.

Wenn man etwas nicht mehr macht, was man lange Zeit gemacht hat, dann muss das nicht notwendigerweise bedeuten, dass man in Zukunft darauf verzichtet. Es kann auch sein, dass das Bedürfnis verschwunden ist.

Wenn man aus seiner eigener Lebensgeschichte weiß, dass man frühere Bedürfnisse inzwischen nicht mehr hat, dann ist es doch nur noch ein Schritt sich vorzustellen, dass man auch von seinen gegenwärtigen Bedürfnissen, die man im Moment für unverzichtbar hält, in Zukunft manche nicht mehr haben wird.

Ein Beispiel aus meinem eigenen Leben: In der Zeit von 1969 bis 1989 habe ich geraucht und ca. zehnmal aufgehört. Leider habe ich nach einer gewissen Zeit wieder angefangen. Es war damals schwer für mich, aufs Rauchen zu verzichten. Inzwischen rauche ich seit über zwanzig Jahren nicht mehr. Im Gegensatz zu den ersten Jahren verzichte ich heute nicht mehr auf's Rauchen. Ich habe kein Bedürfnis mehr danach. Heute habe ich das Bedürfnis, keinen Zigarettenqualm riechen zu müssen.


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16. Gedanken über das Glück

Welche konkreten Bedürfnisse ein Mensch auch immer zu befriedigen versucht, ob er nun besonders viel Geld verdienen will, welchem der diversen Hobbys er nachgeht, ob er sich mit Wissenschaft, Kunst, Philosophie und Politik beschäftigt, welche materiellen Dinge er sich verschaffen will, welche beruflichen oder gesellschaftlichen Positionen er erreichen will, das Ziel ist letztlich immer das Gleiche: Er will glücklich sein! Das Ziel des Lebens ist die Gewinnung von Glück und die Vermeidung von Unglück. (Die Minderheit der Stoiker, Asketen und »Glücksverleugner« – zu diesem Begriff genaueres weiter hinten – klammere ich hier aus.)

Aber obwohl Milliarden Menschen all ihre Kraft, all ihre Fähigkeiten und all ihre Zeit für dieses Ziel einsetzen, sind die allermeisten Menschen in weniger oder stärkerem Maße unglücklich. Ich glaube, dass dies an zwei weitverbreiteten und einfach nicht totzukriegenden Irrtümern liegt.

Der erste Irrtum ist, dass auf die Dinge und Ereignisse der Außenwelt ein zu großer Wert gelegt wird.

Ereignisse und Dinge, die in uns ein Glücksgefühl erzeugen, nennen wir in der Umgangssprache »Glück«. Nun ist es allerdings so, dass ein bestimmtes Ding oder Ereignis, das bei mir Glück hervorruft, bei anderen Menschen nur Langeweile oder Unglück erzeugt. Die Ereignisse und Dinge der Außenwelt scheinen relativ zu sein. [105]

Aber die meisten Menschen wollen gerade mit den Dingen und Ereignissen Glück in sich erzeugen, die ihnen nicht zur Verfügung stehen. Sie rackern sich ab, um ein bestimmtes Ding oder eine bestimmte Position zu erreichen und verschieben ihr Glück auf später, wenn das Erstrebte erreicht ist.

Aber häufig erreichen sie das Erstrebte nie, weil sie sich überschätzt haben, oder sie erreichen es zwar, stellen dann aber fest, dass sie sich ganz falsche Vorstellungen gemacht haben und nun auch nicht glücklicher sind als vorher. Es kann auch sein, dass sie dann zwar eine Zeitlang damit glücklich sind, aber dann wird es zur Gewohnheit und sie gucken schon wieder woanders hin. (Weil immer neue Bedürfnisse entstehen.)

Dabei hätten sie sich nur mal bei den Menschen umsehen zu brauchen, die das Erstrebte bereits besaßen, und dann hätten sie sehen können, dass es dort genausoviel Glück und Unglück gibt wie bei ihnen selbst.

Sie verheizen ihr gegenwärtiges Ich im Interesse eines späteren Ichs und in der Regel völlig umsonst.

Damit will ich nun nicht propagieren, dass man auf jedes Streben, auf jede Anstrengung verzichten sollte. Man kann auch hier ins entgegengesetzte Extrem schlagen. Epikur hat schon das Wichtigste dazu gesagt: »Obwohl Lebensfreude unser erster und angeborener Reichtum ist, wählen wir doch nicht jeden Genuss, sondern entsagen sehr oft, wenn er ein größeres Unheil im Gefolge hat. Auch den Schmerz ziehen wir manchmal dem Vergnügen vor, wenn wir in ihm den Keim höherer Freuden entdecken.« [106]

Ich versuche mein Leben so zu gestalten, dass ich mit jedem einzelnen Schritt glücklich sein kann (was mir natürlich nicht immer gelingt), ohne deshalb auf jede Vorsorge oder jedes langfristige Ziel zu verzichten.

Gibt es ein autonomes oder autarkes Glück, das ich völlig losgelöst von der Außenwelt erreichen kann, so dass es völlig egal ist, welche Impulse von außen kommen, oder hat die Variabilität der Dinge und Ereignisse, mit denen ich Glück in mir hervorrufen kann, ihre Grenzen?

Soweit mein Erkenntnisvermögen reicht, bin ich als natürliches Wesen mindestens auf den Stoffwechsel mit der Natur angewiesen. Als geistiges Wesen stehe ich im Kommunikationsprozess mit anderen Menschen, indem ich ihre Ideen, Anregungen und Kritiken, die ich aus Büchern und Diskussionen kennen, verarbeite. Ich habe nicht das Bedürfnis, diese Kommunikation einzustellen.

Es scheint auch so zu sein, dass die Menschen sich im Verlaufe ihrer Sozialisation an bestimmte Umstände gewöhnen, auf die sie später nur noch begleitet von starken Unglücksgefühlen verzichten können. Wenn man Mitteleuropäern und Amazonasindianern zumuten würde, im jeweils anderen Lebensraum zu existieren und die dortigen Lebensgewohnheiten zu übernehmen, würde dies wahrscheinlich zum Tode der meisten führen.

Außerdem scheint ein Streben nach mehr, egal wie viel man hat, eine menschliche Eigenschaft zu sein, die unabhängig von seiner Sozialisation vorhanden ist. (Es entstehen halt immer wieder neue Bedürfnisse.) Und der Fortschritt der menschlichen Gesellschaft, der Wissenschaft und Technik hat wohl hier eine Ursache.

Ich glaube, dass es neben dem Natur- und Sozialisationsbedingtem besonders Mitmenschen sind, die wir mit Notwendigkeit brauchen, um glücklich sein zu können, Mitmenschen, von denen wir Liebe, Beachtung und Zuwendung bekommen. Des Weiteren die materiellen Voraussetzungen für die innere ethische, kulturelle, wissenschaftlich-philosophische Entwicklung. Ich glaube, dass sich hieraus ein viel intensiveres, bzw. ein qualitativ höheres Glück schöpfen lässt, als aus einem ständig steigenden materiellen Lebensstandard. [107]

Dabei geht es mir überhaupt nicht um die Propagierung einer asketischen Lebensweise. Es geht hier zuallererst einmal um eine Rangordnung. Und zweitens um die Einsicht, dass die Dinge und Ereignisse der Außenwelt, mit denen wir in uns Glücksgefühle erzeugen können, zu einem beträchtlichen Teil variabel sind. Sehr schön finde ich den Lao Tse zugeschriebenen Satz: »Liebt die Dinge der Welt, aber verliert euch nicht an sie.« Und Wolf Biermann hat das für unsere Zeit so formuliert: »Ja, Wohlstand wollen wir gern anstatt, dass uns am Ende der Wohlstand hat.« [108]

Es gibt aber auch die Auffassung, dass das größte Glück darin besteht oder damit hervorgerufen werden kann, dass man meditiert, sich in sich selbst versenkt, sich von der Außenwelt abkoppelt. Ich kann diese Auffassung nicht von vornherein verwerfen. Vielleicht werde ich es im weiteren Verlauf meines Lebens mal in diese Richtung hin versuchen. Aber im Moment habe ich dazu kein Bedürfnis.

Der zweite Irrtum bei der Glückssuche ist die Vorstellung, dass, wenn wir unser Streben nach Glück nur richtig anstellen, irgendwann das dauerhafte, nie mehr endende Glück eintrete, z. B. die große Liebe für das ganze Leben. (Und die Schlagertexter arbeiten ja auch zur Genüge daran, dass dieser Irrtum am Leben bleibt.)

Unsere Psyche scheint so eingerichtet zu sein, dass wir ständig zwischen Glück und Unglück, zwischen Hochgefühl und Niedergeschlagenheit, zwischen Freude und Schmerz (oder welche Wörter man dafür auch immer benutzen mag) hin und her schwanken. (Unsere Psyche ist eben auch etwas dialektisches.)

Die Welt um uns herum und die Welt in uns verändert sich ständig. Ein Ding oder ein Ereignis, aber auch eine Beziehung zu einem anderen Menschen, hat uns gestern noch glücklich gemacht, aber heute ist es uns schon langweilig und morgen finden wir es vielleicht zum Kotzen.

Wenn man sich das einmal klargemacht hat, wenn man weiß, dass man das Glück nicht festhalten kann, dann wird man auch nicht gleich in Panik ausbrechen, wenn man mal für einige Wochen oder Monate weniger glücklich oder unglücklich ist und man wird es als normal ansehen, dass gute und schlechte Tage einander abwechseln. Man wird sich dann darum bemühen, die augenblickliche Phase der Niedergeschlagenheit so schnell wie möglich zu überwinden, um in eine neue Glücksphase einzutreten, ohne die Illusion, diese nun verewigen zu können.

Aus der Tatsache, dass es kein dauerhaftes Glück gibt, aber nun den Schluss zu ziehen, dass das Streben nach Glück sinnlos sei, ja, dass es Glück gar nicht gäbe, hieße für mich, das Kind mit dem Bade auszuschütten. [109] Denn die Gefühle des Glücks und des Unglücks sind Teil meines unmittelbaren Erlebens und damit unbezweifelbare subjektive Realität.

Und noch eine wichtige Bemerkung zum Schluss: Schon gar nicht findet unser Glück in den Köpfen anderer Menschen statt! Was in den Köpfen anderer Menschen vor sich geht, können wir erstens gar nicht mit Sicherheit wissen (wir können nicht einmal wissen, ob da überhaupt etwas vor sich geht) und zweitens kann es unser Glück und Unglück nur soweit beeinflussen, wie es uns interessiert.

Aus meiner Überzeugung, dass sich aus den zwischenmenschlichen Beziehungen letztlich das intensivste Glück schöpfen lässt, ergibt sich nicht, dass man bei allen Menschen gut ankommen muss. Es reicht, wenn man um sich herum einen kleinen Kreis gleichgesinnter oder gefühlsmäßig eng verbundener Menschen hat und dem Rest der Menschheit gegenüber verhält man sich so, wie es der eigenen inneren Überzeugung entspricht, ohne ständig zu fragen, was denkt der andere, wenn ich dieses oder jenes tue oder lasse. [110] Nicht alle Menschen harmonieren miteinander. Es gibt auch zwischenmenschliche Beziehungen, aus denen für einige Teilnehmer mehr Unglück als Glück entsteht. Und solche zwischenmenschlichen Beziehungen sollte man dann beenden.

Nun habe ich allerdings das Problem, wie ich das theoretisch als richtig erkannte, auch in die Praxis umsetze. Denn es soll kein Leser glauben, dass ich mich zur Gänze so verhalte, wie es hier propagiert wird. (Über die Jahre betrachtet, habe ich allerdings den Eindruck, dass es mir Schritt für Schritt immer besser gelingt. Es gibt allerdings auch immer wieder Rückschläge.)

Die hier propagierten Einsichten befinden sich nämlich scheinbar nur in der sehr dünnen Schicht meiner bewussten Gedanken. Darunter scheint eine Welt von Trieben, Instinkten, im Verlaufe der Sozialisation Verinnerlichtem und im Laufe des Lebens entwickelter unbewusster Macken zu existieren. Dort sind diese Einsichten nicht! Sie sind dort noch nicht oder nur zu einem geringen Teil eingesickert. Aber dieses Unvernünftige, Unbewusste oder nur teilweise Bewusste beherrscht mich in einem nicht geringem Maße. Es treibt mich immer wieder zu einem Verhalten, das im Widerspruch zu dem steht, welches mir mein Verstand zur Realisierung der mir wichtigsten Bedürfnisse rät.

Dieser Bereich ist vernünftigen Einsichten vielleicht gar nicht zugänglich. Zur rationalen Einsicht sollte noch die Selbstsuggestion treten, z. B. durch Autogenes Training.


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17. Der Mensch als Egoist und Gemeinschaftswesen

Jeder Mensch ist ein Egoist und zwar in doppelter Hinsicht. Zu Beginn eine Erklärung, was ich unter primärem und sekundärem Egoismus verstehe.

Der »primäre Egoismus« resultiert daraus, dass jeder Mensch in der Welt seiner Erlebnisse gefangen ist. Jeder Mensch folgt in seinem Handeln seinem Willen, versucht seine Bedürfnisse zu realisieren und tut aus dieser Sicht alles für sich, nie für andere, auch wenn sein Handeln anderen nützt. Jeder Mensch tut grundsätzlich, erstens was er tun will, zweitens was er tun kann und drittens wofür er die Konsequenzen zu tragen bereit ist. (Die Konsequenzen werden allerdings häufig nicht vorausgesehen bzw. falsch eingeschätzt.) Dieser primäre Egoismus wäre nur überwindbar durch die Überwindung des Egos, durch die Auflösung der Einzelexistenz.

Es gibt Menschen, die mit ihrem Handeln anderen Menschen in extremster Weise auf die Nerven gehen und gleichzeitig noch große Dankbarkeit erwarten, z. B. eine Frau, die auch noch ihre erwachsenen Kinder bemuttert und sich in alle ihre Angelegenheiten einmischt. (»Was tue ich nicht alles für euch!« Quatsch! Für sich tut sie es.) Und das Gleiche gilt auch für viele Politiker und Menschheitsbefreier aller Schattierungen.

Der sekundäre Egoismus ist das, was man in der Umgangssprache unter Egoismus versteht, also ein Handeln, das einem selbst oder nur einem selbst nützt. Wenn ich das Wort »Egoismus« ohne Zusatz verwende, dann meine ich damit immer diesen sekundären Egoismus.

Neben dem Egoismus, dem puren Eigennutz, gibt es aber auch noch das Gemeinschaftsgefühl, das Mitleid, die Hilfsbereitschaft, die Solidarität mit anderen. Diese Gefühle beschränken sich allerdings in der Regel auf die engsten Angehörigen und Freunde. Gegenüber anderen Menschen sind diese Gefühle, von Mensch zu Mensch verschieden, schwächer, falls überhaupt vorhanden. (Tendenziell ist es so: Je weiter ein Mensch von uns entfernt ist, räumlich, zeitlich, ethnisch, familiär etc. desto gleichgültiger ist uns sein Schicksal.)

So kommt es z. B. des Öfteren vor, dass ältere Leute einen Großteil ihrer Rente oder ihrer Ersparnisse für ihre Enkelkinder ausgeben. Für die ärmsten und hilfsbedürftigsten Menschen bleibt es aber bei einigen kleinen Spenden zu Weihnachten oder im Zusammenhang mit Naturkatastrophen.

Es gibt wohl nur sehr wenige Menschen, die entweder völlig im Egoismus aufgehen oder sich völlig für andere aufopfern. Die allermeisten Menschen schwingen zwischen den Polen Egoismus und Gemeinschaftsgefühl.

Aus meiner Beobachtung des menschlichen Verhaltens, einschließlich meines eigenen, ziehe ich aber den Schluss, dass der sekundäre Egoismus und nicht das Gemeinschaftsgefühl das Verhalten der meisten Menschen dominiert. Zwei Beispiele:

1. In den Industrienationen haben die Menschen nicht nur genug von den lebensnotwendigen materiellen Dingen, sondern sie haben darüber hinaus viele Luxusgüter wie Autos, Fernseher, Ferienreisen usw. Zur gleichen Zeit leben hunderte Millionen Menschen in bitterster Armut und zig Millionen verhungern jedes Jahr oder gehen an vermeidbaren Krankheiten zu Grunde. Mit dem Geld, das ich z. B. für ein Buch oder eine CD ausgebe, könnte ich wahrscheinlich einem anderen Menschen das Leben retten. Aber ich tue es nicht. Der Egoismus ist in mir stärker als die Hilfsbereitschaft und das Elend ist weit weg und von daher kann ich es leichter verdrängen, als wenn direkt vor meiner Haustür jemand verhungern würde. Mit jedem Kauf eines Luxusgegenstandes verhalten wir uns in einer für andere Menschen tödlichen Weise egoistisch!

Aber die meisten Menschen, und unter ihnen gerade die sensibleren, linken, fortschrittlichen, können mit einer solchen Wahrheit nicht leben, weil sie zu starke Schuldgefühle erzeugen und damit ein glückliches Leben unmöglich machen würde.

Wer möchte schon, während er gerade lecker im Chinarestaurant isst, daran denken, dass zur gleichen Zeit kleine Kinder vor Hunger schreien? Welcher Linke, der mit seinem Auto zu einer Demo gegen die Ausbeutung der 3. Welt fährt, möchte daran denken, dass er mit dem Geld für sein Auto manches Elend in der 3. Welt beseitigen könnte? Welcher Christ möchte schon, wenn er auf der neuen elektronischen Heimorgel gerade einige Choräle spielt, daran denken, dass er mit dem Geld für diese Orgel viele Menschen vor dem Hungertod hätte retten können?

Anstatt sich zu ihrem Egoismus zu bekennen, suchen die meisten Menschen nach allerlei Ausflüchten, um sich über ihn hinwegzutäuschen. Eine besonders beliebte Methode ist, anderen, besonders reicheren, Egoismus vorzuwerfen. (»Zuerst sollen die doch mal!«) Aber verdrängte Wahrheiten sind immer der schlechteste Ausgangspunkt zur Verbesserung einer Situation.

2. Fast jeder Mensch möchte mit anderen Menschen zusammenleben und fast immer mit einem bestimmten Menschen sehr intim. Aber er will aus diesem Zusammenleben für sich das Beste herausholen. Er will auch nicht mit irgendeinem x-beliebigen Menschen zusammen sein, sondern mit solchen, von denen er sich ein Höchstmaß an persönlicher Befriedigung erwartet. Gemäß seinen Bedürfnissen und seinem Geschmack bewertet er seine Mitmenschen, z. B. nach der Attraktivität des Äußeren, nach Reichtum, Bildung, Benehmen und anderem und da es trotz aller Interessens- und Geschmacksunterschiede gewisse Gemeinsamkeiten bei allen Menschen gibt, bekommt jeder einzelne Mensch aus der Sicht seiner Mitmenschen einen gewissen Durchschnittswert und damit einen Platz in einer Rangordnung und d. h., dass auf diese Weise mehrwertige und minderwertige Menschen geschaffen werden.

Auch mit einer solchen Wahrheit können viele nicht leben. Einerseits die, die sich selbst dann zu den Minderwertigen zählen müssten (obwohl auch sie an der Schaffung mehrwertiger und minderwertiger Menschen beteiligt sind!), und andererseits die, denen es zu starke Schuldgefühle verursachen würde, wenn sie sich darüber im Klaren wären, dass sie ständig minderwertige Menschen schaffen. [111]

Es mag in Ordnung sein, wenn Psychotherapeuten in bestimmten Fällen ihren Patienten erzählen, dass es keine minderwertigen Menschen gibt, denn nicht jede Wahrheit ist jedem zumutbar. Aber häufig ist eine solch irrige Auffassung nur schädlich. In der Regel wird nämlich jeder Mensch nur den Partner und den Freundeskreis bekommen können, der auf der gleichen Höhe in der Wertskala steht wie er selbst. [112] Deshalb halte ich es für sinnvoller, dass der einzelne Mensch erkennt, welchen Wert er aus der Sicht seiner Mitmenschen hat und was er auf Grund seines Platzes in der Rangordnung erwarten kann. Aus persönlicher Erfahrung kann ich sagen, dass mir manches Unglück erspart geblieben wäre, wenn ich diese Erkenntnis früher gehabt hätte.

Hier ist auch ein Bereich, wo die Blindheit des Subjekts für sich selbst in besonders starkem Maße zuschlägt. Viele Menschen werden nämlich mit Vehemenz bestreiten, dass diese Beschreibung menschlichen Verhaltens auch für sie zutrifft, obwohl sie bei kritischer Prüfung feststellen könnten, dass sie es genauso machen. Aber die meisten Menschen nehmen es nur dann wahr oder halten es nur dann für ein Unrecht, wenn sie selbst verschmäht oder minderbewertet werden. Dass sie selbst verschmähen und abwerten, merken sie entweder gar nicht, oder sie halten es für völlig legitim.

Die Schaffung mehrwertiger und minderwertiger Menschen würde erst dann ein Ende haben, wenn die Menschen aufhören würden, sich untereinander zu bewerten. Aber dies wird wohl nie eintreten.

Die Menschheit teilt sich nicht etwa in Egoisten und Nichtegoisten, sondern sie teilt sich in solche, die sich ihres Egoismus bewusst sind und sich zu ihm bekennen (was ja nicht ausschließt, dass man daneben auch noch ein Gemeinschaftsgefühl hat, dass man daneben auch noch Mitleid und Hilfsbereitschaft empfinden kann), und in solche, die sich ihres Egoismus nicht bewusst sind und sich und anderen ständig etwas vormachen. Wenn zu mir jemand sagt: »Sei doch nicht so egoistisch«, dann gehe ich davon aus, das er mich für seine Egoismus einspannen will.


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NACHWORT 1999

Bei der Überarbeitung des Textes sind mir einige »Unebenheiten« aufgefallen, die mir in früheren Jahren nicht aufgefallen sind. Die Auffassungen, die ich in diesem Text darlege, sind über einen Zeitraum von zwei, drei Jahren entstanden. In dieser Zeit habe ich mich verändert. Manches, was ich am Ende dieses Zeitraumes gedacht habe, passt nicht so ganz zu dem, was ich am Anfang gedacht habe.

Der Beginn des 7. Kapitels ist ziemlich spät eingefügt worden. Das »allgemeine intellektuelle Niveau« taucht plötzlich unvermittelt auf. Dass man bestimmte Aussagen mit Sicherheit als falsch ausschließen kann, eben je nach dem, auf welchem »allgemeinen intellektuellen Niveau« man sich befindet, zu dieser Erkenntnis gelangte ich erst, als der Text schon zu großen Teilen fertig war. Ich hatte dieses »Ausschließungsverfahren« in Anlehnung an das poppersche »Falsifikationsprinzip« entwickelt.

Ebenso ist es mit der Erkenntnis, dass das Bewusstsein den Dingen selbst zukommt. Auch diese Erkenntnis hatte ich erst, als der Text zu großen Teilen bereits fertig war. Das machte eine Reihe von Umformulierungen nötig, die mich z. T. nicht befriedigen. Neben eigenen Erlebnissen hat hier die Philosophie Husserls einen Einfluss auf mich ausgeübt.

Dass es überhaupt etwas gibt, ist eine Positiv-Aussage und eine objektive Wahrheit. Das war zwar im Hinterkopf immer klar, ist aber erst relativ spät auch ausdrücklich erwähnt worden.

Das dialektische Verhältnis von Subjekt und Objekt und damit auch von subjektiver und objektiver Wahrheit ist nicht genügend durchdacht und dargestellt.

Das 9. Kapitel ist dass, was mich am wenigsten befriedigt. Vor 12 Jahren war mein Bedürfnis, den Nihilismus zu überwinden, noch stärker als heute. Deshalb habe ich krampfhaft versucht, etwas zu finden. Die Überwindung des Nihilismus ist rational nicht möglich, nur gefühlsmäßig.

Nun ist aber gerade das Kapitel über das Gefühl (1d) im Vergleich zu dem über den Verstand (1c) sehr kurz. Ich gestehe durchaus ein, dass es bei mir ein Gefühlsdefizit gibt.

Dies ist vielleicht auch der Grund dafür, dass ich zwar im Bereich des Wissens und der Ästhetik objektive Wahrheiten besitze, aber nicht im Bereich der Ethik. Da ich nach eigenem Bekunden ein »Gefühlsethiker« bin, kann ein Gefühlsdefizit solchen ethischen Relativismus nach sich ziehen.

Bei den meisten anderen Menschen gibt es dafür ein Vernunftsdefizit. Und das meiste Elend ist nicht aus Bösartigkeit, sondern aus Dummheit über die Menschen gebracht worden.

Da dieser Text eventuell auch von Leuten gelesen wird, die mich nicht kennen, möchte ich ausdrücklich betonen: Ich bin kein Mensch ohne Ethik! Aber ich habe nur subjektiv hergeleitete Ethik.

Mir ist auch aufgefallen, dass meine weitere Entwicklung in diesem Text schon vorgezeichnet ist:

Das Zitat von William James (7. Kapitel) hat auf meine weitere Entwicklung einen starken Einfluss gehabt und ist Grundlage für meine heutige Theorie von der Existenz bzw. der Möglichkeit höherer Welten.

In der Vorstellung der Stufenfolge der intellektuellen Niveaus und dem ständigen Bestreben, das nächst höhere Niveaus zu erreichen, liegt einer der Keime, der mich später die Auffassung von der Notwendigkeit der Entstehung Höherer Arten entwickeln ließ. (Neben der Auffassung, dass die Menschen wahrscheinlich nie ihre grundsätzlichen Probleme lösen, statt dessen sich eher ausrotten werden.)


NACHWORT 2001

Im Zusammenhang mit der Einrichtung meiner eigenen Domain im August 2001 habe ich diesen Text noch einmal zu großen Teilen gelesen und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass dieser Text mich viel egoistischer und ethisch relativistischer erscheinen lässt, als ich im praktischen Leben bin. Dieser Text ist in einem viel stärkeren Maße, als mir in früheren Jahren bewusst war, eine Reaktion auf die Naivitäten meiner christlichen Kindheit und meiner kommunistischen Jugendzeit.

Und unabhängig davon, was nun die Reflexionen über Skeptizismus, Solipsismus, Nihilismus oder die Spekulationen um einen Weltgeist oder einen BZ III (11. Kapitel) im Einzelnen auch wert sein mögen, eines hat dieser ganze Denkprozess auf jeden Fall bewirkt: Ich habe mir die Möglichkeit verschafft, über alles, was ich vorher für richtig gehalten bzw. erlebt habe, kritisch nachzudenken, undogmatischer zu werden und offen zu sein für Neues und von der Mehrheitsmeinung abweichendes. Ich habe mich im Alter von 33–35 Jahren völlig neu positioniert. Das machen die allermeisten Menschen in diesem Alter nicht mehr. Und darauf bin ich – das sage ich ohne falsche Bescheidenheit – irgendwie ein bisschen stolz.


NACHWORT 2003

Im Zusammenhang mit Diskussionen – besonders via Emails – lese ich immer mal wieder einzelne Kapitel und Anmerkungen (und setze neue Anmerkungen hinzu) und beim Vergleich mit den Gedanken anderer komme ich immer mehr zu der Auffassung, dass es eine außergewöhnliche Leistung war, dass ein Mensch mit meinen Startbedingungen einen solchen Text geschrieben hat. (Über meine Startbedingungen habe ich mich näher im Vorwort zur Internetfassung von 1999 geäußert. Und ausführlicher in Meinen Lebenserinnerungen.) Das sage ich auch, weil ich dazu übergehe, die Dinge aus der Perspektive des Endes meines Lebens zu beurteilen. Verglichen mit den Werken der großen Philosophen ist es wenig. Aber verglichen mit den Werken und Gedanken der vielen »kleinen« Philosophen, die es auch gibt und zu denen ich mich zähle, ist es so schlecht nicht. Von Menschen mit erheblich besseren Startbedingungen lese ich häufig erheblich schlechteres. Leider hat meine »praktische« Vernunft mit der »theoretischen« nie mithalten können. Aber das ist bei Philosophen sehr oft der Fall. [113]


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ANMERKUNGEN

Anm. 1: Als  »vorkritische Zeit« wird die Periode in Kants Leben bezeichnet, die der Erarbeitung der  Kritik der reinen Vernunft vorausging. Kant war auch in dieser Zeit bereits ein bedeutender philosophischer und naturwissenschaftlicher Schriftsteller. Zurück zum Haupttext

Anm. 2: Dann wäre ich nicht nur ein Genie, sondern ein Wunder gewesen! Woher hätten den solche Gedanken kommen sollen? Zurück zum Haupttext

Anm. 3: Das »philolex« ist eine aus vielen hundert Dateien bestehende philosophische Abhandlung, die man sowohl als Philosophielexikon als auch als eine Kleine Weltgeschichte der Philosophie ansehen kann. Zurück zum Haupttext

Anm. 4: Hätte ich diese Schrift nach einem intensiveren Studium der Gedanken der bedeutendsten 50–100 Philosophen geschrieben, wäre die Schrift an vielen Stellen tiefer und breiter gewesen. Es wären dann aber auch in beträchtlichem Maße nicht mehr meine eigenen Gedanken gewesen. Ich wäre nicht meinen eigenen Weg gegangen. Erst als ich diesen eigenen Weg gefunden hatte, fand ich viele meiner Auffassungen bei anderen Philosophen wieder, die diese Gedanken tiefer und breiter ausgearbeitet haben, als ich das konnte. Zurück zum Haupttext

Anm. 5: Die Hirnforschung hat inzwischen festgestellt, dass das menschliche Gehirn in den ersten 20 Lebensjahren sehr plastisch, formbar ist. Danach lässt die Formbarkeit merklich nach. Das Gehirn bleibt zwar formbar, aber der dafür erforderliche Druck muss größer werden. Dass viele Menschen ab ihren 20er Jahren zunehmend dogmatisch werden, könnte daran liegen, dass ihre Gehirne in besonderem Maße ihre Plastizität verloren haben. (Der Druck zur Formung seines Gehirns kann auch von einem selbst kommen!) Zurück zum Haupttext

Anm. 6: In »Knauers Großer Religionsführer« (Bellinger 1) sind 670 verschiedene Religionen, Kirchen und Kulte aufgeführt. (Die Literatur ist in der Literaturliste konkreter beschrieben.) Zurück zum Haupttext

Anm. 7: In meinem »philolex« habe ich alle diese Richtungen näher erläutert. Zurück zum Haupttext

Anm. 8: Früher habe ich geglaubt, je intelligenter man ist und je mehr man gelernt hat, desto größer ist automatisch auch die Anzahl der Wahrheiten, die man kennt und umso kleiner wird das Nichtwissen. Wenn dem aber so wäre, dann müssten sich ja die Leute, die jahrzehntelang gelernt und geforscht haben, nach und nach in ihren Auffassungen annähern. Dies ist aber nicht der Fall. Deshalb ist ein übertriebener Respekt vor großen Namen, vor den berühmten Philosophen, falsch. Auch unter gebildeten und intelligenten Menschen findet man häufig das Bedürfnis, sich an große Vorbilder anzulehnen. Aber in den Büchern der berühmten Philosophen findet man nicht mit Selbstverständlichkeit die Wahrheit, sondern man findet dort die Gedanken anderer Menschen. Diese Gedanken können sehr interessant sein, die Autoren dieser Bücher mögen über ein viel größeres intellektuelles Leistungsvermögen verfügen als man selbst, aber es gibt deshalb keine Gewähr dafür, dass sie mit ihren Auffassungen die Wahrheit oder zumindest Teilwahrheiten gefunden haben. – Außerdem: Wenn man seinen Kopf allzu sehr mit den Gedanken anderer vollstopft, dann besteht die Gefahr zu wenig eigene Gedanken zu entwickeln. Die Möglichkeit Vorurteile zu überwinden ist kleiner, die Gefahr, in vorgegebenen Bahnen zu denken, ist größer. Auf der anderen Seite gehen einem viele gute Anregungen verloren, wenn man zu wenig die Gedanken anderer kennen lernt. Man bewältigt vielleicht auch unnötig manche Gedankenarbeit, die andere vor einem schon bewältigt haben. Man muss, wie so oft im Leben, einen Mittelweg finden. Zurück zum Haupttext

Anm. 9: Wenn ich bekannte Schriftsteller, Philosophen und Wissenschaftler zitiere, dann mache ich dies lediglich zur Unterstützung eines bestimmten Teils meiner Auffassungen. Ich habe mich keiner anderen Person zur Gänze angeschlossen und ich kenne auch keine Person, die meine Auffassungen zur Gänze unterstützen würde. Zurück zum Haupttext

Anm. 10: Bryan Magee, »Kritischer Rationalismus – Gespräch mit Karl Popper« in Lührs 1, S. 59f. – Newtons Annahme eines absoluten Raumes, einer absoluten Zeit und einer absoluten Bewegung galt ca. 200 Jahre lang bei fast allen Naturwissenschaftlern als unumstößliche Wahrheit letzter Instanz. Allein der Gedanke, diese Thesen könnten falsch sein, wurde als indiskutabler Schwachsinn abgetan. Die  Relativitätstheorie Einsteins geht aus von der Relativität von Raum, Zeit und Bewegung. Und mit dieser Theorie lassen sich Erscheinungen im Kosmos besser erklären, als mit der Newtonschen Theorie. Zurück zum Haupttext

Anm. 11: Z. B. in der Wissenschaftszeitschrift P.M., Sonderheft »Perspektiven Weltall« (Aus den späten 80er Jahren. Dürfte heute nicht mehr erhältlich sein.) – Die meisten Menschen glauben das, was man ihnen sagt, was die anderen Menschen um sie herum auch glauben, was zu der jeweiligen Zeit und an dem jeweiligen Ort die offizielle oder Mehrheitsmeinung ist. In den zivilisierten Ländern glauben viele religiös nicht gebundene Menschen an populistisch verflachte »wissenschaftliche Weltbilder«, ohne dass sie die nötigen naturwissenschaftlichen und mathematischen Kenntnisse und Fähigkeiten besitzen, um diese Auffassungen intellektuell nachvollziehen zu können. Sie glauben an die Wissenschaft, wie die Menschen des Mittelalters an die Dogmen der katholischen Kirche geglaubt haben. Zurück zum Haupttext

Anm. 12: Im Internet gibt es viele weitere Beispiele für Sinnestäuschungen und Zweideutigkeiten. Zurück zum Haupttext

Anm. 13: Als Erwachsener empfindet man es in der Regel völlig unreflektiert als Selbstverständlichkeit, dass einem das Wort »TOR« etwas sagt. Wenn wir aber »TOR« sehen oder hören, dann nicht weil auch unabhängig von uns dieses »TOR« besteht, sondern weil wir einmal in unserer Kindheit die deutsche Sprache verstehen und lesen gelernt haben. Erläutern kann man dies anhand eines ganz simplen Vergleichs: Ein Russe, Araber oder Chinese, der nur seine Sprache und seine Schrift kennt, der erlebt beim Anblick von »TOR« ungefähr das, was Deutsche beim Anblick von »Þ¥µ« erleben. Die Angehörigen, der eben genannten Völker, wissen aber in der Regel, dass es Schrift gibt. Die werden sich sagen: »Das ist etwas in einer Sprache und Schrift, die mir nicht bekannt ist.« Aber der Amazonasindianer, der nicht einmal weiß, dass es sowas wie Schrift gibt, der erlebt beim Anblick von »TOR« schon wieder was ganz anderes. Wenn wir also »TOR« sehen, dann spiegeln wir nicht einen unabhängig von uns existierenden Tatbestand in unserem Bewusstsein wieder. Bestenfalls affiziert ein objektiver Tatbestand unsere Sinne und führt dazu, dass wir uns ein subjektives »Bild« machen. Ganz im Sinne  Kants. Aber der objektive Tatbestand, das »Ding an sich« ist schon eine Vermutung. Zurück zum Haupttext

Anm. 14: Für naturwissenschaftlich denkende Menschen heißt es ja sowieso Eulen nach Athen tragen, wenn man behauptet, die Welt, die wir um uns herum wahrnehmen, sei unser Produkt. Denn nach dem gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Erkenntnisstand (der natürlich falsch sein kann) sieht es folgendermaßen aus: Um uns herum existieren elektromagnetische Wellen der verschiedenen Frequenzen und verschiedenste Materieformen. (Die selbst wieder zu Materie geronnene Energie, also Bewegung sind.) Verschiedene Elementarteilchen bilden Atome der verschiedenen Art. Daraus bilden sich Moleküle in millionenfacher Vielfalt. Einige der um uns herum existierenden Strahlungen und Materieformen haben eine Wirkung auf unsere Sinne, andere nicht. Elektromagnetische Wellen einer bestimmten Frequenz lösen in unseren Augen chemische Prozesse aus, die bewirken, dass Elektronen über Nervenfasern ins Gehirn fließen. In Schwingungen geratene Luftmoleküle treffen auf unsere Trommelfelle und erzeugen ebenfalls Nervenimpulse. Ähnlich ist es bei Tast–, Geschmacks- und Geruchssinn. Unser Gehirn verarbeitet nun all diese eintreffenden Nervenimpulse zu der Welt, wie wir sie um uns herum wahrnehmen. Naturwissenschaftlich kann man also nicht einmal sagen, die für uns existierende Welt sei eine mögliche Anschauungsweise dessen, was unabhängig von uns existiert. Die Welt, die wir um uns herum wahrnehmen, ist, naturwissenschaftlich betrachtet, unabhängig von uns überhaupt nicht existent! Für viele Menschen ist das eine Allerweltsweisheit. Da ich zeitweilig ein Anhänger der marxistischen Philosophie war – und damit auch der  leninschen Widerspiegelungstheorie –, war es mir wichtig, zu erwähnen, dass wir eben nicht einfach nur die von uns unabhängige Welt in unserem Bewusstsein widerspiegeln. Die Behauptung, das Sein an sich sei möglicherweise ganz anders als wir meinen, die Behauptung, es kann um uns herum Dinge geben, von denen wir nichts wissen, weil sie auf unsere Sinne keine Wirkung haben und wir auch (zumindest bisher) nicht mit dem Verstand auf sie geschlossen haben, widerspricht nicht dem heutigen Erkenntnisstand der Naturwissenschaft. Zurück zum Haupttext

Anm. 15: Als ich dieses Kapitel schrieb, habe ich nicht vorher in verschiedenen philosophischen Lexika nachgeschlagen, wie dort »Denken« definiert wird. Ich habe aufgeschrieben, für welche meiner geistigen Tätigkeiten ich den Begriff Denken bewusst verwende. Eine systematische und umfassendere Darstellung, was »Denken« in der Philosophie bedeutet, steht im philolex-Artikel Denken. Zurück zum Haupttext

Anm. 16: Schwerkraft wird wissenschaftlich Gravitation genannt. Am häufigsten vertreten wird die Gravitationserklärung der  Allgemeinen Relativitätstheorie Einsteins. Diese ist aber nicht unumstritten. Es gibt viele alternative, konkurrierende Gravitationstheorien. Die Herkunft der Schwerkraft bzw. ob es sich überhaupt um eine Kraft handelt, ist also alles andere als eindeutig geklärt. Zurück zum Haupttext

Anm. 17: Einerseits sagt Kant, die Kausalität sei etwas, das die Menschen mit ihrem Denken in die Welt hineintragen, dort unabhängig vom Menschen nicht existiert. Andererseits leitet er aber die Existenz des  »Dings an sich« kausal her, indem er sagt, wenn wir Sinneswahrnehmungen haben, muss es auch etwas geben, das an unsere Sinne rührt. Siehe auch  Anmerkung 22 und diverse weitere Anmerkungen über Kant. Zurück zum Haupttext

Anm. 18: An dieser Stelle höre ich im Geiste die Religiösen triumphieren: »Haben wir doch schon immer gesagt, bestimmte Dinge kann der Verstand nicht begreifen. Dort müssen wir eben glauben.« Aber wenn wir an dieser Stelle anfangen wollen zu glauben, dann wissen wir noch nicht, an welche der hunderten von Religion wir glauben wollen. Und wir können uns auch noch hundert zusätzliche Religionen ausdenken. Zurück zum Haupttext

Anm. 19: Gedanken über den Traum und das Lesen von Büchern, in denen es um Träume und Halluzinationen geht, haben entscheidend dazu beigetragen, meine alten Sicherheiten zu zerstören. Empfehlen möchte ich auf jeden Fall den Roman von Stanislav Lem: Der Futurologische Kongress (Lem 1) und seine Kurzgeschichte über den Professor Corcoran in den Sterntagebüchern (Lem 2) S. 355–370. Zurück zum Haupttext

Anm. 20: Der philosophisch vorgebildete Leser wird hier vielleicht einwenden, dass Edmund Husserl auch noch das »Ich« hinwegzweifelt (bzw. »ausklammert«), und dass bei Robert Reininger im unmittelbaren Erleben gar kein »Ich« ist. Diese Standpunkte teile ich aber nicht, wie ich in den Aufsätzen zu diesen beiden Philosophen näher erläutert habe. Dass im  Buddhismus das »Ich« keine dauerhafte Existenz hat, dass  Hume dem »Ich« keine von den Erlebnissen, bzw. den Bewusstseinsinhalten unabhängige Existenz zugesteht, und dass das »Ich« bei vielen Sprachphilosophen und Poststrukturalisten ein reines Sprach- bzw. Zeichenprodukt ist, ist mit meiner Auffassung vereinbar. An der unmittelbaren Sicherheit der Existenz des Ichs in dem Moment, wo sich das Ich seiner bewusst wird, ändert das nichts. Auch Kant stellt die unmittelbare Gewissheit des Ich fest, auch wenn er dieses Ich anschließend dann theoretisch zerpflückt. Zurück zum Haupttext

Anm. 21: Der  tiefenpsychologisch vorgebildete Leser mag hier einwenden, dass wir auch vieles erleben, was uns nicht bewusst ist. Dies ist aber bereits eine Erklärung und damit letztlich eine Vermutung. Ich benutze das Wort »erleben« für das, was für mich bewusstseinsmäßig vorhanden und damit unbezweifelbar ist. Zurück zum Haupttext

Anm. 22: In Anspielung auf Kant: Ich kann nicht nur nichts über das  »Ding an sich« wissen, ich kann nicht einmal wissen, ob es das »Ding an sich« überhaupt gibt. (Eine Erkenntnis, zu der viele andere auch gekommen sind. Ein wichtiger Grundzug des Neukantianismus war der Verzicht auf das Ding an sich.) Wobei Kant ja merkwürdiger Weise nicht nur die Existenz des »Dings an sich« postuliert, sondern auch noch gleich sagt, was dieses »Ding an sich« alles nicht ist, nämlich nicht in Raum und Zeit und außerhalb von Kausalketten. (Es ist schon irreführend für so etwas überhaupt noch den Begriff »Ding« zu benutzen. Dann soll man doch gleich »Idee« sagen. – Ich sage allerdings auch: Es gibt »etwas«. Das ist eine objektive Wahrheit. (Näheres im 7. und 8. Kapitel.) Dass es »etwas« gibt, wird aber bei mir nicht kausal hergeleitet, sondern ist unmittelbares Erleben. Und ich mache auch keine Aussagen über das »etwas« (oder das »Sein«) wie Kant über das »Ding an sich«. Zurück zum Haupttext

Anm. 23: Später habe ich bei Spinoza. zu Beginn seines Hauptwerks Ethik genau den gleichen Gedanken wiedergefunden. (Spinoza 1, S. 23) Unbezweifelbar ist aber auch dies nicht, da ich nicht vom Denken auf das Sein schließen darf. – Wenn es einen Gott geben sollte, dann wäre er vielleicht der Schöpfer der Welt. Ein Teil des Seins (Gott) hätte einen anderen Teil des Seins (Welt und Menschen) geschaffen. Aber das Sein als Ganzes, zu dem Gott ja gehören würde, könnte nur aus sich selbst heraus sein. Wenn behauptet wird, es müsse einen Schöpfergott geben, weil sich ansonsten nicht die Existenz der Welt erklären ließe, dann verschiebt man das Problem nur um eine Station. Zurück zum Haupttext

Anm. 24: Das würde ich heute (2014) so nicht mehr schreiben. Zumindest müsste hinzugesetzt werden, dass, wenn diese Möglichkeit bestände, sie beinhaltet, dass man das gesamte moderne physikalische Weltbild dann in die Tonne treten müsste. Denn gerade der modernen Physik nach, gibt es zwischen der vom Menschen erlebten Welt und derem tatsächlichen Zustand überhaupt keine Ähnlichkeit. - Die marxistisch-leninistische Philosophie vertritt einen »Kritischen Realismus« (sie selbst nennt es  »Materialismus«), der zwar die Möglichkeit einer Täuschung der Sinne und des Verstandes einräumt, aber meint, dass durch die Zusammenarbeit aller Sinne mit dem Verstand und durch die Überprüfung unserer Erkenntnisse im praktischen Leben eine richtige Widerspiegelung der Welt in unserem Bewusstsein möglich ist. Da wende ich ein, dass ein Tier mit seinem »Wissen« in seinem praktischen Leben auch zurechtkommt, ohne dass sich die Welt in dem erschöpft, was dem Tier erkenntnismäßig zugänglich ist. Dieser Gedanke wird im Haupttext weiter unten noch genauer ausgeführt. Auch im philolex-Beitrag Evolutionäre Erkenntnistheorie habe ich mich mit diesem Thema näher beschäftigt. Zurück zum Haupttext

Anm. 25: Der 2. und der 3. Grundsatz ist selbst eine Erklärung und damit eine Vermutung, die ich mit Hilfe meines Verstandes erschlossen habe. – Dass die Ergebnisse der Mathematik ebenfalls nur Vermutungen sind, ist mir zwar unvorstellbar, aber nichts desto trotz ist es so. Einstein soll einmal auf die Frage, ob zwei mal zwei vier seien, geantwortet haben: »Ich bin mir nicht sicher.« »Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit.« So Einstein. – Kleine Anekdote am Rande: Auch Marx, den wohl keiner des Relativismus verdächtigen will, hat einmal auf die Frage nach dem Motto seines Lebens geantwortet: »De omnibus dubitandum!« (An allem ist zu zweifeln!) Siehe Marx Engels Werke, Band 31, S. 597. Er hat sich allerdings nicht daran gehalten, sondern war ein Absolutist reinsten Wassers. –  Descartes findet nach seinem radikalen Zweifel zur Sicherheit, dass die Welt auch unabhängig von seinem Denken existiert, nur dadurch zurück, dass er die Existenz Gottes »beweist« und gleichzeitig, dass dieser Gott kein Täuschergott sein kann. Wenn man Descartes in seinen Meditationen überzeugend findet bis zu dem Punkt, wo er nur noch weiß, dass er ein denkendes Etwas ist (und bis dort finde ich ihn sehr überzeugend), dann aber seine Gottesbeweise nicht teilt (und meines Wissens tut das heute fast keiner mehr), dann gibt es keinen Weg zurück zur Sicherheit, dass die Welt unabhängig von mir existiert. – Ich habe den Eindruck, dass Descartes es mit seinem Zweifel gar nicht ernst gemeint hat. Descartes hatte von Anfang an das Ziel, die Existenz Gottes und der Seele zu beweisen und zwar besser zu beweisen, als das die mittelalterliche Scholastik konnte. (Siehe unter anderem Rowohlt Monographie Descartes, Specht 1) Zurück zum Haupttext

Anm. 26: Seitdem ich die Erkenntnis habe, dass das Bewusstsein den Dinge selbst zukommt (Siehe 10. Kapitel), damit also auch dem menschlichen Körper des anderen, bin ich mit diesem Satz nicht mehr zufrieden. Ich habe aber bisher keine bessere Formulierung gefunden. Vielleicht: Ich kann das »Ich« des Anderen, seine Bewusstseinsinhalte nicht so unmittelbar erleben, wie mein »Ich« und meine Bewusstseinsinhalte. Deshalb kann ich keine Sicherheit darüber haben, ob es das andere »Ich« mit seinen Bewusstseinsinhalten überhaupt gibt. Zurück zum Haupttext

Anm. 27: In der Zeit, in der ich mich intensiv mit dem Solipsismusproblem beschäftigt hatte, das waren die Jahre 1986/87, Bibliotheken, Buchhandlungen und Fachzeitschriften durchforstete um zu sehen, ob der Solipsismus widerlegbar sei, da hatte ich folgendes Erlebnis: Ich war auf einer Party, in einem kleineren Saal. In der Mitte des Raumes tanzten etwa 20/30 Leute und ich stand am Rand mit einer Flasche Bier – wie das üblich war für mich – und sah mir das Ganze an. Neben mir stand ein älterer Herr mit weißen Haaren, und der sagte zu mir: »Sag mal, willst du im Ernst behaupten, dass die Leute, die hier tanzen, in Wirklichkeit alle gar nicht existieren, dass die alle nur Phantome sind?« Und das sagte er mit so einem moralischen Unterton. »Wie kannst du nur.« Und während ich darüber nachdachte, was ich ihm antworten könnte, wachte ich auf und lag im Bett. Und das ganze Tanzvergnügen einschließlich des älteren Herrn hatte sich in Luft aufgelöst. Der weißhaarige ältere Herr hatte sich als mein  Über-Ich entpuppt. Aber das kann sich täuschen. Auch das »Unwillkürliche Widerstreben«, das  Schopenhauer dem Solipsismus gegenüber empfand, reicht mir als Gegenargument nicht. Zurück zum Haupttext

Anm. 28: Ich halte den Glauben an einen allmächtigen und allwissenden Gott, der nach dem Tode belohnt oder bestraft, für einen naiven Kinderglauben. (Das ist nämlich der aus der Perspektive des Kindes allmächtige und allwissende Vater, der belohnt oder bestraft.) Aber selbst wenn es einen solchen Gott gäbe, gebe es dadurch keine objektiven ethischen Werte, sondern lediglich ein sehr mächtiges Subjekt, das nach eigenem Gutdünken entscheidet. Außerdem gibt auf dieser Welt so viel unnennbar und unzählbar Grausames, dass ein Wesen, welches dies alles verhindern könnte, es aber nicht tut, ein solch widerlicher Sadist wäre, dass ich ihm jedes Recht absprechen würde, über andere zu richten. – Denen, die nicht an Gott glauben, wird häufig vorgeworfen, sie würden den Menschen auch noch den letzten Trost nehmen. Aber wie sollte ich denn Trost schöpfen aus der Annahme, dass es einen allmächtigen und allwissenden Gott gibt, der so viel unnennbar und unzählbar Grausames zulässt? Eine solche Annahme wäre für mich eine Horror-Vorstellung! Trost kann man aus einer solchen Annahme nur schöpfen, wenn man vorher seinen Verstand abschaltet. Zurück zum Haupttext

Anm. 29:  Kant 2, S. 140. Im Zusammenhang mit meinem Versuch den Nihilismus zu überwinden (9. Kapitel –  Anmerkung 59) werde ich mich mit dieser Auffassung Kants näher auseinandersetzen. Zurück zum Haupttext

Anm. 30: Hierzu ist noch zu sagen, dass der Mensch nicht nur anderen Menschen, sondern auch anderen Lebewesen unaufzählbar viel Grausames antut. Alleine schon dadurch, dass wir Tiere schlachten, um sie zu essen oder Tierversuche in der Arzneimittelforschung betreiben. – Aber auch ohne den Menschen wäre die Welt immer noch grausam genug. In der Natur gibt es keine Humanität, sondern knallharten Darwinismus. Zusätzlich leiden Menschen und Tiere auch noch unter Naturkatastrophen. – Diese Grausamkeit entsteht aber erst in dem Moment und nur dort, wo leidensfähige Subjekte vorhanden sind, Wesen mit zumindest schwachen Bewusstseinsansätzen. Bedauernswert ist nicht die Materie, die sich verändert, sondern nur das Bewusstsein, das leidet. – Meine Auffassung, dass das Bewusstsein den Dingen selbst zukommt, bedeutet nicht, dass die Dinge »Selbstbewusstsein« sind. Ich behaupte nicht, dass ein Stein leidet, wenn er zerschlagen wird. Wohl auch nicht die Frucht, die gegessen wird. Aber das Säugetier, dass bei lebendigem Leibe zerrissen wird, leidet. Hier bewege ich mich aber in einen Bereich hinein, wo »Wissen« die Anerkennung bestimmter naturwissenschaftlicher Thesen voraussetzt. (»Schmerz setzt ein Nervensystem voraus.«) Im praktischen Leben gehe ich von der Richtigkeit dieser Thesen aus. Aber der philosophische Zweifel bleibt. – Eine kurze Anmerkung zum Thema Fleisch: Die Anerkennung der naturwissenschaftlichen Thesen beinhaltet auch, dass Fische, Geflügel, Rinder, Schweine und ähnliche Tiere kein in die Zukunft gerichtetes perspektivisches Bewusstsein haben, bzw. bei den Säugetieren ein solches nur in sehr bescheidenen Ansätzen vorhanden ist, die sich von den entsprechenden menschlichen Bewusstseinsformen qualitativ unterscheiden. Am ehesten könnte man bei in menschlicher Gesellschaft aufgewachsener und lebender Säugetieren, besonders aber bei Menschenaffen, solche Bewusstseinsformen annehmen. Hier ist eine Grauzone bzw. ein Übergangsfeld. Ich halte eine schmerzlose Tötung bestimmter Tierarten zwecks Ernährung anderer Lebewesen für ethisch vertretbar. Ich möchte als Fleischesser den Vegetariern nicht kampflos die höhere Ethik zugestehen. – Schopenhauer hat in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung aufgezeigt, was für eine Kette von Grausamkeiten die Weltgeschichte und das Leben überhaupt darstellt. Ich teile seine pessimistischen Konsequenzen daraus aber nicht, da man die bisherige Geschichte, sowohl die der Menschen wie die der Natur als notwendige Vorgeschichte einer glücklichen Zukunft ansehen kann. (Per aspera ad astra.) Und in vielen Punkten ist es auch schlicht eine Frage der inneren Einstellung, wie man mit unbefriedigten Bedürfnissen umgeht, ab wann man sich gelangweilt fühlt etc. Schopenhauer veranstaltet zuweilen eine mir nicht erträgliche Jammerei. Zurück zum Haupttext

Anm. 31: Die Auffassung von Protagoras ist hier mit den Worten Hans Joachim Störigs wiedergegeben. (Störig 1, S. 147) Der berühmtere Sokrates sagte zur gleichen Zeit: »Ich weiß, dass ich nichts weiß!« Dieser Satz enthält einen vermeidbaren Widerspruch. Sein Gegner Protagoras fand dort die bessere Formulierung. Zurück zum Haupttext

Anm. 32: Dass ich den Begriff Nihilismus ähnlich verwende wie Sartre, würde ich inzwischen so nicht mehr schreiben, weil es missverständlich ist. Sartre ist trotz seiner Behauptung, dass die menschliche Existenz absurd und sinnlos sei, ein sehr moralischer Mensch. Aber so wie ich Ethik aus meinen Gefühlen ableite, näheres dazu im 9. Kapitel, leitet nach meiner Überzeugung auch Sartre seine Ethik aus seinen Gefühlen ab, was er selbst auch immer gedacht haben mag. Aus seinen philosophischen Grundüberzeugungen ist keine Ethik stringent ableitbar. Zurück zum Haupttext

Anm. 33: Das 5. Kapitel war wie der gesamte 1. Teil dieses Textes ein Abschütteln von christlichen und kommunistischen Dogmen aus meiner Kindheit und Jugendzeit. In diesem Sinne stehe ich heute noch zu diesen Aussagen. Aber die gegenwärtige Dominanz des Egoismus, der bei sehr vielen Menschen alle überindividuellen Werte überflügelt hat und eine Ursache ist für den Sozialstaatsabbau, halte ich nicht für wünschenswert und nicht für unabwendbar. Ich erscheine hier viel egoistischer und nihilistischer als ich im praktischen Leben bin. Deshalb habe ich inzwischen fast schon Bedenken, dieses Kapitel zu veröffentlichen, da mancher Leser die hier vertretenen Auffassungen als Rechtfertigung für ein Verhalten ansehen könnte, dass nicht auf meine Zustimmung stößt. Besonders die Leser, die das 9. Kapitel nicht lesen, bzw. mit den dort vertretener Auffassungen nicht übereinstimmen. Aber ich halte mich und meine Texte nicht für so einflussreich, dass das Veröffentlichen oder Nichtveröffentlichen dieses Kapitels am gegenwärtigen Zustand viel ändert. Zurück zum Haupttext

Anm. 34: Hier vertrete ich fast die gleiche Auffassung wie  Augustinus, von dem ich ansonsten nichts halte, da er der Begründer des christlichen Dogmatismus' ist. – Nach  Kant ist die Zeit »reine Form unseres inneren Sinnes«, den Dingen, der Welt kommt sie nicht zu. Mit dieser Aussage überschreitet Kant nach meiner Auffassung die von ihm selbst gezogene Grenze des menschlichen Wissens über die »Welt an sich«. Aber als plausible philosophische Hypothese halte ich diese Aussage für gut. – Die Dynamik ist vielleicht nur subjektiv. Ich habe das Erleben, dass sich etwas bewegt, verändert. Aber denken kann ich mir auch, dass das, was ich als Dynamik erlebe, nur das Aneinanderhängen von statischen Bildern ist. (Im Film sind nur statische Bilder, die Dynamik erleben lassen.) Sind alle Zustände vielleicht gleichzeitig oder besser zeitlos vorhanden und nur in unterschiedlichen Erlebnisformen bewusst? Im 13. Kapitel, im Zusammenhang mit möglicher Präkognition, komme ich darauf noch einmal zurück. Wenn es so wäre, gäbe es Bewegung, Veränderung nur in meinem Bewusstsein. Dahinter könnte sich eine Sphäre unbewegter  »Dinge an sich« oder  »platonischer Ideen« oder ähnliches befinden. – Als ich zum ersten Mal die Urknall-Hypothese vernahm, da habe ich mich – wie die meisten anderen Menschen auch – gefragt, was denn vor dem Urknall war. Einen Beginn der Zeit konnte ich mir nicht vorstellen. Meine heutige Auffassung von der Zeit führt dazu, dass ich dieses Problem nicht mehr habe. Wo sich nichts bewegt, wo keine Aufeinanderfolge ist, ist die Zeit nicht nur nicht feststellbar (es bewegen sich ja auch keine Uhren), es gibt dann überhaupt keine Zeit, weil Zeit nur Aufeinanderfolge von Erlebnissen, bzw. Ereignissen ist. Für sich allein gibt es sie nicht. – Oder kann man auch hier eine dialektische Sicht haben? Die Zeit ist identisch und gleichzeitig nicht identisch mit der Aufeinanderfolge? So sehr mir das dialektische Denken gefällt, manchmal habe ich den Eindruck, das auch dieses Denken seine Grenzen hat. – Mir ist inzwischen auch oft entgegenhalten worden, Zeit sei in der modernen Physik die 4. Dimension. Nun sind wissenschaftliche Theorien für mich in letzter Instanz Vermutungen, die subjektiven Erlebnisse aber unbezweifelbar. Wie ist es denn mit folgendem Gedanken: Ohne Bewegung gäbe es die 4. Dimension nicht? Einstein, der die Zeit als 4. Dimension ansah, sagte auch: »Der Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist für uns Wissenschaftler eine Illusion, wenn auch eine hartnäckige.« Zurück zum Haupttext

Anm. 35: Ähnlich wie mit der Zeit ist es mit dem Raum. – Nach  Kant ist »Raum die Form, nach der uns alle Erscheinungen der äußeren Sinne gegeben werden«, den Dingen, der Welt kommt er nicht zu. Auch mit dieser Aussage überschreitet Kant nach meiner Auffassung die von ihm selbst gezogene Grenze des menschlichen Wissens über die »Welt an sich«. – Als ich zum ersten Mal die Hypothese vernahm, dass das Weltall grenzenlos aber endlich sei – da immer in sich zurückgekrümmt –, habe ich mich – wie die meisten anderen Menschen auch – gefragt, was denn nun außerhalb des Weltalls ist. Meine heutige Auffassung vom Raum führt dazu, dass ich dieses Problem nicht mehr habe. Wo keine materiellen Dinge sind, ist der Raum nicht nur nicht feststellbar, er ist nicht existent, da er nur in Form der Ausgedehntheit materieller Dinge und deren Nebeneinander existiert. Wie die Zeit ist er »An-sich« nichts. Und das gilt unabhängig von der Frage, ob der Raum etwas objektives ist, oder – wie Kant meint – etwas von uns in die Welt hineingetragenes. (Ich will aber nicht behaupten, dass meine Raumvorstellung mit der der Relativitätstheorie übereinstimmt.) – Oder ist auch hier eine dialektische Sicht sinnvoll? Der Raum ist identisch und gleichzeitig nicht identisch mit den in ihm befindlichen Dingen? Auch hier scheint die Dialektik an ihre Grenzen zu kommen. Zurück zum Haupttext

Anm. 36: Aus den Bewegungen und den Regelmäßigkeiten in diesen Bewegungen entsteht etwas, das es ohne Bewegung nicht gäbe. Wie in der Natur so in der Gesellschaft: Ohne Bewegung keine Existenz. – Für andere Philosophen sind Dinge wie Gesellschaft, Familie u. ä. Beziehungsgeflechte. Die Relationen schaffen letztlich alles. Ein interessanter Gedanke. Bewegung und ihre Regelmäßigkeiten sind für mich aber vorrangig. Zurück zum Haupttext

Anm. 37: Dieses Problem besteht nach dem 14. Kapitel sowieso nicht mehr. Denn dialektisch betrachtet sind Ich und Nicht-Ich, Subjekt und Objekt relative Begriffe. Ihre konkrete Bedeutung ist immer nur aus dem Zusammenhang ersichtlich. Zurück zum Haupttext

Anm. 38: Die Sprache ist aller Wahrscheinlichkeit nach entstanden, um im praktischen Leben mit anderen Menschen zu kommunizieren und gemeinsames praktisches Handeln zwecks Erreichung von Zielen zu ermöglichen. Nicht aber um mit ihr objektive Wahrheit zu erkennen. Einige Philosophen meinen, dass wir nur so viel erkennen können, wie unsere Sprache zulässt, z. B. Wittgenstein. – Zurück zum Haupttext

Anm. 39: Als ich diesen Text erstmals schrieb, war ich noch Student, bekam aber kein BAföG mehr. Mein einziges Einkommen kam aus Nebenjobs, die ich mir fast immer, wenn das Geld knapp wurde, neu suchen musste. Oft wusste ich nicht, wie ich in den nächsten Tagen Lebensmittel kaufen oder in der nächste Woche die Miete bezahlen sollte. In meinem Tagebuch aus dieser Zeit finden sich Eintragungen wie: »Ich habe noch 13 Pfennig und sieben Kilo Übergewicht«. Als ich mir aber Gedanken machte über die Grundgruppen meiner Erlebnisse und die negativen Gefühle, da habe ich »Sorge« und »Angst« schlicht und ergreifend vergessen. Das mag man mir als mangelnde Sensibilität, als eingeschränktes Erkenntnisvermögen auslegen. Es ist aber auch – mindestens genauso stark – ein Hinweis darauf, dass ich eine andere Mentalität, Gemütsverfassung und Lebenseinstellung habe, als  Kierkegaard,  Heidegger,  Sartre und andere Vertreter der AVTer-Philosophie. (Angst, Verzweiflung, Tod.) Mit diesen Philosophen und den mit ihren Namen verbundenen philosophischen Denkrichtungen hatte ich mich zu diesem Zeitpunkt noch nicht näher beschäftigt, sonst wären diese Gefühle erwähnt worden. Denn es ist ja nicht so, dass ich nie Angst hätte oder mir nie Sorgen machen würde. Aber diese Gefühle dermaßen in den Mittelpunkt des Philosophierens zu stellen, wie es die eben erwähnten Philosophen getan haben, das wäre mir nie eingefallen. – Zum Vergleich: Popper war in den 20er Jahren als junger Volksschullehrer sehr arm und er musste später immigrieren, da er als Jude und als konsequenter Verfechter von Demokratie und Toleranz von den Nazis umgebracht worden wäre. (Ein Problem, dass der sich so sehr sorgende Heidegger als »Arier« und NSDAP-Mitglied nicht hatte.) Trotzdem spielt auch in Poppers Philosophie Angst und Sorge bei weitem nicht die Rolle, wie bei den oben erwähnten Philosophen. Zurück zum Haupttext

Anm. 40: Das bezieht sich aber auch auf Wahrnehmungen, soweit diese in mir verschiedene Gefühle auslösen. Hiermit hängt auch zusammen, das Glück sowohl etwas Subjektives, wie etwas Objektives sein kann. (Näheres im 16. Kapitel.) – Es gibt die durchaus überlegenswerte These, dass der Mensch erst mit dem Leid wächst, dass das Leid, die Entsagung die Voraussetzung für die Erringung neuer Erkenntnisse und letztlich der Erlösung sei. Z. B. einige (fern)östliche Religionen (Buddhismus, Brahmanismus) sehen das so. Nach  Nietzsche führt nur Leid zur Erhöhung der Menschen. Auch die dialektische These, dass sich nur dort etwas bewegt, wo ein Widerspruch vorhanden ist, gehört hier her. Der Stoizismus fordert allen Ereignissen, sowohl den positiven wie den negativen, mit Leidenschaftslosigkeit und Gelassenheit zu begegnen. Ich lehne solche Auffassungen nicht grundsätzlich ab, aber ich bin bisher bei allen Überlegungen zu dem Ergebnis gekommen, dass ich es vorziehe,  Epikureer zu sein. Und die Epikureer sehen das Ziel des Lebens in der Erreichung von Lust und der Vermeidung von Unlust. Man sollte allerdings wissen, dass Epikur nicht, wie häufig angenommen, in einer hemmungslosen materiellen Bedürfnisbefriedigung den Sinn des Lebens sah. Für ihn war die höchste Stufe der Lust das philosophische Erkennen, ohne dass er deshalb die materielle Bedürfnisbefriedigung verschmähte. (Vorländer 1, S. 262ff) Zurück zum Haupttext

Anm. 41: Was die Kausalität anbetrifft bin ich einer Meinung mit Hume (mit dem ich noch viele andere Gemeinsamkeiten habe). Nach Hume können wir Substanz und Kausalität nicht wahrnehmen. Ein innerer Zwang führt uns dazu anzunehmen, dass es Substanz und Kausalität gibt. Wer dies aber verabsolutiert, behauptet mehr zu wissen, als er wissen kann. Kant, der von sich sagte, er sei von Hume aus seinem dogmatischen Schlummer geweckt worden, fällt mit seinem  »Ding an sich«, das er auch noch kausal herleitet, jedenfalls in diesem Punkt wieder hinter Hume zurück. – An dieser Stelle eine Anmerkung zum Problem der Willensfreiheit: Es ist in der Philosophiegeschichte häufig behauptet worden, die menschliche Willensfreiheit existiere in Wirklichkeit gar nicht, da jeder Mensch in Kausalketten eingebunden sei und zwangsweise so handeln muss, wie er handelt. Freiheit sei nur subjektiver Schein, da wir die Kausalketten nicht kennen, uns ihrer nicht bewusst seien. Eine solche Auffassung ist das Ergebnis eines unkritischen Schließens vom Denken auf das Sein. Es ist durchaus möglich, dass der Mensch mit seinem innersten, elementarsten, ursprünglichsten Kern in Seinssphären wurzelt, in denen die Kausalität nicht oder nicht durchgängig wirkt. Die Frage ob Willensfreiheit oder Determination ist nicht beantwortbar. Beides ist denkmöglich. Das unmittelbare Erleben ist auch hier die einzige Sicherheit. Und ich erlebe keine Kausalität, wenn ich mich für dieses oder jenes entscheide. – Die Heisenbergsche Unschärferelation will ich als Argument gegen die Kausalität nicht anführen, da es sich bei dieser These wohl um einen positivistischen Irrtum handelt. Wenn der Mensch im subatomaren Bereich die Kausalität nicht mehr feststellen, nicht mehr messen kann, dann bedeutet dies nicht automatisch, dass dort auch keine Kausalität ist. Da die Bestreiter der Willensfreiheit sich aber häufig auf die Naturwissenschaften berufen, ist es zumindest interessant und erwähnenswert, dass in der Quantenphysik und in der Chaosforschung nicht mehr von der durchgängige Determination aller Ereignisse ausgegangen wird. Zurück zum Haupttext

Anm. 42: Mir ist es allerdings mehrfach gelungen »Klarträume« hervorzurufen. Das bedeutet, dass einem während des Träumens bewusst wird, dass man träumt. Ohne dabei zu erwachen. Allerdings waren diese Ereignisse so selten und kurz, dass sie zu längerem Philosophieren über die Differenz zwischen Traum und Realität nicht ausreichten. Zurück zum Haupttext

Anm. 43: Erst nach dem Verfassen dieses Textes habe ich erfahren, dass Russell auch eine solche Einteilung hat, und von  »Wissen durch Bekanntschaft und Wissen durch Beschreibung« spricht. Zurück zum Haupttext

Anm. 44: Diese Aufzählung der wichtigsten Erlebnisgruppen ist wahrscheinlich nicht erschöpfend. Es ist durchaus möglich, dass ich hier einige wichtige Erlebnisgruppen vergessen habe. (Siehe  Anmerkung 39, »Sorge und Angst«.) – Ich hätte an dieser Stelle auch vieles weitere aufführen können, das ich bei anderen Philosophen gelesen habe, z. B. die  Urteilsformen und Kategorien Kants aus der »Kritik der reinen Vernunft« oder einige der »Existenzialien«  Heideggers aus »Sein und Zeit«. Aber dann hätte ich hier nicht mehr meine Philosophie wiedergegeben, sondern das, was andere erdacht haben. Und das will ich gerade nicht machen. In den philolex-Beiträgen zu diesen beiden Philosophen findet man darüber näheres.) Zurück zum Haupttext

Anm. 45: Auch hier habe ich im Nachhinein erfahren, dass es in der Philosophie eine ähnliche Position bereits gibt: Den Evidentialismus. Nach ihm ist es unvernünftig und falsch, an etwas zu glauben, das nicht entweder gut bewiesen oder offensichtlich richtig, d. h. »evident« ist. Russell, ein Vertreter des Evidentialismus, wurde einmal gefragt, was er sagen würde, wenn er nach seinem Tode einem Gott begegnen würde, der ihn fragen würde, warum er nicht an ihn geglaubt habe. Darauf antwortete Russell: »Zu wenig Evidenz, Gott. Einfach zu wenig Evidenz.« Mein Ausschließungsverfahren ist eine Art »negativer Evidentialismus«. Der »negativer Evidentialismus« wird in der Philosophie von fast allen Philosophen zur Grundlage gemacht, obwohl es diese erkenntnistheoretische Position meines Wissens nach gar nicht explizit gibt. Erkennbar ist das am Beispiel der Gottesbeweise. Es gibt Philosophen, die meinen, die Existenz Gottes sei beweisbar. Andere Philosophen bestreiten dies. Es gibt aber keinen Philosophen, der versucht die Existenz von Rumpelstilzchen zu beweisen. Solche Geschichten nimmt keiner ernst. Vielleich mit Ausname von Jean-François Lyotard – Dialektisch gesehen ist jede Negativ-Aussage im Umkehrschluss auch eine Positiv-Aussage. Zurück zum Haupttext

Anm. 46: Siehe den philolex-Beitrag zu  Platon. – Zurück zum Haupttext

Anm. 47: Siehe den philolex-Beitrag zu  Fromm. – Zurück zum Haupttext

Anm. 48: Siehe den philolex-Beitrag zu  Feuerbach. – Zurück zum Haupttext

Anm. 49: Auf zwei weitere meines Erachtens nach überlegenswerte Methoden objektive Wahrheiten zu erkennen, möchte ich noch kurz hinweisen. Die »Phänomenologische Methode« Husserls, die auch die Existentialisten verwenden und die »Philosophie der Wirklichkeitsnähe« von Reininger sind vom Ausgangspunkt her genau das, was ich möchte: Das unmittelbare Erleben zum Ausgangspunkt des Philosophierens machen. Im weiteren Verlauf kann ich dann allerdings mit diesen Philosophen in vielen Punkten nicht mehr übereinstimmen, wie ich in den philolex-Beiträgen zu ihnen näher erläutert habe. Zurück zum Haupttext

Anm. 50: Zitiert nach Störig 1, S. 568. Siehe auch den philolex-Beitrag zu William James. – Über die Beschränktheit des menschlichen Erkenntnisvermögens aus evolutionstheoretischer Sicht hat sich Hoimar von Ditfurth häufig geäußert, besonders kompakt im Kapitel Die Welt ist nach oben offen in seinem Buch Innenansichten eines Artgenossen. (Ditfurth 3) Er zeigte dort auf, dass wir eine Durchgangsphase der Evolution sind, und dass qualitative höhere intellektuelle Niveaus möglich sind, als die Menschen erreichen können. Das Kapitel endet mit der wichtigsten Aussage, die Ditfurth nach meiner Auffassung gemacht hat: »Vor allem aber möchte ich unterstreichen, dass mein Argument – die Erschließung neuer Welthorizonte im Falle einer evolutiven Weiterentwicklung über die bis heute biologisch verwirklichten kognitiven Funktionen hinaus – prinzipiellen Charakter hat: Es gilt völlig unabhängig von der Frage, ob es dazu auf diesem Planeten kommen wird. Wenn, das ist alles, was ich behaupte, uns haushoch überlegene Lebensformen die Welt betrachteten, dann würden sie mit ihren den unsrigen so weit überlegenen Erkenntnisapparaten jenseits der Grenzen des uns zugänglichen Weltbildes gewiss nicht auf lauter weiße Flecken stoßen, sondern auf Eigenschaften der objektiven Realität, die für uns unwahrnehmbar, unvorstellbar und unausdenkbar sind. Die Welt ist oberhalb der von uns erreichten Stufe der Erkenntnis nicht zu Ende. Sie ist nach oben offen. Die gegenteilige Annahme wäre Ausdruck anthropozentrischer Vermessenheit reinsten Wassers, vergleichbar nur mit dem jahrtausendelang die Köpfe der Menschen beherrschenden Wahn, sie befänden sich mit ihrer Erde im Mittelpunkt des ganzen Weltalls.« Zurück zum Haupttext

Anm. 51: Im Verlaufe der Geistes- und Wissenschaftsgeschichte ist es nicht nur vorgekommen, dass unbeantwortbare Fragen beantwortbar wurden, sondern es ist auch passiert, dass vor dem Hintergrund neuer Erkenntnisse unbeantwortbare Fragen sich als sinnlos herausgestellt haben. »How deep is the ocean? How high is the sky?« heißt es in einem alten amerikanischen Schlager. Die erste Frage ist inzwischen beantwortbar – wenn man sie präzisiert: Welcher Ozean an welcher Stelle. Die zweite Frage hat sich als sinnlos herausgestellt. (Für Leser, die kein oder nur wenig Englisch können: »Wie tief ist der Ozean? Wie hoch ist der Himmel?« Im Englischen gibt es für unser Wort »Himmel« zwei Wörter: 1. »sky« für den tatsächlichen Himmel über uns, das Blaue da oben. 2. »heaven« für den Himmel im religiösen Sinne.) Zurück zum Haupttext

Anm. 52: Diejenigen Radikalen Konstruktivisten, die davon ausgehen, dass unabhängig von ihnen nichts ist, haben genau das Problem, dass sie alle Kunstwerke, wissenschaftliche und philosophische Systeme etc. selbst schaffen, in dem Moment, wo sie Kenntnis von ihnen bekommen. Das ist nicht plausibel. Die Radikalen Konstruktivisten, die davon ausgehen, dass es eine objektive Realität gibt, ich aber nichts über sie wissen kann, umgehen dieses Problem, verstoßen damit aber gegen ihren eigenen Grundsatz. Sie machen Aussagen über die von ihnen unabhängige Realität. Zurück zum Haupttext

Anm. 53: Nach  Fichte setzt sich das Ich in einem vorbewussten Stadium ein Nicht-Ich entgegen, um einen Widerstand zu haben, an dem es tätig werden kann. Zurück zum Haupttext

Anm. 54: In der Frage der Welt (einschließlich der Zeit) und der anderen Menschen habe ich eine Position wie  Hume in den Fragen der Kausalität und der Substanz: Ich kann nicht wahrnehmen, dass die Welt unabhängig von mir existiert. Ich kann nicht wahrnehmen, dass mein Mitmensch wie ich ein bewusst erlebendes Subjekt ist. Ein innerer Zwang führt mich dazu, anzunehmen, dass die Welt unabhängig von mir existiert, und dass mein Mitmensch ein bewusst erlebendes Subjekt ist. Aber wenn ich dies verabsolutiere, dann behaupte ich mehr zu wissen, als ich wissen kann. Aber genauso wie Hume im praktischen Leben Substanz und Kausalität bestehen lässt, genauso lasse ich die Welt und die Mitmenschen im praktischen Leben als unabhängig von mir existierend bestehen. Und wer im praktischen Leben etwas anderes zu Grunde legt, der gehört, da bin ich ganz der Meinung Schopenhauers, ins Tollhaus. – An dieser Stelle ist mir des Öfteren die Frage gestellt worden (die man als Philosophierender sowieso häufig hört), wozu denn nun die ganze Gedankenakrobatik, diese intellektuelle Spielerei (oder Spinnerei), wenn sich bezogen auf das praktische Leben sowieso nichts ändert? Darauf antworte ich: 1. Eine Erkenntnis zu haben, muss nicht bedeuten, auch etwas von dieser Erkenntnis zu haben. Eine Erkenntnis hört nicht auf eine Erkenntnis zu sein, nur weil man im praktischen Leben nichts von ihr hat. (»Der Wissenschaftler findet seine Belohnung in dem, was Poincaré die Freude am Verstehen nennt, nicht in den Anwendungsmöglichkeiten seiner Erfindung.« Einstein) 2. Die Erkenntnis, dass vieles, was wir im täglichen Leben mit Selbstverständlichkeit als richtig voraussetzen, letztlich Vermutungen sind, hat aber durchaus eine praktische Bedeutung. Dogmatismus und Fanatismus haben weit mehr Elend über die Menschheit gebracht als Bösartigkeit. Die Erkenntnis vom Vermutungscharakter unseres Wissens kann davor schützen, ein philosophischer, religiöser, politischer oder sonstiger Fanatiker zu werden. Es kann Toleranz und Lernbereitschaft fördern. – Es gibt auch viele Menschen, besonders im naturwissenschaftlich-technischen Mittelbau trifft man solche häufig an, die ganz naturwüchsige  Materialisten oder Positivisten sind, sich aber ihrer Entscheidungen in erkenntnistheoretischen und philosophischen Fragen gar nicht bewusst sind, da sie sich mit Philosophie nicht auskennen. Häufig weigern sie sich sogar ausdrücklich, sich überhaupt mit Philosophie zu beschäftigen. Nicht, was völlig legitim wäre, weil es nicht ihr Interessensgebiet ist, sondern, weil sie meinen, Philosophie sei Kokolores, überflüssig. Statt an irgendwelche »Spekulationen und Spinnereien« halten sie sich an das, was »beweisbar« ist. Wer so denkt, dem halte ich entgegen: Vieles, was wir im praktischen Leben als richtig voraussetzen, ist in überhaupt keiner Weise beweisbar! Wir setzen es als richtig voraus, weil wir es als richtig voraussetzen wollen, in der Regel, weil wir es einfach so gewöhnt sind. Der »Tatsachensinn«, den viele (nur) naturwissenschaftlich-technisch denkende Menschen glauben den Philosophen vorauszuhaben, entpuppt sich so als mangelnde Sensibilität für die Tatsache, dass ihr Wissen zu einem beträchtlichen Teil aus Vermutungen besteht. Zurück zum Haupttext

Anm. 55: In diesen Zusammenhang möchte ich auch gleich erwähnen, warum mich Poppers Überwindung des Skeptizismus, trotz Ähnlichkeiten zu meinem Ausschließungsverfahren, nicht überzeugt. Popper meint, dass wir in einem Prozess der ständigen Fehlersuche versuchen sollten, unsere Theorien zu widerlegen, zu falsifizieren. Wenn wir eine Theorie falsifiziert haben, ersetzen wir sie durch eine neue, die den Fehler der alten Theorie vermeidet. Damit haben wir zwar keine Wahrheit, denn wir werden sofort versuchen, auch diese neue Theorie zu falsifizieren, was uns früher oder später wahrscheinlich auch gelingen wird, aber wir haben uns durch die Überwindung des Fehlers der Wahrheit angenähert. Poppers Antwort auf das Erkenntnisproblem: »Die Antwort ist nicht pessimistisch, relativistisch oder skeptisch: sie zeigt, dass wir von unseren Fehlern lernen können. Eine Annäherung an die Wahrheit ist möglich. Das war meine Antwort auf den erkenntnistheoretischen Pessimismus. Aber ich gebe auch eine Antwort auf den erkenntnistheoretischen Optimismus: Sicheres Wissen ist uns versagt. Unser Wissen ist ein kritisches Raten; ein Netz von Hypothesen, ein Gewebe von Vermutungen.« (Popper 5, S. XXV) – Ich sehe das nun so, dass die Tauglichkeit des Falsifikationsprozesses selbst schon nur eine relative und praktische Wahrheit ist. Auch der Falsifikationsprozess benötigt eine Basis oder einen Bezugsrahmen, deren Elemente ich bezweifeln könnte (z. B. die Richtigkeit meiner Erinnerungen und die Tauglichkeit meines Verstandes). Die Falsifikationsmethode ist im praktischen Leben und in vielen Wissenschaftsbereichen sehr wertvoll (und jedem Dogmatismus vorzuziehen, der nur das wahrnimmt, was seine Behauptungen verifiziert), aber durch die Falsifikation von relativen und praktischen Wahrheiten erlange ich keine Gewissheit, mich objektiver Wahrheit genähert zu haben. Wenn unser Wissen letztlich ein Gewebe von Vermutungen bleibt, dann kann ich auch nur vermuten, mich der Wahrheit angenähert zu haben. – Dass Falsifikation auch wiederum verifiziert werden muss, hat auch Popper später eingestanden. Das dialektische Verhältnis zwischen Verifikation und Falsifikation sieht Popper, wegen seiner allzu oberflächlichen Ablehnung der Dialektik, allerdings nicht. – Eine Annäherung an objektive Wahrheit ist nach meiner Auffassung nur möglich, wenn das Falsifikationsprinzip in abgewandelter Form in den Bereich der Philosophie und Religion übertragen wird. Dort wird aber nicht im wissenschaftlichen Sinne widerlegt, dort werden mit unmittelbarer Gewissheit Aussagen als naiv verworfen. Man lässt bestimmte Aussagen hinter sich, nach vorne aber ist es offen. Näheres im 2. Teil meines Essays  Gedanken zur Erkenntnistheorie. – Zurück zum Haupttext

Anm. 56: Beispiel: Jeden Morgen geht die Sonne auf und Abends geht sie unter. Für Milliarden von Menschen ein tausendfach erlebter Tatbestand. Grundlage für erfolgreiches praktisches Handeln. Daran Zweifel zu üben, ist für praktisch veranlagte Menschen »Dummes Zeug«. Ein Mensch, der hieraus eine absolute oder objektive Wahrheit macht, wird Probleme haben, wenn er nach Lappland kommt. (Im Zusammenhang mit der  buddhistischen Lehre von den niederen und den höheren Wahrheiten habe ich mich mit der Wahrheit des Sonnenauf- und -untergangs näher beschäftigt.) – Dass erfolgreiches Handeln kein Beweis für die Richtigkeit der diesem Handeln zu Grunde liegenden Vermutungen ist, habe ich im philolex-Beitrag Evolutionäre Erkenntnistheorie näher ausgeführt. Zurück zum Haupttext

Anm. 57: Die Rotverschiebung des Lichts entfernter Galaxien wird von einer Minderheit unter den Physikern als Ermüdung des Lichts gedeutet, nicht als Zeichen dafür, dass sich diese Galaxien von uns entfernen. – In früheren Fassungen dieses Textes stand hier, dass die Urknallhypothese ein moderner Schöpfungsmythos sei. Diese Behauptung halte ich aber inzwischen für falsch. Eine  Hypothese ist eine auf der Grundlage von Beobachtungen und Überlegungen (Empirie und Ratio) gebildete Vermutung. Sie wird auf der Basis von Indizien aufgestellt. Ein  Mythos wird »gebildet in der absichtslos dichtenden Sage«, wie D. F. Strauß es genannt hat. Der Mythos ist das Ergebnis des menschlichen Einbildungsvermögens, des fabulierenden Verstandes. Sowohl der Mythos wie die Hypothese können Wahrheit enthalten oder aber auch völlig neben den Tatsachen liegen. Aber schon auf Grund des unterschiedlichen Zustandekommens gibt es für Hypothese und Mythos völlig zu recht zwei verschiedene Wörter. Darüber hinaus ist das Aufstellen von Hypothesen eine höhere Erkenntnisart als das Erfinden von Mythen. Sonst wäre die Evolutionstheorie und das 1. Buch Mose tatsächlich qualitativ gleichwertig. In einigen Bundesstaaten der USA ist dies Grundlage der Bildungspolitik. Nach meiner Auffassung eine unzulässige Vermischung von Mittelalter und aufgeklärter Gegenwart. Zurück zum Haupttext

Anm. 58: Wenn Sokrates vom »Gott in meiner Brust« spricht, Platon über den Eros, die Liebe zur Idee des Guten vorstößt und wenn Aristoteles sagt, wir wüssten mit dem »Auge der Seele« um das Gute, dann sind dies lediglich andere Formulierung für  »Gefühlsethik«. In neuerer Zeit wird diese ethische Position  »Emotivismus« genannt. Zurück zum Haupttext

Anm. 59:  Kant behauptet, der Wille sei unmittelbar durch das moralische Gesetz bestimmbar. Das kann ich nicht nachvollziehen. Kants Grundgesetz der praktischen Vernunft lautet (wie im 5. Kapitel schon kurz angesprochen): »Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« (Kant 2, S. 140) Dieses Gesetz passe wegen seines bloß formalen Charakters auf jeden beliebigen Inhalt. Kann ich wollen, dass alle Menschen stehlen? Kann ich wollen, dass alle Menschen lügen? Das kann ich nicht wollen, also unterlasse auch ich es. Da frage ich dann: Kann ich wollen, dass alle Menschen Philosophieprofessoren werden? Kann ich natürlich nicht wollen, denn es sind für das Funktionieren einer arbeitsteiligen Gesellschaft auch noch andere Berufe nötig. Trotzdem werden einzelne Menschen Philosophieprofessoren. Kann ich wollen, dass alle Menschen Kaufleute oder Fabrikanten werden? Natürlich nicht. Denn es muss ja auch noch Leute geben, die die Lebensmittel herstellen, die wichtige Dienstleistungen erbringen. Ich kann nicht wollen, dass alle Menschen auf Kosten der Arbeit anderer Menschen leben, weil ich einsehen kann, dass das überhaupt nicht funktionieren würde. Trotzdem leben in der Realität viele Menschen auf Kosten anderer und dazu noch völlig legal. Und genauso kann ich nicht wollen, dass alle Menschen ständig und nur stehlen und lügen, weil ich erkennen kann, dass ein Zusammenleben in der Gesellschaft dann unmöglich würde und ich der Vorteile, die das Leben in der Gesellschaft mit sich bringt, verlustig gehen würde. D. h. aber nicht, dass ich nicht zum persönlichen Vorteil gelegentlich stehlen und lügen werde, wie die meisten anderen Menschen auch. So funktioniert die Welt. Ein gewisses Maß an Regelverstößen kann die Gesellschaft verkraften und muss sie auch verkraften können, weil wir eine Gesellschaft ohne Regelverstöße nicht haben und nicht bekommen werden. Der kantische kategorische Imperativ ist nichts anderes als der etwas intellektuell eingekleidete fromme, naive und weltfremde Spruch: »Was du nicht willst, das man dir tut, das füge auch keinem anderen zu.« Die legale Ausbeutung im Produktionsprozess und die legale Art der Gewinnmachung im Handel oder durch Spekulationen der verschiedensten Art ist auch eine Art Stehlen. Und bisher sind alle Versuche an Stelle solcher gesellschaftlicher Verhältnisse andere zu setzen, gescheitert. – Kant behauptet, dass er im Gegensatz zu anderen Philosophen kein Moralprinzip erfinde oder aufstelle, sondern lediglich das aufdecke, was jeder Mensch in sich selbst vorfinden könne, wenn er auf die Stimme seines Gewissen höre. Das bezweifle ich aber sehr. Das, was Kant »Gewissen« nennt, kann man auch als das ihm anerzogene  »Über-Ich« interpretieren. Andere Menschen, besonders die zu anderen Zeiten und in anderen Kulturkreisen aufgewachsen sind, aber auch Menschen, die einfach nur unter anderen Lebensumständen großgeworden sind, z. B. als Kinder armer Leute oder als Kinder von Kriminellen usw., werden in sich möglicherweise anderes vorfinden als Kant in sich vorfand. Für solche Menschen ist der kategorische Imperativ Kants eben doch eine von außen herangetragene Forderung. – Kant behauptet, die praktische Vernunft zwinge uns dazu, die Freiheit des Willens anzunehmen. Nicht etwa »Du sollst, denn du kannst!«, sondern »Du kannst, denn du sollst!« Wenn man davon ausgeht, dass der Mensch der Schöpfer der Naturgesetze ist, dass es in der Sphäre des »Dings an sich« keine Kausalität gibt, dann ist eine solche Einstellung folgerichtig. Die innere Konsistenz ist gewahrt. Trotzdem halte ich diese Einstellung für verrückt. – In Anlehnung an diese kantische Formulierung habe ich den Satz kreiert: »Du musst, denn Du willst!« Die letzten Ziele unseres Handels sind von unserem Willen gesetzt. Die Vernunft kann nur Teilziele festlegen. Die Vernunft kann mir z. B. nicht nur sagen. »Lebe!« Die Vernunft könnte mir auch sagen: »Sterbe! Dann hast du's hinter dir. Früher oder später stirbst du ja sowieso. Wozu die ganze Plagerei?« Ich will leben. Ich will bei guter Gesundheit ein hohes Alter erreichen. Wenn ich das aber will, dann muss ich bestimmte Dinge tun, die mein Verstand mir rät. So ist es auch mit anderen Zielen. Also nicht »Du kannst, denn Du sollst!« Auch nicht »Du sollst, denn Du kannst!« Nein. »Du musst, denn du willst!« Aber wenn du nicht willst, dann musst du auch nicht. Zurück zum Haupttext

Anm. 60: Bei dieser Auffassung bin ich auch stark beeinflusst worden von  Erich Fromm. In seinem Buch Die Seele des Menschen – Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen wendet er sich zwar gegen die sentimentale und gefährliche Auffassung, dass der Mensch von Natur aus gut sei und bezeichnet ihn als widersprüchliches Wesen, es ist aber auch erkennbar, dass er die Bedürfnisse nach Liebe, Produktivität u. ä. als die primären ansieht. Dies wird besonders deutlich an der Stelle, wo er sich mit der  Freudschen Theorie des Lebens- und Todestriebs beschäftigt. (Fromm 2, S. 189) – Die Menschen bilden in ihrer Kindheit eine psychische Struktur heraus, die ihnen zur 2. Natur wird und die später fast so schwer änderbar ist, wie die 1. Natur. Das kann dazu führen, dass Menschen, die alle Möglichkeiten haben sich primäre Bedürfnisse zu befriedigen, trotzdem sekundäre Bedürfnisse befriedigen. Sie sind in ihrer Kindheit so sehr kaputt gemacht worden, dass sie die primären Bedürfnisse nicht mehr als die primären empfinden können. – Wenn das, was ich »primäre Bedürfnisse« nenne, nicht bei den meisten Menschen tatsächlich primär wäre, dann ließe sich nicht erklären, warum es einen ethischen Fortschritt in der Geschichte gibt. – Die Dominanz der »primären Bedürfnisse« in einem Menschen schließen aber in keiner Weise aus, dass sich ein solcher Mensch sehr egoistisch verhalten kann. So soll das nicht verstanden werden! Man kann nämlich ganz egoistisch nach Befriedigung dieser Bedürfnisse streben, ohne viel darauf zu achten, ob andere Menschen sich diese Bedürfnisse auch befriedigen können. Insbesondere schließt die Dominanz der primären Bedürfnisse Konkurrenzkämpfe nicht aus. Im 17. Kapitel gehe ich auf den Egoismus näher ein. – Zu recht ist mir entgegnet worden, dass es ein Bedürfnis gibt, das noch vor den »primären Bedürfnissen« steht: Sich einfach im Sein zu behaupten, zu (über)leben. Und daraus leiten sich wieder konkrete Bedürfnisse ab, dass man atmet, isst, sich kleidet, Unterkunft hat etc. Mit Ausnahme der Luft zum Atmen mussten sich die Menschen die anderen lebensnotwendigen Dinge wie Nahrung, Kleidung, Unterkunft etc. erarbeiten, weshalb  Marx das Wesen des Menschen darin sieht, dass er arbeitet, dass er sein Leben produziert. Der Mensch produziert sein Leben aber nicht als Einzelgänger, sondern in der Gruppe. In der Regel brauchte der Mensch die Gruppe zum Überleben, bzw. in der Gruppe hatte er eine größere Chance zu überleben und sich fortzupflanzen. Das ist auch eine interessante Erklärungsmöglichkeit dafür, warum die Bedürfnisse nach Liebe, Geselligkeit und Produktivität die primären sind gegenüber Hass, Ungeselligkeit und Destruktivität. Zurück zum Haupttext

Anm. 61: Als das Problem des ethischen Relativismus zum ersten Mal in der abendländischen Philosophie in aller Schärfe aufgeworfen wurde, nämlich bei den Sophisten, da zeigte Sokrates fast gleichzeitig auch den einzigen Weg, diesen Relativismus zu überwinden. Sokrates, der in manchem den Sophisten glich, fühlte in sich eine Stimme (»Der Gott in meiner Brust.«), die ihn dazu trieb, das Gute zu tun und das Schlechte zu lassen. Wenn man einmal die Fragwürdigkeit aller angeblich objektiven Maßstäbe und aller von außen kommenden Forderungen erkannt hat, dann gibt es keinen anderen Weg mehr, als die Grundlagen seiner Ethik entweder in sich selbst zu finden, oder überhaupt keine zu haben. – Das Verhältnis der Vernunft zur Ethik ist ambivalent. Auf der einen Seite kann Vernunft nicht unmittelbar Ethik begründen, sie kann nicht entscheiden, ob ein bestimmter ethische Grundsatz bzw. eine bestimmte ethische Forderung richtig oder falsch ist. Ethische Grundsätze gehen immer aus dem Gefühl hervor. Auf der anderen Seite lässt sich nachweisen, je höher die Vernunft, die Bildung, das Einsichtsvermögen etc. in einem einzelnen Menschen oder in einer Menschengruppe entwickelt ist, umso höher ist tendenziell auch die Ethik dieses Menschen oder dieser Menschengruppe. (Lediglich tendenziell, weil rein zahlenmäßig viele Gegenbeispiele genannt werden können. Prozentual fallen diese aber nicht ins Gewicht.) Zwischen Vernunft und Ethik scheint es also einen Zusammenhang zu geben, wenn auch keinen unmittelbaren. Zurück zum Haupttext

Anm. 62: Wenn es lediglich ums Glück ginge, egal um welches, dann wäre der Mensch mit den geringsten und niedrigsten Bedürfnissen der potentiell glücklichste. So wie Woody Allen in seinem Film Die letzte Nacht des Boris Gruschenko über den Dorftrottel sagt: »Es ist leicht zufrieden zu sein, wenn das einzige Problem, das man hat, darin besteht, wohin man seine Spucke tropfen lässt.« Von Sokrates dagegen ist überliefert: »Ich bin lieber ein unglücklicher Sokrates als ein zufriedenes Schwein.« Ein Satz, mit dem ich mich voll identifizieren kann. – Das Streben nach Wahrheit und das Streben nach Glück müssen nicht notwendigerweise in Widerspruch zu einander stehen, schon alleine deshalb, weil man die Erkenntnis der Wahrheit als das höchste Glück ansehen kann. Dort allerdings, wo Wahrheit und Glück in Widerspruch zu einander geraten, dort entscheide ich mich für die Wahrheit und gegen das Glück. Zurück zum Haupttext

Anm. 63: Als mir klar wurde, dass ich die Menschen, die Millionen Juden vergast oder Atombomben auf Städte abwerfen ließen, nur von der Basis meiner subjektiven Bedürfnisse aus verurteilen kann, war dies zuallererst einmal ein Schock. Es war keine angenehme Erkenntnis. – In meinem ca. vier Jahre nach diesem Text geschriebenen Aufsatz  Gedanken zur Erkenntnistheorie habe ich die Behauptung aufgestellt, dass es eine Rangordnung der ästhetischen Anschauungen gibt, die eine überindividuelle Gültigkeit hat. Analog dazu müsste es wohl auch eine ethische Rangordnung geben, die eine überindividuelle Gültigkeit hat. Ich bin mir aber bis heute nicht sicher, ob das so ist. Zurück zum Haupttext

Anm. 64: Es gibt Philosophen und Schriftsteller, die meinen, ethische Werte, Gesetze, Menschenrechtskataloge u. ä. seien lediglich die Erfindungen der Schwachen und Minderwertigen, um damit die Starken und Fähigsten zu bändigen. Sie plädieren für das Recht des Stärkeren auch in der menschlichen Gesellschaft. (Z. B.  Heraklit, einige der Sophisten, De Sade, Stirner und Nietzsche.) In der Natur herrscht der Stärkste, es gibt dort kein Recht und kein Unrecht, keine Humanität, kein Mitleid usw. Aber wer soetwas auch für die menschliche Gesellschaft fordert, der reduziert den Menschen auf ein Tier! Der Mensch ist nicht nur ein Naturwesen. Er verfügt nicht nur über ein intensiveres Bewusstsein und eine höhere intellektuelle Leistungsfähigkeit als die Tiere, sondern er ist auch ein Kulturwesen. Er hat im Laufe der vergangenen Jahrtausende Gefühle wie Mitleid, Solidarität mit Schwächeren, Hilfsbereitschaft, Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft u. ä. entwickelt. Hervorragende Persönlichkeiten und Denker, die sich auf Grund ihrer Fähigkeiten durchaus auch erfolgreich für den knallharten Egoismus hätten entscheiden können (und nicht etwa die Schwachen und die Dummen), haben ethische Systeme begründet, Staatsverfassungen entwickelt etc. Und dies war keine Degeneration, sondern im Gegenteil eine außerordentliche und (jedenfalls für mich) unverzichtbare Kulturleistung. – Man sollte sich aber auch darüber im Klaren sein, dass der neugeborene Mensch noch kein Kulturwesen ist. Dazu wird er erst im Verlaufe seiner Sozialisation. Der Einzelne muss in seiner Entwicklung individuell das nachholen, was die Gattung Mensch in ihrer Kulturentwicklung hervorgebracht hat. Ich stehe deshalb der Auffassung, dass der Mensch von Natur aus gut sei sowie Vorstellungen von »antiautoritärer Erziehung«, äußerst skeptisch gegenüber. Da der Mensch trotz seiner Vernunft und seiner Kultur auch Naturwesen ist, besteht immer die Gefahr, dass das kulturell Erworbene wieder verloren geht. Die Verbrechen während der Nazizeit sind ein schrecklicher Beweis dafür, zu was Kulturnationen fähig sind! Außerdem hat kein Mensch eine selbstverständliche Pflicht, sich an kulturell hervorgebrachte ethische Werte zu halten. Zurück zum Haupttext

Anm. 65: Dieser Vergleich ist sehr naheliegend und wurde deshalb schon oft gestellt, z. B. von Karl Popper. Auch von Ernst Haeckel: »Die Früchte vom Baume der Erkenntnis sind es immer wert, dass man um ihretwillen das Paradies verliert.« Christen werden diesen Satz und diese Berichte natürlich anders interpretieren. Zurück zum Haupttext

Anm. 66: Einen ähnlichen Vergleich bringt auch Sartre. – Da mir inzwischen vorgeworfen wurde, ich hätte Sartre nicht richtig verstanden, möchte ich noch mal ausdrücklich darauf hinweisen, dass ich hier meine philosophischen Überzeugungen darlege, nicht die Sartres. Bei Sartre hat der Satz »Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt« eine andere Bedeutung als bei mir. Er lehnt es gerade ab, Freiheit als Bestimmungslosigkeit anzusehen. Ich hatte am Ende des 5. Kapitels schon einmal kurz darauf hingewiesen, dass ich im Unterschied zu Sartre Skeptizist bin. Sartre glaubt, beeinflusst durch die Phänomenologie Husserls, objektive Wahrheit erkennen zu können. »Zur Freiheit verurteilt« bedeutet bei mir, dass ich keine objektiven Maßstäbe für Ethik habe, und dass die subjektiven Maßstäbe unsicher sind, schwankend. Heute dominiere diese, morgen jene Gefühle. Und da ich Gefühlsethiker bin, ist meine Ethik von meinen Gefühlen anhängig. – »Als du die Wahrheit suchtest, wonach sehnte sich da dein Herz? Nach deinem Herren!« (Stirner 1, S. 397) Bei Max Stirner ist das Nichtwissen die Voraussetzung der Freiheit. – Ein Weg über die Vernunft, über die Kritik hinaus, darf Vernunft und Kritik nicht aufheben, nicht rückgängig, nicht vergessen machen. Ein solcher Weg muss Vernunft und Kritik irgendwie beinhalten, ohne sie als höchst mögliche geistige Tätigkeit anzusehen. Der Weg zur Wahrheit kann für mich nicht darin bestehen, dass ich alles Wissen, was ich mir in vierzig Jahren erarbeitet habe, einfach wieder vergesse oder für Null und Nichtig ansehe. Wissenschaft und Philosophie sind wahrscheinlich nicht die höchste geistige Aktivität, die im Sein möglich ist, aber jeder über die Wissenschaft und Philosophie hinausgehende Weg muss Wissenschaft und Philosophie berücksichtigen, muss Wissenschaft und Philosophie irgendwie umfassen. So wage die Ergebnisse von Wissenschaft und Philosophie auch sein mögen, wenn man einmal vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, wenn man einmal auf den Geschmack nach diesen Früchten gekommen ist, dann kann man sie nicht einfach wieder aufgeben und zur Einfalt des Kindes zurückkehren. Das können nur die, die Wissenschaft und Philosophie nie richtig kennengelernt haben, die ihren geistigen Wert nie erkannt haben. Zurück zum Haupttext

Anm. 67: Der philolex-Aufsatz Kritik des philosophischen Materialismus ist eine verkürzte Fassung dieses Kapitels. Zurück zum Haupttext

Anm. 68: Jede Energieart ist in jede andere Energieart umwandelbar, damit ist jede Materie in Bewegung auflösbar. – Auch Innerhalb der Naturwissenschaft ist die Existenz der Materie, und sogar der Energie, inzwischen zunehmend umstritten. Sehen Sie dazu Hans-Peter Dürr. Für ihn ist unterhalb von Materie und Energie reines schwingen. Absichtlich kleingeschrieben! Im Quantenbereich gäbe es nichts, was ein Substantiv rechtfertigen würde. – In der Physik ist Bewegung die Änderung des Ortes eines punktförmigen oder räumlich ausgedehnten Gebildes mit der Zeit. In der Philosophie bedeutet Bewegung mehr, nämlich jede Art von Veränderung. Die unterschiedliche Bedeutung des Begriffs »Bewegung« in der Physik und der Philosophie führt des Öfteren zu Missverständnissen. – Bei Hoimar von Ditfurth habe ich gelesen, dass implodierte Sonnen, sogenannte »Neutronensterne« oder »Schwarze Löcher« sich durch den Druck ihrer eigenen Schwerkraft immer mehr zusammenziehen. » ... der Neutronen-Stern zieht sich bis zu einem mathematischen Punkt, einem völligen Abstraktum, zusammen.« (Ditfurth 4, S. 280.) Und seine Materie verschwindet somit aus dem Universum. Diese Auffassung ist, wie ich inzwischen mehrfach zu hören bekommen habe, nicht unumstritten. Wenn man im Internet oder in populärwissenschaftlichen Zeitschriften liest oder in populärwissenschaftliche Fernsehsendungen etwas über Neutronensterne, Schwarze Löcher und die Zukunft des Universums sieht, bekommt man keine einheitliche Darstellung! Es gibt verschiedene astrophysikalische Theorien. Leider erwecken Professoren und Autoren häufig den Eindruck, die von ihnen vertretene Theorie sei die einzige, zumindest die einzig ernst zu nehmende. Welche Bedeutung den einzelnen Theorien zukommt, wie groß die Wahrscheinlichkeit ihrer Richtigkeit ist, kann und will ich nicht beurteilen. Dass das Universum aus dem Nichts gekommen ist, scheint die Mehrheitsmeinung zu sein, ist aber keineswegs unumstritten. Ob das Universum auch wieder verschwindet und wenn, auf welche Weise, ist ebenfalls umstritten. Aber schon die Vorstellung, dass das Universum aus dem Nichts entstanden ist, ist eine schlechte Grundlage für den Materialismus, unabhängig davon, ob es sich einst wieder im Nichts verflüchtigen wird. Zurück zum Haupttext

Anm. 69: Als  Marx und Engels im 19. Jahrhundert ihren dialektischen Materialismus begründeten, da war auch ihr Materiebegriff noch identisch mit dem Materiebegriff der Naturwissenschaft. Abgesehen von der Dialektik gründeten sie ihren  Materialismus auf die alten Griechen  Leukipp und Demokrit, den Begründern der Atomtheorie. Mit den neuen naturwissenschaftlichen Theorien konfrontiert hat  Lenin zu Beginn des 20. Jahrhunderts versucht, den Materialismus dadurch zu retten, dass er den Materiebegriff neu definierte. Für Lenin ist alles Materie, was nicht menschliches Bewusstsein ist, also auch elektromagnetische Felder, Strahlungen, aber auch Gesetzmäßigkeiten und alles was in Zukunft noch entdeckt werden sollte. So wollte Lenin erreichen, dass der Materiebegriff nie veralten kann. Damit hat er aber den Materiebegriff so weit gefasst, dass er jeden Erklärungswert verliert! Dieser Materiebegriff war faktisch die Bankrotterklärung des Materialismus! Wenn alles Materie ist, was nicht menschliches Bewusstsein ist, dann wäre ein Gott oder eine wie auch immer geartete geistige Ursache der Welt per Definition eben Materie. – Es gibt Religionen, z. B. der Brahmanismus, und philosophische Theorien, z. B. die von Meister Eckhart, Jacob Böhme und Spinoza, da wird das Ganze mit Gott gleichgesetzt. Aber ob man nun das Ganze »Gott« nennt oder »Materie«, dass macht inhaltlich keinen Unterschied mehr. Man rettet am Ende nur noch Wörter, aber nicht die damit ursprünglich mal verbundenen Weltanschauungen. Siehe hierzu auch  Anselms Gottesbeweis. – Schlimm war aber nicht nur, dass die Leninisten eine nicht haltbare philosophische These verabsolutierte. (Wo offene Diskussion möglich ist, sind philosophische Leninisten bestenfalls im Promillebereich vertreten.) Noch schlimmer war, dass man dort, wo sie die Macht hatten, keine andere philosophische Theorie vertreten durfte. Wer die leninistische Philosophie kritisierte, hatte mit Repressalien zu rechnen, z. B. Verweis von der Universität – d. h. Unmöglichkeit einer akademischen Laufbahn –, Gefängnis, während der Stalinzeit sogar Genickschuss. Zurück zum Haupttext

Anm. 70: In diesem Punkte bin ich einer Meinung mit  Henri Bergson. Die Entwicklung immer komplexerer Strukturen als Prozess blinden Zufalls, zufälliger Mutationen mit anschließenden Selektionen, wobei die Naturgesetze und die anderen Umweltbedingungen nur Auslesefaktoren, nicht aber auch gestaltende Faktoren sind, erscheint mir wie ein Wunderglaube. – Hoimar von Ditfurth hat zu Beginn des Buchs   Im Anfang war der Wasserstoff eine plausiblere Erklärung angeboten. Ditfurth ist in seiner Argumentation nach meinem Empfinden allerdings widersprüchlich. – Interessant in diesem Zusammenhang ist die in den letzten Jahren sich entwickelnde Epigenetik. – Die Gesetze, nach denen sich die Materie bewegt und sich mit anderer Materie verbindet, also die Naturgesetze, was für eine Existenz haben die? Sie existieren in der Form, in der sich die Materie bewegt, sind selbst aber keine Materie. Damit haben wir schon etwas immaterielles, lange bevor menschliches Bewusstsein auftauchte. Zurück zum Haupttext

Anm. 71: Hoimar von Ditfurth hat in seinem Buch Wir sind nicht nur von dieser Welt festgestellt, dass das Bewusstsein sich nicht aus einem evolutiven Druck heraus erklären lässt, denn es ist für das Funktionieren des menschlichen Körpers nicht notwendig. Alles, was Menschen machen, könnten sie ohne ein Wissen davon ebenso erledigen. Vieles in unserem Körper läuft sowieso unbewusst ab. (Ditfurth 2, S. 262–275) – Des Weiteren ist zu fragen, ob sich die Entwicklung eines Gehirns, dass zu höherer Mathematik in der Lage ist, aus einem evolutiven Druck erklären lässt. Das leuchtet mir nicht ein. (Siehe hierzu auch  Vaihingers »Allgemeines Gesetz der Überwucherung des Mittels über den Zweck«.) Zurück zum Haupttext

Anm. 72: Sehen Sie hierzu auch das  »Leibnizsche Mühlengleichnis«. – Zurück zum Haupttext

Anm. 73:  Descartes 1, S. 111f Zurück zum Haupttext

Anm. 74: Es wird seit einiger Zeit viel darüber diskutiert, ob ein Computer jemals denken wird wie ein Mensch. Wenn der Mensch primär ein physiochemischer Mechanismus ist, dann sehe ich überhaupt keine prinzipiellen Schranken dafür, soetwas ganz oder teilweise künstlich nachzuahmen. Die wirklich interessante Frage ist, ob ein Computer jemals ein sich wissendes Subjekt wird. Da ich aber nicht einmal mit Sicherheit feststellen kann, ob mein Mitmensch ein bewusst erlebendes Ich ist, werde ich dies auch nie von einem Computer wissen können. (Es ist ja schließlich kein Problem, meinen Computer so zu programmieren, dass er mir jedes Mal nach dem Anschalten erklärt, er sei sich gerade seiner Existenz bewusst geworden.) Zurück zum Haupttext

Anm. 75: An diesem Beispiel sieht man auch, dass Schläge, nicht nur auf den Hinterkopf, sondern auch auf die Finger, das Erkenntnisvermögen beträchtlich steigern können, was allerdings nicht als ein Plädoyer für die Prügelstrafe ausgelegt werden sollte ;-) Zurück zum Haupttext

Anm. 76: Die Erkenntnis, dass das Bewusstsein überall ist, war damals (1987) für mich eine atemberaubende, äußerst merkwürdige, zu Beginn sehr dubiose Erfahrung, bei der ich selbst Probleme hatte, sie ernst zu nehmen. Besonders wohl deshalb, weil ich, bevor ich  Agnostiker wurde,  Materialist war. Heute (2010) ist es für mich eine geradezu banale Tatsache. Bei vielen Menschen, besonders bei naturwissenschaftlich denkenden unreflektierten Materialisten und Positivisten, stößt man mit einer solchen Behauptung auf starken Widerspruch, bzw. man wird für eine solche Behauptung ausgelächelt. (Die klopfen einem auf die Schulter und sagen: »Jaaa, Indianerphilosophie, nä?«) Dabei ist eine solche Auffassung gerade aus naturwissenschaftlicher Sicht völlig folgerichtig. Wie in  Anmerkung 14 bereits näher ausgeführt, ist nach dem gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Erkenntnisstand die Welt, die wir erleben, nicht die von uns unabhängig existierende Welt, sondern unser Bild, dass wir uns auf Grund von Sinnesdaten in unserem Bewusstsein von dieser Welt machen. Und das im Bewusstsein erstellte Bild von der Welt ist – wie sollte es anders sein? – zur Gänze Bewusstsein. – Husserl und Reininger haben, wenn auch auf verschiedene Weise, aus der Tatsache, dass in unserem unmittelbaren Erleben die Welt außerhalb unseres Kopfes ist, den Schluss gezogen, dass damit die Existenz der Dinge unabhängig von uns bewiesen sei. Wäre dies aber ein unumstößlicher Beweis, dann wären auch die Dinge meiner Träume und anderer Halluzinationen als unabhängig von mir existierend bewiesen. – Wenn ich die Augen schließe und mir in Gedanken etwas vorstelle, dann tritt diese Vorstellung, je plastischer ich sie hinkriege, aus meinem Kopf aus, ist nicht in meinem Kopf, sondern vor mir, ganz im Wortsinne: vorstellen. – Das kann jeder selbst ausprobieren: Die Augen schließen und sich ein bestimmtes Bild vorstellen, z. B. eine Landschaft, einen Menschen oder ähnliches. Und dann darauf achten, was man unmittelbar erlebt. Man erlebt das Bild nicht in seinem Kopf. Man erlebt es vor sich. (Siehe hierzu auch Ditfurth 3, S. 241 – 250, Kapitel  Kopf und Kosmos.) – Welche Schlussfolgerungen man aus einem solchen Erlebnis zieht, ist eine weitere Frage. Das Erlebnis als solches finde ich aber schon sehr interessant. Bei Träumen und Halluzinationen passiert ja wohl nichts anderes. Und scheinbar passiert im Wachbewusstsein, in der Realität auch nichts anderes. Zurück zum Haupttext

Anm. 77: Auf die »Zufälligkeiten«, die ich im Haupttext erwähnt habe, bin ich im Verlaufe meines Philosophierens selber gestoßen. Es gibt weitere »Zufälligkeiten«, deren Kenntnis allerdings physikalisches Grundwissen voraussetzt und die ich später bei Hoimar von Ditfurth kennengelernt habe, »Zufälligkeiten«, ohne die nicht nur ich nicht entstanden wäre, sondern das Leben generell nicht. – Die Expansion des Universums durfte keine beliebige Geschwindigkeit haben. Eine zu langsame Ausdehnung hätte dazu geführt, dass schon früh die Gravitation die Oberhand gewonnen hätte und das Universum in sich zusammengestürzt wäre, bevor sich nennenswertes in ihm hätte entwickeln können. Eine zu starke Expansionsgeschwindigkeit hätte aber die Gravitation so überspielt, dass sich keine Sonnen hätten bilden können. Der Urknall hat dem Universum exakt den Schwung mitgegeben, der unsere Entstehung ermöglichte. – Die Schwerkraft ist um den Faktor 10 hoch 40 schwächer als die Kernbindungskräfte. Wäre die Schwerkraft weniger schwächer, dann hätten sich erheblich kurzlebigere Sonnen entwickelt, auf deren Planeten in der Kürze der Zeit keine molekulare und dann biotische Evolution hätte ablaufen können. – Würden die Kernbindungskräfte nur geringfügig oberhalb oder unterhalb dessen liegen, was die Physiker inzwischen als Naturkonstante registriert haben, wären nie die Fusionsprozesse in Gang gekommen, durch die in den Zentren der Sonnen die uns bekannten chemischen Elemente zusammengebacken wurden. – Ditfurth zitiert den Physiker Freeman Dyson mit den Worten: »Es ist fast so, als ob das Universum gewusst hätte, dass es uns eines Tages geben würde.« (Ditfurth 3, S. 239 – 241) – (Ich muss an dieser Stelle anmerken, dass ich später erfahren haben, dass diese Thesen Ditfurths in der Astrophysik und der theoretischen Physik nicht unumstritten sind. Zum Teil scheinen sie auch veraltet zu sein.) Die Erde hatte bei ihrer Entstehung einige Eigenschaften, die für die spätere Entwicklung von entscheidender Bedeutung waren: »Ein Sonnenabstand von 150 Millionen Kilometer. Eine Größe, welche infolge der aus ihr resultierenden Erwärmung die Entstehung eines metallischen Erdkerns ermöglichte. Ein Gehalt an radioaktiven Elementen, der zu dieser Erwärmung gerade so viel beitrug, dass die Bestandteile der Erdrinde zu einer zusammenhängenden Oberfläche verschmelzen konnten. Der andererseits aber doch so gering war, dass die hier entstehenden Verbindungen sich nicht durch zu starke Erhitzung wieder restlos in ihre Bestanteile auflösen.« (Ditfurth 1, S. 67) – Zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Erdgeschichte hat wahrscheinlich eine Kollision mit einem sehr großen Asteroiden stattgefunden, in deren Folge der Mond und der Urkontinent entstanden. Ohne diesen Zufall wäre die ganze zukünftige Entwicklung auf der Erde anders abgelaufen. Die Erde wäre wahrscheinlich gleichmäßig mit Wasser bedeckt. Auf ein paar kleinen Vulkaninseln hätte sich nicht die Vielfalt des Lebens entwickeln können, deren gegenwärtig höchstes Entwicklungsprodukt der Mensch ist. Der Mond bremst die Umdrehungsgeschwindigkeit der Erde. Dadurch wiederum schafft er das Magnetfeld, das uns vor dem Sonnenwind – sehr schnellen Materieteilchen – schützt. Das ständige Einwirken des Sonnenwindes würde dazu führen, dass die Mutationen so über Hand nähmen, dass keine Art mehr über längere Zeit hinweg existieren könnte. (Über die Entstehung des Magnetfeldes der Erde gibt es weitere Theorien. Auch solche, die den Mond nicht benötigen. Im Zusammenhang mit der Erklärung der Ursache für das irdische Magnetfeld bin ich leider mal wieder darauf reingefallen, eine von einem Autor vorgetragene Theorie für die Theorie zu halten.) Mit der Umdrehungsgeschwindigkeit der Erde hängen. auch die Windgeschwindigkeiten zusammen. Ohne den Mond wäre diese bis zu 500 km/h. Die Evolution des Lebens, besonders die außerhalb der Meere, wäre dann eine ganz andere gewesen. – Wenn man davon ausgeht, dass vieles von dem, was man »Ich« nennt, nicht zufällig entstanden ist, dann ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der Auffassung, dass man auch nicht zufällig in der Lebenssituation ist, in der man sich befindet. Die grundsätzlichen Rahmenbedingungen unseres Lebens waren vielleicht schon vor unserer Geburt festgelegt. Die Vorstellung einer ethischen Kausalität liegt dann nahe, wie in der indischen  Karma-Lehre. Dies ist aber eine Spekulation. Man sollte nicht in den Fehler verfallen, aus einer solchen Spekulation, oder etwas moderater ausgedrückt, aus dieser »Vermutung« eine unumstößliche Wahrheit zu machen, wie es leider bei Esoterikern Gang und Gäbe ist. Mit z. T. inhumanen Konsequenzen. Zurück zum Haupttext

Anm. 78: Die Welt und die Naturgesetze werden durch eine solche Sichtweise in unserem praktischen Leben um nichts unwirklicher! Auch die heutigen Theorien über die Struktur des Makro- und Mikrokosmos, über die subatomare, molekulare und biotische Evolution können durchaus richtig sein. Aber dies sagt noch nichts darüber aus, ob es sich hierbei um einen primär materiellen oder primär geistigen Prozess handelt. – Ob die Materie nur als Vorstellung des Geistes existiert oder – einmal geschaffen – auch unabhängig vom Geist, kann dialektisch betrachtet gleichermaßen mit Ja und Nein beantwortet werden. Näheres im 14. Kapitel. Zurück zum Haupttext

Anm. 79: Jedenfalls wäre dies eine plausiblere Erklärung als die, dass über dem sadistischen Irrenhaus Namens »Erde« ein allmächtiger, allwissender und gleichzeitig auch noch »lieber« Gott throne, wie die Christen glauben. (Sehen Sie hierzu auch  Über die Unschlüssigkeit des christlichen Gottesbildes.) Zurück zum Haupttext

Anm. 80: Der Mensch weiß von Gott in dem Sinne, dass Gott im Menschen von sich selber weiß. (Hegel) Aber Gott weiß im Menschen erst sehr wenig von sich. (»Du gleichst dem Geist, den Du begreifst.« Goethe)Im Rahmen einer hegelschen Denkweise wäre die menschliche Gattung nur ein Durchgangsstadium (oder ein Seitenarm) im Prozess der Rückkehr des Weltgeistes. Und sollten sich die Menschen ausrotten, bevor sie etwas höheres hervorgebracht haben, z. B. homöostatische intelligente Maschinen, dann wären sie tragischer Weise nur eine Sackgasse. (Diesen Gedanken habe ich später (1995) in meinem Aufsatz Höhere Arten und der Rückkehrprozess des Weltgeistes weiter ausgebaut.) Zurück zum Haupttext

Anm. 81: Ein Problem, das die  Cartesianer und  Okkasionalisten nur durch wirklich lächerliche Künsteleien lösen können. Descartes hatte da seine »Zirbeldrüse«, in der angeblich Geist und Materie miteinander in Verbindung treten. Und die Okkasionalisten behaupteten, dass Gott ständig an allen Ecken und Enden der Welt damit beschäftigt sei, die den geistigen Vorgängen angemessenen materiellen Bewegungen herbeizuführen. Zurück zum Haupttext

Anm. 82: Siehe z. B.  Leibnizsche Monadenlehre und Schellings Identitätsphilosophie. – Zurück zum Haupttext

Anm. 83: Diese vier Möglichkeiten sind vielleicht sogar alle Teilwahrheiten. Vielleicht kann man eine Synthese aus allen Möglichkeiten ziehen. – Weshalb mir eine idealistische Welterklärung plausibler ist als eine materialistische, fasse ich in folgenden vier Thesen zusammen: 1. Mir ist die Vielfalt und Zweckmäßigkeit der Welt, die scheinbare Gesetzmäßigkeit der Entwicklung von einfachen zu komplexeren Strukturen als bloßes Produkt von  Evolutionsdruck nicht vorstellbar. 2. Mir ist das Bewusstsein als Produkt toter, unbewusster Materie, nur weil diese sich zu einem informationsspeichernden und informationsverarbeitenden System organisiert hat, nicht vorstellbar. Dabei ist die Problematik des Materiebegriffs seit der Entwicklung der  Relativitätstheorie und der  Wellenmechanik noch nicht einmal berücksichtigt. 3. Mir ist meine eigene Existenz, und zwar meine bewusstseinsmäßige Existenz, gar nicht mal so sehr meine körperliche, als Produkt eines kosmischen Zufalls nicht vorstellbar. 4. In meinem unmittelbaren Erleben ist das Wissen um die Existenz der Dinge nicht in meinem Kopf, sondern dort, wo die Dinge sind. Ich habe den Eindruck, dass die Dinge selbst bereits Bewusstsein sind. (Was nicht bedeutet, dass sie Selbstbewusstsein sind.) – Ich möchte hier auch meine Argumente gegen eine rein naturwissenschaftliche Sicht der Welt zusammenfassen: 1. Die Naturwissenschaft kann nicht beweisen, dass das, was wir wahrnehmen oder denken, auch mit dem übereinstimmt, was unabhängig vom wahrnehmenden und denkenden Menschen existiert. 2. Die Naturwissenschaft kann nicht erklären, warum es überhaupt etwas gibt. 3. Die Naturwissenschaft kann nicht erklären, was sich bewegt, nachdem sich die Materie in Bewegung aufgelöst hat. 4. Die Naturwissenschaft kann nicht erklären, warum es überhaupt einen Urknall gegeben hat. (Vorausgesetzt natürlich, dass es ihn überhaupt gegeben hat.) 5. Die Naturwissenschaft mag plausible Argumente dafür haben, warum durch den Evolutionsdruck immer komplexere Materiestrukturen entstanden. Was sie aber nicht erklären kann, sind folgende Voraussetzungen für Evolution: 1. Warum hat die Materie überhaupt die Fähigkeit, sich mit anderer Materie zu verbinden? 2. Warum hat die Materie überhaupt das Bestreben, stabilere, längerlebige Strukturen zu bilden? (Hoimar von Ditfurth schreibt in seinem Buch Im Anfang war der Wasserstoff zu Beginn des  5. Kapitels: »Das Wasserstoffatom und die Naturgesetze sind kein Objekt möglicher Naturwissenschaft mehr. Sie sind, unvoreingenommen betrachtet, sichtbare Zeichen dafür, dass unsere Welt einen Ursprung hat, der nicht in ihr selbst liegen kann.«) Und wenn es auch aus Sicht der Evolutionstheorie kein Zufall sein mag, dass immer komplexere Materiestrukturen entstanden, so bleibt es doch ein ungeheuerlicher Zufall, dass gerade mein Körper, mein Gehirn entstand. 6. Die Naturwissenschaft kann nicht das Bewusstsein beobachten und sie kann nicht erklären, in welchem Verhältnis Materie und Bewusstsein zueinander stehen. 7. Das wissenschaftliche Weltbild unterliegt einer ständigen Wandlung. Wissenschaft ist ein Prozess, zu dem Beiträge geleistet werden, die diesen Prozess möglicherweise voranbringen, aber von denen man nie mit Sicherheit wissen kann, ob sie nicht in Zukunft wieder revidiert werden. – Dass Wissenschaft ein nie endender Prozess ist, hat schon Newton erkannt. Er schrieb: »Sein und Wissen ist ein uferloses Meer: Je weiter wir vordringen, um so unermesslicher dehnt sich aus, was noch vor uns liegt; jeder Triumph des Wissens schließt hundert Bekenntnisse des Nichtwissens in sich.« (Zitiert nach Störig 1, S. 347) – Auf die Geschichtlichkeit der Wissenschaft hat Pascal hingewiesen, indem er in der Auseinandersetzung mit den Cartesianern feststellte, dass die Erkenntnisse unserer Vorfahren, auch wenn wir sie zu beträchtlichen Teilen revidieren, deshalb nicht einfach nutzlos seien. Wir können nur über unsere Vorfahren hinaussehen, weil wir auf ihren Schultern stehen. Aber so wie wir vielfach über unsere Vorfahren hinausgehen, sagte Pascal, so werden unsere Nachfahren über uns hinausgehen. (Höffe 1, S. 330f) Zurück zum Haupttext

Anm. 84:  Epikur. Zitiert nach Vorländer 1, S. 264 Zurück zum Haupttext

Anm. 85: Seit Februar 2003 habe ich einen Tinnitus (Ohrenpfeifen) für den kein konsultierter Arzt eine Ursache finden kann. Ich stelle mir einfach vor, es sei der Wecker im BZ III. Zurück zum Haupttext

Anm. 86: Es ist auch eine bewusstseinsmäßige Fortexistenz möglich, in der kein Ich mehr vorhanden ist. Z. B. kommt es vor, dass sich ein Mensch so in eine schöne Landschaft versenkt, dass er danach sagt: »Ich (!) war ganz weg«. Sind wir uns denn überhaupt ununterbrochen unserer Existenz bewusst? Ist es nicht so, dass wir häufig in einer Tätigkeit so aufgehen, dass uns für diese Zeit unser Ich gar nicht bewusst ist? In vielen Religionen und Philosophien ist der Weltgeist oder die Weltvernunft überhaupt kein Subjekt, sondern ein Bewusstsein ohne Ich. Zurück zum Haupttext

Anm. 87: Bei dem Gedanken an die Wiedergeburt oder eine andersartige »ewige Existenz« wird einem schnell Wunschdenken vorgeworfen und oft ist dieser Vorwurf berechtigt. Bei näherem Hinsehen kann sich die »ewige Existenz« aber auch als Horror darstellen. Wer ewig existiert, erlebt ja nicht nur das Positive immer wieder, sondern auch das Negative. Und das Negative hat in der bisherigen Geschichte und Naturgeschichte – soweit unsere Kenntnis reicht jedenfalls – eindeutig überwogen. Es werden Menschen und andere Lebewesen tot gefoltert. Wenn man ewig existiert, dann passiert einem dies gelegentlich bzw. unendlich oft. ( Nietzsches ewige Wiederkehr.) Ist es etwa eine Wunschvorstellung tot gefoltert zu werden? Dort, wo der Glaube an die Wiedergeburt ein Teil der Religion ist, z. B. in Indien, wird die Wiedergeburt häufig gar nicht als positiv angesehen. Im Gegenteil! Wiedergeburt ist immer das Ergebnis unvergoltener Taten. Das Ziel ist gerade die Kette der Wiedergeburten zu beenden, die individuelle Existenz – die uns Europäern so wichtig ist, das wir ihr eine ewige Fortexistenz im Himmel andichten – zu überwinden und im Ganzen konturlos aufzugehen, wie ein Fluss im Ozean. (Siehe: Brahmanismus, Buddhismus.) Zurück zum Haupttext

Anm. 88:  Todesangst hat ihre Ursachen wahrscheinlich in unserer Natur. In früheren Zeiten war sie überlebensnotwendig. Zurück zum Haupttext

Anm. 89: Dies hat allerdings auch noch andere Gründe, die im 16. Kapitel und in den Anmerkungen  105 und  108 erläutert werden. Zurück zum Haupttext

Anm. 90: Es mag als inkonsequent erscheinen, dass ich hier das Wort »glaube« verwende, obwohl ich mich eben noch für das Denken und gegen den Glauben entschieden haben. Dies liegt aber lediglich an der Ungenauigkeit unserer Sprache. Wenn ich sage »ich glaube« ist es immer ersetzbar mit »ich halte für wahrscheinlich«. (Dies habe ich bereits im 8. Kapitel dargelegt.) Bei einem religiösen Menschen bedeutet Glaube aber sicheres Wissen. Zurück zum Haupttext

Anm. 91: Pantheistische Weltbilder haben entwickelt unter anderen: Der Neuplatoniker Plotin mit seiner Lehre vom »Ureinen«, aus dem alles hervorgegangen ist und in das alles zurückkehren wird. Der christliche Mystiker Meister Eckhart mit seiner These vom »unerschaffenen Seelenfünklein«. Er bekam gegen Ende seines Lebens Ärger mit der Inquisition. – Ähnlichkeiten zu ihm gibt es bei dem christlichen Mystiker Jakob Böhme. Am hervorragendsten sind die pantheistischen Systeme Spinozas und Hegels. – (Es ist mir bekannt, dass Hegel sich mehrfach vom Pantheismus abgegrenzt hat. Das ändert aber nichts daran, dass er faktisch eine pantheistische Philosophie entwickelt hat. Näheres in meinem Aufsatz über Hegel,  Absatz Pantheismus.) In religiöser Form ist der Pantheismus meines Wissens zum ersten Mal im indischen Brahmanismus entwickelt worden. Wie im Haupttext erwähnt, bin ich kein religiöser Mensch. Sollte ich es aber sein, so würde ich diese Religion der »jüdisch/christlich/islamischen Religionsgruppe« vorziehen. Zurück zum Haupttext

Anm. 92: Hegel meinte, die Logik seien die Gedanken Gottes vor der Schöpfung. Womit er allerdings nicht die  aristotelische Logik meinte, sondern seine eigene, die er durch die Dialektik erweiterte. (Wiedemann 1, S. 48) Zurück zum Haupttext

Anm. 93: Als ich diesen Text erstmals schrieb, besuchte ich gerade Vorlesungen und Seminare zur »Parapsychologie« an der Universität Freiburg i. Br. Bei den Mitarbeitern dieses Instituts handelte es sich um »Animisten«. D. h., sie bemühten sich darum, parapsychologische Phänomene naturwissenschaftlich zu erklären. (Animismus) Dagegen versuchen die »Spiritisten« solche Phänomene religiös-mystisch bzw. okkult zu erklären. Mit meinem dialektisch-idealistischen Erklärungsangebot bin ich nicht unbedingt auf Gegenliebe gestoßen. Zurück zum Haupttext

Anm. 94: In diesem Kapitel wird nicht erläutert, was in der Philosophie, in der Philosophiegeschichte und bei verschiedene Philosophen »Dialektik« bedeutet. (Sehen Sie dazu bitte den philolex-Beitrag »Dialektik«.) Mir geht es in diesem Kapitel darum, das an der Dialektik hervorzuheben, was ich für besonders wichtig halte: Die Widersprüchlichkeit und ständige Bewegung der Welt, und dass diese beiden Aspekte untrennbar zusammengehören. Zurück zum Haupttext

Anm. 95: Z. B. der von mir ansonsten sehr geschätzte  Karl Popper in einem Aufsatz »Was ist Dialektik« in Lührs 1, S. 167ff. Wenn Hegel glaubt, er habe mit seinem dialektischen Denken absolute Wahrheit über das Sein schlechthin erkannt, dann kritisiert Popper das zu recht. Aber Dialektik ist nicht auf das reduzierbar, was Popper in diesem Aufsatz angreift. Zurück zum Haupttext

Anm. 96: Außer  Heraklit sollen auch noch Nikolaus Cusanus und Jakob Böhme erwähnt werden, die schon vor Anbruch des deutschen Idealismus die Dialektik (im Sinne der Lehre von den Widersprüchen) wiederbelebt haben. Ich finde es immer wieder merkwürdig, dass in den meisten philosophischen Lexika bei der Erläuterung des Begriffs Dialektik diese drei Philosophen nicht genannt werden. Zurück zum Haupttext

Anm. 97: So wird es z. B. gesehen in der chinesischen Lehre von  Li und Ki. – Zurück zum Haupttext

Anm. 98: Sind die Gesetze der Dialektik selbst etwas, das außerhalb der dialektischen Relativität und Veränderung steht? Zurück zum Haupttext

Anm. 99: P.M. Magazin, Heft 2/1988 Zurück zum Haupttext

Anm. 100: An dieser Stelle eine Anmerkung zur »Theodizee«. Wie das Böse in die Welt kommt, ist für alle die Religionen und philosophischen Systeme ein kaum zu lösendes Problem, die eine Ursachen der Welt annehmen, die mit der Liebe oder dem höchsten Guten identisch ist (z. B. die Christen und die Neuplatoniker). Meine Antwort: Bedürftige Subjekte, die das Gelingen oder Misslingen ihrer Bedürfnisbefriedigung bewusst erleben und die das Gelingen gut und das Misslingen böse nennen. Das ist das Grundsätzliche. Gut und Böse ist immer eine Frage der subjektiven Wertung. Objektiv betrachtet scheint es weder gut noch böse zu geben. – In diesem Punkt bin ich von  Spinoza beeinflusst. Beachten sollte man aber, dass Spinoza zwischen wahren und unwahren Bedürfnissen unterscheidet, bzw. eine Rangordnung der Bedürfnisse kennt. Was die Menge nach diesem Grundsatz unter Gut und Böse verstehen würde, ist nicht identisch mit den Auffassungen Spinozas. – Das Böse, also unbefriedigte Bedürfnisse, ist eine Notwendigkeit, da es ohne Widersprüche (ein unbefriedigtes Bedürfnis ist nichts anderes als ein Widerspruch) keine Bewegung und ohne Bewegung keine Existenz gibt. (Genauso sieht es auch  Jacob Böhme.) Zurück zum Haupttext

Anm. 101: Interessant ist, dass es hier immer um die Abwesenheit bzw. Bekämpfung von Missständen geht. (Also auch hier ein Ausschließungsverfahren!) Die Menschen können sich viel leichter darauf einigen, was schlecht ist und von daher abgeschafft werden sollte, als darauf, was gut ist und von daher eingeführt werden sollte. – In diesem Punkt bin ich ganz einer Meinung mit  Karl Popper. Was die praktische Seite des Lebens anbetrifft, z. B. politische Strategien, halte ich sehr viel von ihm. Man kann im politischen Leben mit Karl Popper auf jeden Fall mehr anfangen als mit Karl Marx. (Dass Popper Platon und Hegel nicht mag, trennt mich allerdings von ihm.) Zurück zum Haupttext

Anm. 102: Es gibt unter Linken die weitverbreitete Auffassung, solange es den Kapitalisten besser geht als den Arbeitern, solange haben die Arbeiter keinen Grund Abstriche zu machen. Diese Ansicht ist häufig bewusst oder unbewusst mit der Auffassung verbunden, solange es einem Menschen besser geht als mir, solange brauche ich von dem, was ich habe, nichts abzugeben. Ich sage, solange es noch einen Menschen, noch ein bewusstes Wesen gibt, dem es schlechter geht als mir und dem es besser gehen könnte, wenn ich mich anders verhielte, solange habe ich keinen Grund mich moralisch über andere zu erheben. Und dabei geht es überhaupt nicht darum Schuldkomplexe zu schüren. Schuldkomplexe sind bei der Verbesserung der Welt ebenso störend wie verdrängte Wahrheiten. Es geht darum, dass jeder Mensch seinen Teil zum Elend in der Welt beiträgt und von daher auch jeder durch Verhaltensänderung mit zur Verbesserung der Welt beitragen könnte. Auf der anderen Seite sind die Menschen aber durchaus in unterschiedlich starkem Maße an dem Elend in der Welt schuld. Von daher ist es durchaus gerechtfertigt andere anzugreifen, Forderungen an sie zu stellen. Aber wer nur von anderen fordert (und die Erfüllung dieser Forderungen auch noch ihm selbst zugutekäme), wer glaubt, er täte bereits genug und von ihm könne man nicht mehr verlangen, der ist in Blindheit geschlagen, in die Blindheit des Subjekts für sich selbst. (»Der Edle stellt Anforderungen an sich selbst, der Gemeine stellt Anforderungen an die anderen Menschen.« Aus dem Buche Tschung Yung, dessen Inhalt dem Konfuzius zugeschrieben wird. Zitiert nach Störig 1, S. 109) Zurück zum Haupttext

Anm. 103: Dies ist mir besonders aufgefallen im Zusammenhang mit Computerspielen. Da ich etwas die Computersprache BASIC beherrsche, kann ich die Programme von Spielen, die in dieser Sprache geschrieben sind, so verändern, das ich leichter gewinnen kann oder sogar so, dass ich gar nicht mehr verlieren kann. Aber dann macht das Gewinnen keinen Spaß mehr. (Das ist schon einige Jahre her. Inzwischen gibt es meines Wissens so gut wie keine Spiele mehr, die in BASIC geschrieben sind.) Zurück zum Haupttext

Anm. 104: Der Grundsatz, dass das Streben nach Bedürfnisbefriedigung seine Grenzen nur dort haben soll – und muss! –, wo man anderen Leid zufügt, kann ins absurde überspitzt werden. Dafür zwei Beispiel: 1. Es gibt Menschen, die mögen keine Meeresfrüchte, sie ekeln sich bei dem Gedanken, so etwas zu essen. Okay! Dann soll sie auch keiner dazu zwingen. Einige dieser Menschen mögen es auch nicht, wenn in ihrer Gegenwart jemand so etwas isst. Dort wird es schon kritisch. Aber selbst darauf könnte man eventuell noch Rücksicht nehmen. Es gibt aber auch Menschen, die schon bei dem Gedanken, dass irgendwo auf der Welt Menschen Meeresfrüchte essen, sich nicht mehr beruhigen können. Würde man nun daraus die Konsequenz ziehen, Meeresfrüchte als Nahrungsmittel abzuschaffen, dann wäre dies absurd. 2. Nehmen wir an, da gibt es einen Satanskult, deren Mitglieder das Bedürfnis haben, im Rahmen eines Rituals Menschen umzubringen oder selbst umgebracht zu werden. Sie losen unter sich aus, wer als nächstes dran ist, und derjenige, den das Los getroffen hat, erklärt – notariell abgesichert –, dass er als Masochist sich nichts Schöneres vorstellen kann, als von seinen Glaubensgenossen rituell ins Jenseits befördert zu werden. Dieser Vorgang würde also allen Teilnehmern nur Freude und keinem Leid verursachen. Trotzdem ist es absurd, wenn eine solche Art von Bedürfnisbefriedigung toleriert würde. – Bei Gewaltdarstellungen und bei mit Gewalt verbundener Pornographie bin ich mir nicht sicher. Findet hier beim Betrachter Triebabfuhr statt oder findet er Anregungen für das wirkliche Leben? Es findet wahrscheinlich bei einigen Betrachtern das erste, bei anderen Betrachtern das zweite statt. – Die allgemeine Anerkennung des Grundsatzes, dass das Streben nach Bedürfnisbefriedigung seine Grenzen nur dort haben soll – und muss! –, wo man anderen Leid zufügt, würde eine Gesellschaft beträchtlich voranbringen in Bezug auf Toleranz. Aber es bliebe immer noch genug Raum für Meinungsverschiedenheiten. Zurück zum Haupttext

Anm. 105:  John Stuart Mill sagt, dass das Glück nicht außerhalb von uns liegt, sondern in uns. Es ist ein Gefühl. (Störig 1, S. 477) Ich meine aber, dass der Mensch so stark mit seiner Umwelt verwoben ist, dass Glück meistens auch einen objektiven Aspekt hat. Aber trotz aller Dialektik, das Entscheidende am Glück ist das Gefühl in uns und nicht das Ding oder Ereignis außerhalb von uns. Zurück zum Haupttext

Anm. 106:  Epikur. Zitiert nach Vorländer 1, S. 265 Zurück zum Haupttext

Anm. 107: Das Existenzminimum muss natürlich vorhanden sein. Wer sich ständig ums Essen, um Unterkunft und Kleidung sorgen muss, kann kein glückliches Leben führen. Aber das Existenzminimum ist auch wieder eine variable Größe und von Mensch zu Mensch und von Kulturkreis zu Kulturkreis verschieden. Zurück zum Haupttext

Anm. 108: Für Marxisten und Christen seien noch zwei Zitate nachgereicht. Marx: »Je weniger du bist, je weniger du dein Leben äußerst, desto mehr hast du, umso größer ist dein entäußertes Leben, umso mehr speicherst du auf von deinem entfremdeten Wesen.« (Marx 1, S. 549) Jesus: »Sammelt euch keine Schätze auf Erden, denn wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz.« (Aus der Bergpredigt) Bei Jesus fällt mir allerdings das Gleiche auf wie bei vielen anderen Menschen. (Jesus ist für mich ein Mensch, kein Gott.) Er hat eine gute Idee, ein richtiges Anliegen, schießt dann aber über das Ziel hinaus. Der Satz. »Sorget euch nicht darum, was ihr essen werdet und womit ihr euch kleiden werdet etc.« ist nicht praktikabel. Die Menschen würden so keinen Winter überleben. In der Bergpredigt stehen interessante Sätze, aber einige Überspitzungen müssen zurückgenommen werden. Zurück zum Haupttext

Anm. 109: Diese und ähnliche Auffassungen findet man z. B. bei  Pascal,  Schopenhauer,  Kierkegaard, Eduard von Hartmann und  Adorno. Zurück zum Haupttext

Anm. 110: Schopenhauer fragt: Was ist Ruhm? Nur ein Abbild unseres Wesens in den Köpfen anderer. Und er sagt dann: »Zudem sind die Köpfe der Menge ein zu elender Schauplatz, als das auf ihm das wahre Glück seinen Ort haben könnte.« Zitiert nach Störig 1, S. 504 – Aber wie sieht es denn hier mit dem hypothetischen »Kollektiven Unbewussten« aus? Können die Gedanken anderer mich beeinflussen, z. B. krank machen, ohne dass ich dies überhaupt bemerke? Ausschließen kann ich so etwas nicht. – C. G. Jung hat unter »Kollektives Unbewusstes« etwas anderes verstanden, nicht die aktuellen Gedanken aller Menschen bzw. Teile dieser Gedanken, sondern eine Art geistiger Erbmasse der Menschheitsentwicklung, die in jeder menschlichen psychischen Struktur wieder auftaucht, die Archetypen. Soweit ich mich erinnere, wurde bei den Parapsychologen in Freiburg der Begriff »Kollektives Unbewusstes« auch benutzt für eine mögliche unbewusste allgemeine Telepathie. Das, was Jung mit Hilfe der Archetypen erklärt, sei möglicherweise Folge einer solchen allgemeinen kollektiven unbewussten Telepathie. Wenn man es für wahrscheinlich oder zumindest für möglich hält, dass alle individuellen Bewusstseins Teile des Weltbewusstseins sind, ist eine solche Vermutung durchaus schlüssig. Zurück zum Haupttext

Anm. 111: Dies ist übrigens auch ein weiteres gutes Beispiel dafür, dass die Menschen die Wirklichkeit, in der sie leben, selbst produzieren. Denn unabhängig vom wertenden Menschen scheint es keine Werte zu geben und damit auch keine mehrwertigen und minderwertigen Menschen. Zurück zum Haupttext

Anm. 112: Nachlesen kann man dies auch bei Erich Fromm in seinem Buch »Die Kunst des Liebens« (Fromm 1, S. 441). Die zwischenmenschlichen Beziehungen unterliegen in beträchtlichem Maße den Marktgesetzen. Am Anfang einer Zweierbeziehung steht in der Regel das Prinzip des Äquivalententauschs. (D. h., es wird Gleichwertiges getauscht.) Fromm kritisiert diesen Zustand, aber dies ist meiner Überzeugung nach eine hoffnungslose Kritik. – Die Aussage, dass »am Anfang« das Prinzip des Äquivalententauschs steht, bedeutet, dass wenn eine Verbindung erst einmal zustande gekommen ist, auch noch andere Dinge hinzutreten können. Ich will das an folgendem Beispiel erläutern: So gut wie kein lebensfroher Mensch in seinen 20er Jahren wird eine Partnerschaft mit einem Menschen aufnehmen, der querschnittsgelähmt im Rollstuhl sitzt und so gut wie keinen Sex haben kann. Und darüber hinaus in den Freizeitmöglichkeiten stark eingeschränkt ist. Wenn aber einmal eine Verbindung zustande gekommen ist und einer der Partner wird durch einen Unfall querschnittsgelähmt, dann muss das nicht bedeuten, dass der gesunde Partner den behinderten Partner verlässt, weil er nun kein Äquivalent mehr darstellt. Zwischenzeitlich hat sich ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt, damit das Bedürfnis für den anderen zu sorgen etc. – Richtig ist aber auch, dass ich meine Beobachtungen in einem ganz bestimmten Kulturkreis gemacht habe. In anderen Ländern, besonders in solchen, wo die Freiheit des Einzelnen nicht so groß ist wie bei uns, wo Gruppen noch eine größere Rolle spielen, würde ich vielleicht andere Beobachtungen machen. – Auch für die Beziehung zwischen Kindern und Eltern, besonders in den frühen Jahren, gilt nicht das Äquivalententauschprinzip. Eine Gattung, die nicht den Trieb hat, den Nachwuchs selbstlos großzuziehen, würde aussterben, bzw. kann sich gar nicht erst entwickeln. Zurück zum Haupttext

Anm. 113: Ich habe im philolex-Beitrag  »Dummheit« einige Philosophen aufgelistet, deren praktisches Verhalten in einigen Punkten in einem sonderbaren Missverhältnis zu ihren theoretischen Leistungen stand und die größte Ehre, die mir widerfahren könnte, wäre, dass mich jemand nach meinem Ableben in diese Liste aufnimmt. (Genaugenommen würde mir dann keine Ehre widerfahren. Etwas, das nicht existiert, dem widerfährt nichts.) Zurück zum Haupttext


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LITERATURVERZEICHNIS

Folgende Literatur war für die Erstellung dieses Textes von Bedeutung:

Anzenbacher, Arno, 1 Einführung in die Philosophie, Herder & Co, Wien 1981
Bellinger, Gerhard, J., 1 Knauers Großer Religionsführer, Droemersche Verlagsanstalt Th. Knauer Nachf. München 1986
Descartes, René, 1 Meditationen über die Erste Philosophie, Lateinisch/Deutsch, Philipp Reclam Jun. Stuttgart 1986
Ditfurth, Hoimar von,
1 Im Anfang war der Wasserstoff, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1972
2 Wir sind nicht nur von dieser Welt, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1981
3 Innenansichten, Claassen Verlag GmbH, Düsseldorf 1989
4 Kinder des Weltall, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1970
Engels, Friedrich, 1 Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, Marx-Engels-Werke, Dietz Verlag Berlin, Band 21
Fromm, Erich, Gesamtausgabe, Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart 1981
1 Das Menschenbild bei Marx, Band 5
2 Die Seele des Menschen, Band 2
3 Die Kunst des Liebens, Band 9
4 Haben oder Sein, Band 2
Höffe, Otfried (Hrsg.), Klassiker der Philosophie, 2 Bände (Höffe 1 + Höffe 2), Verlag C. H. Beck München 1985
Kant, Immanuel, Werkausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt/M 1977
1 Kritik der reinen Vernunft, Band 3 + 4
2 Kritik der praktischen Vernunft, Band 7
3 Kritik der Urteilskraft, Band 10
4 Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, Philipp Reclam Jun. Stuttgart 1989
Lem, Stanislaw
1 Der Futurologische Kongress, Suhrkamp Verlag Frankfurt/M 1979
2 Sterntagebücher, Suhrkamp Verlag Frankfurt/M 1978
Lührs, Georg u. a. (Hrsg.), 1 Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie, Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH Berlin, Bonn-Bad Godesberg
Mansfeld, Jaap, 1 Die Vorsokratiker, Griechisch/Deutsch, Philipp Reclam Jun. Stuttgart 1987
Marx, Karl, 1 Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, Marx-Engels-Werke, Dietz Verlag Berlin, Ergänzungsband Erster Teil
Popper, Karl
1 Das Elend des Historizismus, J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1979;
2 Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde, A. Franke Verlag GmbH, München 1975 (UTB Taschenb.), B. 1 + 2;
3 Conjectures and Refutations, London
4 Was ist Dialektik, in Lührs 1, 167ff
5 Logik der Forschung, J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1984
Schopenhauer, Arthur, 1 Die Welt als Wille und Vorstellung, Diogenes Verlag AG Zürich 1977 (2 Bücher)
Schulz, Uwe, 1 Kant, Rowohlt Monographie, Reinbek 1965
Specht, Rainer, 1 Descartes, Rowohlt Monographie, Reinbek 1966
Spinoza, 1 Die Ethik, Röderberg Taschenb. Frankfurt 1972
Stegmüller, Wolfgang, 1 Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, 4 Bände, Alfred Kröner Verlag Stuttgart 1978
Stirner, Max, 1 Das Ich und sein Eigentum, Phillip Reclam Jun. Stuttgart
Störig, Hans Joachim, 1 Weltgeschichte der Philosophie, Büchergilde Gutenberg, Frankfurt 1985
Vorländer, Karl, 1 Philosophie des Altertums, Geschichte der Philosophie I, mit Quellentexten, Rowohlt 1963
Wickert, Johannes, 1 Einstein, Rowohlt Monographie, Reinbek 1987
Wiedemann, Franz, 1 Hegel, Rowohlt Monographie, Reinbek 1965



 

 

 

 



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