Peter Möller

Wissen, Vermutungen und Praxis


1. Das unmittelbare Erleben ist unbezweifelbar

Der Mensch geht normalerweise davon aus, dass die Welt, die er um sich herum wahrnimmt auch unabhängig von ihm genauso existiert, auch wenn er oder ein anderes Wesen sie nicht wahrnimmt. Durch naturwissenschaftliche oder philosophische Kenntnisse und Überlegungen kommen viele Menschen aber dann an einen Punkt, wo diese Gewissheit verschwindet und man sich fragt, wie wirklich eigentlich die Wirklichkeit ist und was man eigentlich mit Sicherheit wissen kann.

Was dabei allerdings häufig übersehen wird, ist, dass die Wirklichkeit durch einen Zweifel an ihr überhaupt nicht verschwindet! Wenn ich einen Baum wahrnehme, dann kann ich diesen Vorgang nicht bezweifeln. Ich kann mir lediglich darüber im Unklaren sein, warum ich einen Baum wahrnehme. Vielleicht nehme ich den Baum wahr, weil er ein auch unabhängig von meinen Wahrnehmungen existierender Tatbestand ist. Vielleicht träume ich aber diesen Baum nur. Aber dadurch verschwindet der Baum nicht. Er existiert dann als mein Traum. Vielleicht ist der Baum nur eine Computersimulation. Dann existiert der Baum eben als Computersimulation. Welche Vermutungen ich auch immer anstellen mag, der Baum als meine Wahrnehmung oder als mein Erlebnis bleibt als ein unbezweifelbarer Tatbestand erhalten.

Noch deutlicher kann man dies an unangenehmen Situationen darstellen. Wenn ich Zahnschmerzen habe, dann kann ich unterschiedliche  Hypothesen darüber aufstellen, warum ich Zahnschmerzen habe. Die sinnvollste Vermutung ist, anzunehmen, dass die Zahnschmerzen Resultat objektiv ablaufender Prozesse in meinen Körper sind. Dann gehe ich zum Zahnarzt und lasse Änderungen vornehmen mit der Hoffnung, dass die Schmerzen dann verschwinden. Von einem extrem skeptizistischen Standpunkt aus kann ich aber diverse weitere Hypothesen aufstellen. Vielleicht habe ich gerade einen Alptraum. Vielleicht sitzt in einer anderen Dimension ein böser Täuschergott, der mir die Zahnschmerzen nur vortäuscht. Aber welche Vermutungen ich auch immer darüber anstellen mag, was die Zahnschmerzen »an sich« eigentlich sind, sie hören dadurch nicht auf! Ob nun Widerspiegelung objektiver Vorgänge, subjektive Einbildung, Vortäuschung eines sadistischen Gott-Teufels usw. usf. die Zahnschmerzen bleiben als ein unangenehmes bis extrem unangenehmes Gefühl bzw. Erlebnis bestehen.

Wie mit dem Baum und den Zahnschmerzen ist es mit der ganzen Welt. Was ich unmittelbar erlebe, in diesem Moment wahrnehme, fühle und denke ist als mein subjektives Erlebnis nicht bezweifelbar. (Ob meine subjektiven Erlebnisse auch mit den subjektiven Erlebnissen anderer übereinstimmen, ob ich anderen die Existenz meiner Erlebnisse beweisen kann, ist eine andere Sache.) Über die Ursachen, warum ich etwas bestimmtes erlebe, sehe, höre, fühle, denke etc. darüber kann ich möglicherweise keine letzte Gewissheit haben. Das Erlebnis selbst ist aber unbezweifelbar. Zu meinem unmittelbaren Erleben gehört z. B. dieser Text, meine Gedanken über die Frage, ob man etwas mit Sicherheit wissen kann. Zum unmittelbaren Erleben gehört auch die Sprache, die Worte, in denen mir meine Gedanken gegeben sind, mit denen ich meine Erlebnisse »bezeichne«. Alles dies ist unbezweifelbar existent. Ich kann bezweifeln, ob es Einstein als eine unabhängig von mir existierende sich wissende Person jemals gegeben hat. Aber ich kann nicht die Existenz der  Relativitätstheorie bezweifeln, denn diese Theorie und ihre allgemeinen Grundaussagen ist Teil meines unmittelbaren Erlebens. Ob diese Theorie allerdings richtige Aussagen macht, über die von meinem subjektiven Erleben unabhängig existierende Welt, darüber kann ich keine Sicherheit haben.

Wenn man an allem zweifelt, was man nicht mit letzter Sicherheit wissen kann, dann bleibt auf jeden Fall das Zweifeln übrig, bemerkte bereits Descartes, der auf diese Weise zu seinem »Cogito ergo sum« kam. Und Kant stellte fest, dass wir immer nur Aussagen machen können über die Welt unserer Erscheinungen, aber nicht über die Welt dahinter. [1]

Die Frage, was man eigentlich mit Sicherheit wissen kann, wie wirklich eigentlich die Wirklichkeit ist usw. hat bei mir zum Verschwinden des »Naiven Realismus« geführt, zum Verschwinden der Vorstellung, die Welt sei unabhängig vom mir das, was sie für mich ist. Ich habe einen  qualitativen Sprung zu einer anderen Realitätsvorstellung vollzogen. Aber die Realität ist dadurch nicht verschwunden. Sie ist unbezweifelbar vorhanden.

Wichtig als nächster Schritt ist zwischen dem zu unterscheiden, was man unmittelbar erlebt und den Vermutungen. Hier wird nämlich des Öfteren etwas für unmittelbar erlebt gehalten, was Vermutung ist. Z. B. erlebe ich niemals Kausalität, ich erlebe nur ein »nacheinander«. Ich erlebe nicht die ganze Stadt, sondern immer nur einen Teil von ihr. Ich erlebe nicht das ganze Land, nicht Milliarden von Menschen, nicht die Kugelform der Erde etc. Von diesen Dingen weiß ich durch Erzählungen, Bücher, Filme, wissenschaftliche Theorien usw. Die Berichte in Wort und Bild sind unmittelbar erlebt. Selten die Inhalte dieser Berichte. [2]

Ich erlebe die anderen Menschen als Körper oder als Diskussionspartner. Aber ich erlebe von den anderen Menschen niemals ihr Bewusstsein. Das Fremdpsychische ist mir im Gegensatz zu meinem eigenen Psychischen, Seelischen (oder welche Worte man auch immer benutzen will) nicht zugänglich. Deshalb besteht die Möglichkeit des Solipsismus.


2. Naive Auffassungen kann man als falsch ausschließen

Wenn ich ein Märchen in einem Buch der Gebrüder Grimm lese, dann kann ich nicht ernsthaft in Erwägung ziehen, dass irgendwo auf der Welt tief im Wald verborgen eine kleine Hütte steht, in der ein kleines Männlein Stroh zu Gold spinnt. Und wenn ich in der  Bibel lese, dass es einst eine große Trübsal geben wird, in deren Verlauf u. a. der Teufel tausend Jahre lang festgebunden wird, um danach wieder auf die Menschheit losgelassen zu werden, dann kann ich auch dies nicht glauben. Auf Grund meines allgemeinen intellektuellen Niveaus kann ich solche Geschichten mit unbezweifelbarer Sicherheit als naiv verwerfen. Eine solche Verwerfung hat eine überindividuelle Gültigkeit. Auch von solchen »Ausschließungsbehauptungen« kann ich sicheres Wissen ableiten.

Nun gibt es Menschen mit einem Buchstabenglauben an die Bibel. Diese Menschen haben aber nicht etwa eine andere gleichwertige Meinung, sondern sie haben ein geringeres Erkenntnisvermögen als ich. So arrogant sich das auch anhören mag, in diesem Falle ist es so. (Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich schließe nicht mit Sicherheit die Existenz eines Gottes aus. Aber ich verwerfe mit Sicherheit naive Gottesbilder.)

Dieses »Ausschließungsverfahren« hat eine gewisse Ähnlichkeit zum »Falsifikationsprinzip«  Poppers, ist aber auch auf den Gebieten der Philosophie und Religion anwendbar. [3]


3. Vermutungen und Praxis

Einstein hat einmal auf die Frage, ob 2 x 2 = 4 seien, geantwortet: »Ich bin mir nicht sicher.« Er hat diese Aussage aber nicht zur Grundlage seines praktischen Lebens gemacht. Man kann durchaus die Frage stellen, ob die logischen und mathematischen Regeln, Zusammenhänge etc. im Sein schlechthin gelten oder nur in unserer menschlichen Welt. Wer glaubt, dass eine solche Frage bereits verrückt sei, kann sich eben nicht vorstellen, dass die Welt, die unabhängig von uns Menschen existiert, vielleicht ganz anders ist, als wir denken (können). Wir sind eventuell nur die Schimpansen der Zukunft. Aber für das praktische Leben ist es unsinnig einfachste Regeln der Mathematik und offensichtlichste Naturgesetze (wie z. B. das von der Schwerkraft) zu ignorieren. Man kann hier mit Fug und Recht sichere Aussagen machen. »2 x 2 = 4« und nicht »Ich sehe das so, dass 2 x 2 = 4 sind.«

Aber so wichtig die mathematischen und naturwissenschaftlichen Aussagen auch für unser Leben sind, wie oft sie sich auch in der Praxis bewähren, es werden aus ihnen dadurch nie ontologische, das Sein schlechthin betreffende Wahrheiten letzter Instanz. Naturwissenschaften sind Netzwerke von Vermutungen.

Es gibt im naturwissenschaftlich-technischen Bereich viele ganz naturwüchsige Positivisten und  Materialisten, die sich ihrer Entscheidung in der Erkenntnistheorie und dem Leib-Seele Problem gar nicht bewusst sind. Die ihre Positionen ganz und gar unreflektiert für die einzig wahren, vernünftigen und damit gerechtfertigten halten. Wenn jemand mit Absolutheitsanspruch behauptet, menschlicher Geist bzw. menschliches Bewusstsein seien Produkt der Materie, des materiellen Organs Gehirn, dann behauptet er mehr, als er wissen kann. Dann wird er, ob er will oder nicht, ob er es weiß oder nicht, selbst zum dogmatischen Philosophen. Dass der menschliche Geist bzw. Bewusstsein ein Produkt des Gehirns sei, ist eine naturwissenschaftliche  Hypothese, für die man viele gute Argumente anführen kann. Und vielleicht ist dies sogar die Wahrheit. Aber das ist nicht mit Sicherheit feststellbar. Aus philosophischer Sicht gibt es auch viele gute Argumente dafür, dass der Geist die Materie schafft, die Materie eine Vorstellung des Geistes ist. [4] Wird dies aber als unumstößliche Wahrheit bezeichnet, widerspreche ich auch einem solchen Absolutheitsanspruch.

Es gibt derzeit keine triftigen (naturwissenschaftlichen) Gründe an der Urknallhypothese oder an den allgemeinen Grundaussagen der  Evolutionstheorie zu zweifeln. (Ich kenne jedenfalls keine.) Deshalb kann man solche Theorien zu Recht zur Grundlage weiterer Überlegungen und praktischen Handelns machen, ohne in jedem Satz zu betonen, dass es sich bei diesen Theorien letztlich um Hypothesen handelt. Aber im Hinterkopf sollte man das immer behalten.

Das gleiche gilt auch für Aussagen, die die menschliche Gesellschaft betreffen. Ich ziehe aus dem bisherigen Verlauf der Geschichte den Schluss, dass es leider nicht auszuschließen ist, dass wie in der Vergangenheit auch in Zukunft Diktatoren und fanatisierte Völker Kriege anzetteln könnten. Deshalb muss ich, wenn ich in Frieden und Freiheit leben will, auf solche Eventualitäten vorbereitet sein. Menschen neigen dazu, zum persönlichen Vorteil die Gesetze zu übertreten, zum Teil in einer für andere Menschen extrem schädigenden Weise. Ohne staatliche Strukturen, nur auf Basis von freiwilligen Gruppen und gutem Beispiel kann man mit solchen Problemen nicht fertig werden. Diese Aussagen haben eine überindividuelle Gültigkeit. Ich werde sie deshalb auch nicht so formulieren, als würde ich hier nur eine individuelle Befindlichkeit wiedergeben. [5]

Es gibt leider viel Dogmatismus und Fanatismus unter den Menschen und deshalb ist ein skeptischer Umgang mit Wahrheitsansprüchen im Prinzip zu begrüßen. Aber das rechtfertigt nicht, ins entgegengesetzte Extrem zu schlagen.

Es geht also erstens darum, Wissen und Vermutungen zu unterscheiden. Und zweitens geht es darum, bei den Vermutungen zu unterscheiden zwischen solchen, deren Bezweiflung im praktischen Leben unsinnig ist, bzw. zu Handlungsunfähigkeit führt, und solchen, über die es eine sinnvolle Diskussion geben kann. Die Grenze zwischen diesen beiden Arten von Vermutungen ist fließend, nicht immer leicht feststellbar. Nichts desto trotz ist sie vorhanden.


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Anmerkungen

Anm. 1: Kant hat sich in seinen philosophischen Aussagen allerdings des Öfteren über diese Erkenntnis hinweggesetzt, wie ich in meinem  Kant-Beitrag u. a. beim »Ding an sich« und bei Raum und Zeit näher ausgeführt habe. Zurück zum Text

Anm. 2: Bei  Russell ist dies die Unterscheidung zwischen Wissen durch Bekanntschaft und Wissen durch Beschreibung. Zurück zum Text

Anm. 3: Näher ausgeführt habe ich dies in meinem Aufsatz Gedanken zur Erkenntnistheorie. – Zurück zum Text

Anm. 4: Näher ausgeführt habe ich dies in meinem Aufsatz Kritik des philosophischen Materialismus. – Zurück zum Text

Anm. 5: Dieser Absatz ist u. a. eine Kritik an dem Hyper-Liberalismus der Extropianer. – Zurück zum Text


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