Peter Möller

Religion und Philosophie

Religion hat meiner Einschätzung nach sechs analytisch trennbare Aspekte:

  1. Dogmatismus: Über das empirisch und rational Erkennbare hinaus werden bestimmte Glaubenssätze aufgestellt, von deren Richtigkeit ohne jeden Zweifel ausgegangen wird. (In der Regel – aber nicht notwendiger Weise! – beinhalten Religionen den Glauben, dass ein Gott oder mehrere Götter existieren.)
  2. Unkompliziertheit: In der Regel handelt es sich dabei um eine sehr einfache, dem Auffassungsvermögen der großen Mehrheit der Bevölkerung angepasste, mythenhafte, märchenhafte Seinsdeutung und Voraussagen, was mit dem Menschen bzw. seiner Seele in Zukunft passieren wird.
  3. Trostpflasterfunktion: Mit dem Glauben an eine jenseitige Vergeltung, ewiges Leben, Wiedergeburt etc. tröstet die Religion viele Menschen über die z. T. gewaltigen Lebensprobleme hinweg.
  4. Ethik: Verbunden mit den religiösen Glaubenssätzen sind Angaben darüber, was  gut und böse ist und damit verbunden die Aufforderung zu einem bestimmten Verhalten.
  5. Kulthandlungen: Verbunden mit diesen Glaubenssätzen werden bestimmte Kulthandlungen durchgeführt, wie zum Beispiel Gottesdienste, Gebete, Rituale etc.
  6. Kirche: In der Regel gibt es eine Organisation, in der die Gläubigen zusammengefasst sind, und die über die Reinhaltung der Lehre und über die Kulthandlungen wacht.

Nur diese sechs Punkte zusammen machen Religion aus. Würde man z. B. bereits das Aufstellen nicht nachprüfbarer Glaubenssätze Religion nennen, wäre auch ein politischer Fanatiker religiös und eigentlich schon jeder etwas beschränkte, sture Mensch. Dann verlöre der Begriff Religion seinen Erklärungswert. Die sechs Aspekte – möglicherweise gibt es weitere – sind allerdings bei den verschiedenen religiösen Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt. Der Dogmatismus hat besonders in den fortgeschritteneren, freieren Ländern an Bedeutung verloren. Das starre Festhalten an Glaubenssätzen hat bei vielen religiösen Menschen nachgelassen. Oft bleibt als letztes Dogma nur noch die Existenz eines nicht näher bestimmbaren Gottes.

Im Okkultismus werden ebenfalls Behauptungen aufgestellt, die weder empirisch noch rational überprüfbar sind und auch in der Regel einfache, unkomplizierte Behauptungen sind, deren Verständnis keine tiefgehenden intellektuellen Fähigkeiten voraussetzen. Aber es gibt keine festumrissenen Glaubensdogmen und keine feste Organisation. Häufig kommt noch hinzu, dass Religion der staatlich anerkannte, geförderte Glaube, Okkultismus dagegen der staatlich nicht anerkannte, nicht geförderte Glaube ist. (Wie bei  Hobbes. Sehen Sie hierzu auch Esoterik.)

Religion und Okkultismus einerseits und Philosophie und Wissenschaft andererseits sind zwei völlig verschiedene Herangehensweisen an das Sein:

In der Religion wird an etwas geglaubt, zum Beispiel an ein heiliges Buch, die Offenbarung eines Propheten, die Worte eines charismatischen Führers oder ähnliches. An den Aussagen der Religion wird nicht gezweifelt. Häufig wird ein solcher Zweifel durch die Androhung übelster Strafen – zum Beispiel ewiger ( ! ) Folter nach dem Tode (siehe Anm 4 im Artikel  »Gott«) – im Keime erstickt. (Oder sie schlagen einen hier auf der Erde schon tot.) Nachgedacht wird höchstens noch, wenn es um die Auslegung der Glaubenssätze geht.

In der Philosophie dagegen, jedenfalls wie ich sie verstehe, gibt es keine Tabus, keine heiligen Kühe. Es darf alles hinterfragt werden, es darf alles bezweifelt werden. Man versucht in einem Prozess des Nachdenkens und der Diskussion mit anderen der Wahrheit auf die Spur zu kommen. (Dieser Darstellung werden viele nicht zustimmen, da es auch unter den Philosophen leider jede Menge Dogmatiker gegeben hat und gibt.)

Der Unterschied zwischen Religion und Philosophie ist der Unterschied zwischen Glauben und Denken. In diesem Sinne bin ich ein philosophischer, kein religiöser Mensch. (Die Grenze zwischen Religion und Philosophie ist in der Wirklichkeit aber nicht immer so klar wie in der Analyse. Es gibt besonders in der heutigen Zeit Menschen, die sowohl religiöses wie philosophisches in sich haben.)

Der Unterschied zwischen Religion und Philosophie ist aber nicht der, dass der religiöse Mensch von der Existenz eines Gottes ausgeht und der Philosoph nicht. Philosophie ist nicht identisch mit Atheismus. Ein Philosoph kann im Verlaufe seines Nachdenkens durchaus zum Atheismus gelangen. (Wie es auch atheistische Religion geben kann! Siehe  Buddhismus.) Er kann aber auch zu der Auffassung gelangen, dass ein Gott existiert, bzw. dass dies wahrscheinlich oder möglich ist. Aber er kommt zu diesem Ergebnis im Verlauf eines Denkprozesses und nicht auf dem Wege des blinden Glaubens.

Dazu kommt noch, dass die Gottesbilder von Philosophen, wenn sie denn von der Existenz eines Gottes ausgehen, viel abstrakter, komplexer, wesentlich komplizierter sind als die Gottesbilder der Religionen, wo Gott oft nur einfach ein gütiger alter Herr mit Bart ist.

Eine unter intellektuelleren Menschen verbreitete Religionsauffassung besagt, in dem Moment, wo Menschen aus einer Weltanschauung die Konsequenzen für ihre Lebensführung ziehen, beginne Religion. Religion sei eine Weise menschlichen Existierens aus der Relation zu einem Sinngrund. Diese Argumentation hat einen apologetischen Charakter. Religiöse Menschen haben häufig die Auffassung, dass letztlich alle Menschen religiös sind. Sie fassen Religion so weit, dass jeder Mensch irgendwie noch darunterfällt.

Bei Intellektuellen und Künstlern findet man häufig eine Verbindung von Religion und Philosophie, wobei der Verstand eindeutig dem Gefühl unterordnet ist. Religion ist bei ihnen ein Sehnen nach etwas Höherem, Besseren, ein starkes Wünschen, die Welt möge nicht in ihrer Materialität – und ihrer z. T. grässlichen Funktionsweise – aufgehen. Man findet bei diesen Menschen weniger Dogmatismus und mehr Toleranz wie bei der großen Mehrheit der Religiösen. (Über die  Hume das Wichtigste gesagt hat.) Aber auch hier fehlt in der Regel eine kritische Erkenntnistheorie, eine skeptische Distanz zu den wunschhaften Vorstellungen. Und – was häufig übersehen wird – diese Art von Religion ist die einer intellektuellen Minderheit. (Sehen Sie hierzu auch  Schleiermacher.)

Religion kann von verschiedenen Seiten her untersucht und definiert werden. In der Regel ist Religion entscheidend dadurch charakterisiert, dass an einen Gott geglaubt wird, und dass dort – wie philosophisch gebildete Menschen wissen – eine  idealistische Weltanschauung vertreten wird. Einige sehen das charakteristische Kennzeichen einer Religion aber in einem geschlossenen Glaubenssystem, an dem die Anhänger dieses Systems starr fest halten, egal was auch immer sich ereignet. Besonders, wenn das dogmatisierte Weltbild für seine Anhänger eine große emotionale Bedeutung hat, sprechen einigen Menschen von einer Religion oder einer Ersatzreligion, auch wenn dort Gott und Idealismus keine Rolle spielen sollten. So betrachtete Bertrand Russell Faschismus und Kommunismus als Religionen.

Ich bin nicht religiös und wenn es nach mir ginge, bräuchte es auch keine Religion zu geben. Religion ist etwas vorwissenschaftliches, vorphilosophisches. Religion bedeutet, dass ein Mensch, zumindest bezogen auf einen Teil seiner Auffassungen, seine Vernunft nicht benützt. Aber ich glaube nicht, dass man Religion abschaffen kann, oder dass sie irgendwann von selbst verschwindet. Im Gegensatz zu  Marx, der einige Aspekte der Religion sehr richtig erkannt hatte, glaube ich nicht an ein Absterben der Religion. Religion wird es solange geben, solange es Menschen gibt. Religion hat seine Ursache nicht nur im Zustand der Gesellschaft, genausowenig wie der Mensch nicht nur das »Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« ist. (Die aus der Natur des Menschen und aus seiner Psyche resultierenden Ursachen für Religion hat Marx zu wenig beachtet. Zu seinen Lebzeiten war allerdings auch die Psychologie, besonders die  Tiefenpsychologie noch nicht besonders entwickelt bzw. noch gar nicht vorhanden. Insbesondere fehlte noch das umwälzende Werk  Sigmund Freuds.)


Weiteres zur Religion u. a. in meinem Aufsatz Gegen den religiösen Fanatismus.



Kommentare anderer Autoren zur Religion

Charles Baudelaire: »Selbst wenn Gott nicht existierte, blieben die Religionen etwas Göttliches.« [Da schüttelt’s mich! Religionen sind etwas für Sklavennaturen, die etwas brauchen, dass sie anhimmeln können, dem sie sich unterwerfen können. Religionen sind Quelle unzählbarer Verbrechen und Leid in der Geschichte.]

Jacob Burckhardt: »Die Religionen sind der Ausdruck des ewigen und unzerstörbaren metaphysischen Bedürfnisses der Menschennatur.«

Albert Einstein: »Wissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Wissenschaft ist blind.«

Empedokles: »Jeder glaubt nur das, worauf ihn der Zufall gebracht hat.«

Ludwig Feuerbach: »Der Religion ist nur das Heilige wahr, der Philosophie nur das Wahre heilig.«

Karoline von Günderrode: »Wer irgendeiner Art von Religion zur Stütze seiner  Sittlichkeit bedarf, dessen  Moralität ist nicht rein, denn diese muss ihrer Natur nach in sich selbst bestehen.«

Heinrich Heine: »In dunkeln Zeiten wurden die Völker am besten durch die Religion geleitet, wie in stockfinstrer Nacht ein Blinder unser bester Wegweiser ist; er kennt dann Wege und Stege besser als ein Sehender. Es ist aber töricht, sobald es Tag ist, noch immer die alten Blinden als Wegweiser zu gebrauchen.«

Joseph Joubert: »Die Religion ist die einzige Metaphysik, die das Volk imstande ist, zu verstehen und anzunehmen.«

Georg Christoph Lichtenberg: »Ist es nicht sonderbar, dass die Menschen so gerne für die Religion fechten und so ungerne nach ihren Vorschriften leben?«

Karl Marx: »Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.«

Henry Louis Mencken: »Wir müssen die Religion des anderen respektieren, aber nur in dem Sinn und dem Umfang, wie wir auch seine Theorie respektieren, wonach seine Frau hübsch und seine Kinder klug sind.«

Jean Antoine Petit-Senn: »Die Religion ist das Krankenhaus der Seele, welche die Welt verwundet hat.«

Edgar Allan Poe: »Die ganze Religion, mein Freund, hat sich schlicht und einfach aus dem Betrug, der Angst, dem Vorteil, der Phantasie und aus der Poesie entwickelt.«

Bertrand Russell: »Ich betrachte die Religion als Krankheit, als Quelle unnennbaren Elends für die menschliche Rasse.« »Die Religion stützt sich vor allem und hauptsächlich auf die Angst

Johannes Scherr: »Je dümmer, desto schöner, je alberner, desto verehrungswürdiger, je sinnloser, desto erbaulicher. In diese zwölf Worte fasst sich bekanntlich das Ergebnis sämtlicher Dogmengeschichten, sämtlicher Religionen zusammen.«

Friedrich Schleiermacher: »Praxis ist Kunst, Spekulation ist Wissenschaft, Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche.«

Spinaza: »Das Ziel der Philosophie ist einzig und allein die Wahrheit, das Ziel des Glaubens einzig und allein Gehorsam und Frömmigkeit.«

Kurt Tucholsky: »Der Mensch hat zwei Beine und zwei Überzeugungen: eine, wenn's ihm gut geht, und eine, wenn's ihm schlecht geht – Die Letztere heißt Religion.«

Mark Twain: »Der Mensch ist ein religiöses Tier. Er ist das einzige Tier, das seinen Nächsten wie sich selber liebt und, wenn dessen Theologie nicht stimmt, ihm die Kehle durchschneidet.«

Otto Weiss: »Gar viele sind stolz darauf, sich zu einer Religion zu bekennen, deren Gebote sie nicht befolgen.«

Carl Friedrich von Weizsäcker: »Je mehr man sich in die Physik hineinbegibt, desto stärker hat man das Gefühl, dass hinter dieser Welt irgendein großes Geheimnis steckt.«


Von mir selbst: »Wenn sich jemand mit einer Person unterhält, die nicht existiert bzw. nicht anwesend ist, dann bezeichnet man einen solchen Menschen als ›verrückt‹. Nennt er diese Person aber ›Gott‹, dann ist er nicht mehr ›verrückt‹, dann ist er ›religiös‹.«



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