Naturwissenschaftlicher Materialismus des 19. Jahrhunderts


Kurzbeschreibung des Naturwissenschaftlichen Materialismus

Der naturwissenschaftliche  Materialismus des 19. Jahrhunderts (auch wissenschaftlicher, weltanschaulicher, radikaler und/oder mechanischer Materialismus genannt) war eng verbunden mit der Naturwissenschaft, genauer gesagt mit dem naturwissenschaftlichen Erkenntnisstand des 19. Jahrhunderts. Er wurde nicht von Philosophen, sondern von Naturwissenschaftlern begründet und vertreten. [1] Er hat viele Gemeinsamkeiten mit dem Französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts. Die Welt sei nur Stoff und Kraft, bzw. Materie und Energie. Materie sei das sinnlich Wahrnehmbare. Geistige Zutaten des Menschen wurden nicht gesehen. Psychische, geistige, seelische Vorgänge (oder welche Wörter man auch immer benutzen mag) hätten zur Voraussetzung physiologische Vorgänge, mit denen sie mehr oder weniger identisch seien. Wenn man überhaupt von Gott reden wolle, dann sei die materielle Welt Gott.


Vertreter des Naturwissenschaftlicher Materialismus

Vogt, Carl (1817–1895). Deutsch-Schweizer Mediziner, Zoologe und Politiker. Professor für Zoologie, Geologie und Paläontologie in Gießen und Genf. Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung und des Schweizer Nationalrats. Scharfe Auseinandersetzung mit Marx über politische Strategie und Ziele. Vertreter des  Naturwissenschaftlichen Materialismus. Vogt verneint den  Dualismus von Körper und Geist. Es gebe keine immaterielle, unsterbliche Seelensubstanz. Psychischen Vorgänge (= Seele) hätten als Voraussetzung physiologische Vorgänge im Gehirn. Eine Fortexistenz der Seele nach dem Tode sei deshalb unmöglich. »Die Gedanken in demselben Verhältnis etwa zum Gehirn stehen wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren.» [Der qualitative Unterschied zwischen einem Gedanken (etwas bewusstes, geistiges) und einer materiellen Substanz wie Galle oder Urin kommt bei einem solchen Vergleich nicht zum Vorschein.] Werke: Physiologische Briefe, 1845. Köhlerglaube und Wissenschaft, 1854.

Moleschott, Jakob (1822–1893). Niederländischer Professor der Physiologie. Vertreter des  Naturwissenschaftlichen Materialismus. Stark von Feuerbach beeinflusst. [Ganz ohne philosophische Gedanken war er also nicht.] Verband das von Lavoisier aufgestellte Gesetz von der Erhaltung des Stoffes mit dem von Mayer aufgestellten Gesetz der Erhaltung der Energie. Behauptete die stofflich-physiologische Struktur der seelisch-geistigen Vorgänge. Es gebe keine tote Materie und keine vom Stoff losgelöste Lebenskraft. Hatte großen Einfluss auf die Entstehung der physiologischen Chemie. Werk: Kreislauf des Lebens, 1852.

Büchner, Ludwig (1824–1899). Deutscher Philosoph und Arzt. Bruder von Georg Büchner. Er war im 19. Jahrhundert ein sehr populärer Vertreter des  Naturwissenschaftlichen Materialismus. Ursprünglich sei die Materie, die Seele sei das Produkt physiologischer Vorgänge im Gehirn. Werk: Kraft und Stoff, 1855.

Haeckel, Ernst (1834–1919). Deutscher Biologe und Natur-Philosoph. Vertreter eines (fortgeschrittenen)  Naturwissenschaftlichen Materialismus. Bedeutendster deutscher Schüler Darwins. Vertrat einen monistisch-atheistischen Standpunkt. Wie in der Natur gebe es auch in der Gesellschaft, Kultur, Politik etc. einen evolutiven Fortschritt. Erworbene Eigenschaften würden vererbt. ( Epigenetik) In diesem Punkt Gegensatz zu den Neo-Darwinisten. Viele seiner Thesen wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts als überholt angesehen. Geblieben ist aber das »Biogenetisches Grundgesetz«:


Die Ontogenese ist die verkürzte Rekapitulation der Phylogenese.


Das heißt, die Entwicklung des einzelnen Menschen von der befruchteten Eizelle zum geschlechtsreifen Erwachsenen ist die verkürzte und allerdings etwas abgewandelte Wiederholung der Entwicklung von der Urzelle zur menschlichen Gattung. Diese These lässt sich besonders an Hand der Entwicklung des Embryos belegen. (Bezüglich der geistigen Entwicklung hatten dies bereits Goethe, Hegel und Comte behauptet.)

Pantheismus: Haeckel bekämpfte in seinem populärphilosophischen Buch Die Welträtsel mit scharfer Polemik die christliche Weltanschauung, die zwischen Materie und Geist eine Scheidewand errichtet. Für ihn sind Gott und Welt das Gleiche. An die Stelle der Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit wollte er die Ideale des Wahren, Guten und Schönen setzen.

Ostwald, Wilhelm (1853–1932). Deutscher Chemiker (Nobelpreisträger) und Philosoph. Vertreter eines (fortgeschrittenen)  Naturwissenschaftlichen Materialismus. Entdeckte das Verdünnungsgesetz für organische Säuren. Begründete die philosophische Lehre vom  »energetischen Monismus«: Alles Wirkliche, alle physischen und psychischen Prozesse beruhten auf Energie. Ihr komme ein höherer Grad an Wirklichkeit zu als der Materie. Alles Geschehen sei eine Transformation verschiedener Energieformen. (Damit hat er eine Grundaussage der  Relativitätstheorie vorweggenommen.) Neben Mach bedeutendster Vertreter des Monismus.


Meine Kritik am Naturwissenschaftlichen Materialismus

Die naturwissenschaftlichen Materialisten waren faktisch Naive Realisten. (Bei  Ostwald sei das mit Einschränkung gesagt.) Nicht nur auf Grund philosophischer, sondern auch moderner naturwissenschaftlicher Gedanken kann man heute davon ausgehen, dass die Welt, in der wir leben, unser geistiges Produkt ist. Das bedeutet zwar nicht zwangsläufig, dass es keine von uns unabhängige materielle Welt gebe, aber der  Materialismus wird zumindest dubios.

Der qualitative Unterschied zwischen geistigen, seelischen, psychischen Vorgängen und materiellen Vorgängen wird nicht gesehen bzw. nicht deutlich genug betont. Weiteres in meinem Aufsatz Kritik des philosophischen Materialismus.


Kommentare zum Naturwissenschaftlichen Materialismus

»Wenn der Naturwissenschaftler über die Besonderheit seines Faches nicht reflektiert, z. B. über mitgebrachte Voraussetzungen, Annahmen, Einschränkungen des Blickwinkels usw., besteht leicht die Gefahr, einen Teilaspekt, das Studium nämlich der physischen Erscheinungswelt und ihrer kausalen Zusammenhänge, für das Ganze der Wirklichkeit schlechthin zu nehmen [...] Sie alle reden auch von Verstand oder Vernunft im Unterschied zur Sinneswahrnehmung; allein dieser Unterschied ist ihnen nur ein gradueller und nicht ein wesentlicher. [...] Dass in dieses sinnliche Erkennen möglicherweise menschliche Setzungen eingehen, soviel Kritik bringen sie nicht auf.« Hirschberger 3, 178f.


Anmerkungen

Anm. 1: Er unterschied sich in diesem Punkt vom  Materialismus vieler ehemaliger  Junghegelianer, die nur oder in erster Linie durch philosophische Reflexionen, durch eine Auseinandersetzung mit der hegelschen Philosophie zum Materialismus gelangt waren. Von den »Philosophischen Materialisten« werden die »Naturwissenschaftlichen Materialisten« wegen des Fehlens oder des Zurückstehens philosophischer Gedanken häufig »Vulgär-Materialisten« genannt. (Z. B. in der Sowjet- und DDR-Philosophie war das verbindliche Sprachregelung.) Zurück zum Text


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