Dialektik

Unter dem Begriff »Dialektik« hat man in der Geschichte der Philosophie schon Unterschiedliches verstanden. Der Begriff hat oft seinen Sinn gewechselt und auch heute noch wird man in verschiedenen philosophischen Lexika und Einführungen in die Philosophie bei der Darstellung der Dialektik zumindest andere Schwerpunktsetzungen finden.

Ganz generell kann man sagen, dass Dialektik etwas mit Widersprüchen und Gegensätzen zu tun hat.


Der Begriff Dialektik taucht erstmals bei Platon auf. Bei ihm und bei seinem Lehrer Sokrates war Dialektik – im damaligen Wortsinne – »Gesprächskunst«. Durch Rede und Gegenrede – also Widerspruch! – wollte man der Wahrheit auf die Spur kommen. Und da die Dialektik Wahrheit sucht, wird sie für Platon zur Wissenschaft von dem wahrhaft Seienden, von den  Ideen.

Platon wollte nicht bei den Widersprüchen stehen bleiben wie die Sophisten, die glaubten, jede auch die widersprechendsten Auffassungen beweisen zu können. Ein solches Vorgehen nannte Platon Eristik.

Bei Aristoteles hat die Dialektik mit den Fragen zu tun, bei denen es widersprüchliche Positionen gibt. Durch Einbeziehung allgemeiner Gesichtspunkte (»topoi«) und der Meinung von Autoritäten werden diese zu beantworten versucht. Diese Topik stand im Gegensatz zur  Analytik, also Logik.

 Cusanus unterschied zwischen dem Verstand, dessen Hauptaufgabe das Auseinanderhalten von Gegensätzen sei, und der Vernunft, die die Gegensätze auf höherer Ebene zusammenführe. Gott sei das absolut Unendliche, indem alle Gegensätze zusammenfielen.

 Böhme meinte, es gebe einen sich durch alles Sein und durch alles Denken hindurchziehenden Widerspruch, ohne den es nichts gäbe. Dieser Widerspruch sei die innerste Triebkraft der Welt.

Bei Kant bekommt Dialektik eine negative Bedeutung. Für ihn ist sie »Logik des Scheins«. Wenn die Vernunft ohne Zuhilfenahme der Anschauungen versucht, Fragen zu klären, gerate sie in Antinomien.

Der bedeutendste dialektische Philosoph ist Hegel. Sein Anliegen ist es, diese Antinomien dialektisch aufzuheben, die Widersprüche in einer höheren Ganzheit zu vereinen. Bei ihm wird die Dialektik darüber hinaus zu der universellen Art, wie der  »Weltgeist« und damit die Welt und das menschliche Denken sich entfaltet. Dialektik ist nicht nur eine Sache des Denkens, sondern des Seins, das mit dem Denken bzw. der Vernunft gleichgesetzt wird.

Marx und Engels waren ursprünglich Hegelianer und stark durch dessen dialektisches Denken beeinflusst. Sie erheben den Anspruch, Hegel »vom Kopf auf die Füße gestellt zu haben«. Nicht der Geist sei das Primäre, sondern die Materie, die materielle Welt. Diese bewege und entfalte sich dialektisch ( Dialektischer Materialismus). Und im Anschluss daran bzw. dadurch verursacht unser Denken. Gegensätze werden bei Marx nicht wie bei Hegel in einer höheren Einheit versöhnt, sondern sie werden zur Triebkraft der Entwicklung, zur Durchsetzung von Neuem, Höherem in der materiellen Welt.

Im 20. Jahrhundert hat Adorno eine »Negative Dialektik« entwickelt, in der nicht mehr wie bei Hegel die Widersprüche auf höherer Ebene versöhnt werden, sondern wo sie unversöhnlich bestehen bleiben.

Die Dialektik ist in der philosophischen Welt sehr umstritten. Es gibt unter den berühmten Philosophen sowohl solche, die die Dialektik hoch schätzen – zum Beispiel Adorno –, wie solche, die die Dialektik schroff ablehnen – zum Beispiel Popper.

Wenn heutzutage in der Philosophie von Dialektik die Rede ist, dann ist damit fast immer die auf Hegel, Marx und Engels – und damit letztlich die auf Heraklit – zurückgehende Dialektik gemeint. Der antike griechische Philosoph Heraklit war der erste große dialektische Denker, der noch vor Platon und Aristoteles wirkte. Obwohl nur Fragmente seiner Schriften erhalten sind, ist in dem wenigen, was wir von ihm kennen, der Kern dessen enthalten, was heutzutage mehrheitlich unter Dialektik verstanden wird. Folgende vier Punkte sind grundlegend:


  1. Die starren Gegensätze zwischen Ja und Nein, zwischen Sein und Nichtsein, zwischen entweder so oder so etc. sind Täuschungen einer nur logischen Denkweise. Es kommt immer darauf an, von welcher Basis aus bzw. innerhalb welchen Bezugsrahmens man ein Urteil fällt. Die  zweiwertige Logik ist im praktischen Leben unverzichtbar, aber sie allein reicht nicht aus, um die Welt zu verstehen.

  2. Alle Gegensatzpaare sind untrennbar. Jeder Pol eines Gegensatzes hat nur einen Sinn oder nur eine Existenz, weil es den entgegengesetzten Pol gibt. Jede Erscheinung (?) ist je nach Betrachtung sowohl dem einen, wie dem anderen Pol zurechenbar.

  3. Alles in der Welt (der Erlebnis- oder Erscheinungswelt, ob es für das Sein schlechthin zutrifft, halte ich für unerkennbar) bewegt, verändert sich. Jede Ruhe ist relativ, vorübergehend. Alles entsteht und vergeht. In dieser Bewegung schlagen die Gegensätze ständig ineinander um.

  4. Es bewegt sich nur dort etwas, wo ein Gegensatz, ein Widerspruch vorhanden ist.


Dialektik ausführlicher

 Dialektik in China
    Die Yin-Yang-Lehre
    Li und Qi
 Es bewegt sich und es bewegt sich nicht
 Wie Dinge und Eigenschaften sind und gleichzeitig nicht sind
    Die Relativität von Eigenschaften
    Gleich und ungleich zu gleich
    Gegensätzliche Gefühle wechseln
    Vergangenheit und Zukunft
    Die Relativität von Dingen
    Materie und Geist
    Subjektives und Objektives
 Wer bin ich?
    Die buddhistische Dharma-Lehre
    Seelenwanderung
    Weltbewusstsein
 Das Sein und das Nichts
 Verschiedene Wirklichkeiten
    Aber irgendwie muss es doch schließlich sein!?
 Einige weitere Aspekte der Dialektik
    Aufheben
    Die Einheit und der Kampf der Gegensätze
    Das Umschlagen quantitativer in qualitative Veränderungen
    Vom Niederen zum Höheren
 Kommentare und Aphorismen zur Dialektik


Dialektik in China

Unabhängig von der europäischen Entwicklung kam es auch in anderen Kulturkreisen zu dialektischem Denken. So in China.


Die Yin-Yang-Lehre

Schon bei Konfuzius war keimhaft der Gedanke vorhanden, dass in allem Bestehenden zwei entgegengesetzte Prinzipien wirksam seien, das männliche aktive Yang und das weibliche passive Yin. Später wurde diese Auffassung zur zentralen Idee der chinesischen Philosophie. Nicht nur, dass eine eigene philosophische Richtung entstand, auch die Vertreter anderer philosophischer Strömungen machten es zum Mittelpunkt ihrer Weltanschauung. Es ist eine  dualistische Position bezogen auf die Grundfrage der Philosophie und es entspricht im Kern den Gedanken  Heraklits.


Li und Qi

In Anlehnung an die Yin-Yang-Lehre entwickelte der chinesische Philosoph  Zhu Xi (1130–1200) die Lehre von Li und Qi. Li ist die Weltvernunft oder das universelle Naturgesetz und Qi ist eine Kraft, Materie oder Energie. Der Gegensatz von Li und Qi ist der von Yin und Yang. Beide sind unauflösbar miteinander verbunden. Die Vernunft ist das Obere, die Materie ist das Untere. Zeitlich ist keines von beiden früher oder später, die Vernunft nichtsdestotrotz das Primäre. Sie ist aber keine gesonderte für sich seiende Wesenheit. Vernunft ist nie von der Materie getrennt. Ohne Materie hätte die Vernunft keinen Ansatzpunkt. Neben dem dialektischen Aspekt dieser Auffassung hat diese auch einen dualistischen Aspekt im Sinne der Grundfrage der Philosophie.


Es bewegt sich und es bewegt sich nicht

Der zweiwertigen Logik nach bewegt sich ein Gegenstand entweder, oder er bewegt sich nicht. Die  zweiwertige Logik kennt nichts Drittes. Aber die Wirklichkeit kennt es.

Beispiel: Gegenstand A und Gegenstand B bleiben zueinander in der gleichen Entfernung. Beide zusammen bewegen sich aber von Gegenstand C weg. Gegenstand A ist bezogen auf Gegenstand B unbewegt, bezogen auf Gegenstand C aber bewegt. Da wir seit  Einstein kein absolutes Bezugssystem für Bewegung mehr haben, können wir feststellen: Gegenstand A bewegt sich und Gegenstand A bewegt sich nicht. Keine Aussage ist wahrer als die andere.

Der zweiwertigen Logik nach ist dieser Satz eine Kontradiktion, die immer falsch ist.

Anregung: Wenn Sie das nächste Mal in einem Auto sitzen, machen Sie Folgendes (Es sei denn, Sie fahren selbst!): Lassen Sie Ihre linke Hand bewegungslos auf Ihrem linken Oberschenkel liegen. Heben Sie die rechte Hand hoch und bewegen Sie sie kreisförmig. Bezogen auf Ihren Körper und das Innere des Autos ist Ihre linke Hand unbewegt, Ihre rechte Hand bewegt. Bezogen auf die Straße, auf der das Auto fährt, sind aber beide Hände bewegt. Und wenn das Auto an einer Ampel hält, während andere Autos, zum Beispiel Rechtsabbieger, an Ihnen vorbeifahren, ist Ihr Auto bezogen auf die Umgebung unbewegt, die anderen Autos bewegt. Würden Sie hier keinen Unterschied machen (können) – da sich ja nun mal alle Autos auf der Erde mit dieser um die Sonne bewegen –, könnten Sie viele Tatbestände in der Welt nicht mehr beschreiben und nicht mehr sachgerecht handeln.


Wie Dinge und Eigenschaften sind und gleichzeitig nicht sind

Die Relativität von Eigenschaften

Alle materiellen Dinge (und im übertragenen Sinne auch alle anderen Erscheinungen) sind groß und klein auf einmal. Es kommt nur darauf an, innerhalb welchen Bezugsrahmens man es betrachtet. Ein Stuhl ist im Vergleich zu einem Haus klein, im Vergleich zu einem Filzstift aber groß. Es ist sinnlos zu sagen, »Aber letztlich ist der Stuhl eben doch groß«, oder »Der Stuhl ist doch eher groß als klein.«

»Der Stuhl ist groß« und »Der Stuhl ist klein.« Keine der beiden Aussagen ist wahrer als die andere.

Wir haben es hier mit einem Widerspruch zu tun, der nicht das Ergebnis ungenügenden Denkens ist. Im Gegenteil: Es scheint so zu sein, dass unser Verstand Widersprüche nicht mag, dass er versucht, Widersprüche zu beseitigen, die Welt aber widersprüchlich ist, ob es unserem Verstand nun passt oder nicht.

Die Begriffe »klein« und »groß« haben nur einen Sinn, wenn sie beide vorhanden sind. Es ist etwas nur groß im Vergleich zu etwas, das klein ist, und es ist etwas nur klein im Vergleich zu etwas, das groß ist. Der Begriff »klein« ist für sich allein so sinnlos wie der Begriff »groß«. Auch wenn in einem Satz oder einer ganzen Geschichte nur einer dieser beiden Begriffe vorkommt, ist der andere immer stillschweigend mit vorhanden.

Genauso wie bei den Begriffen »klein« und »groß« ist es bei sehr vielen Gegensatzpaaren. Hier noch ein Beispiel mit den Gegensätzen »hell und dunkel«.

Blinde kennen keine Dunkelheit: Es gibt Menschen, die von Geburt an blind sind. Als sehender Mensch glaubt man in der Regel, diese Menschen würden in Dunkelheit leben. Sie würden ihren Zustand so erleben, wie man es als Sehender erlebt, wenn es stockfinstere Nacht ist oder man sich fest die Augen zuhält. Das ist aber falsch! Wenn Geburtsblinde darauf angesprochen werden, dann verneinen sie, in Dunkelheit zu leben. Es ist in ihrer Welt nicht dunkel. Sie haben nie Helligkeit kennengelernt und haben deshalb keine Vorstellung davon, was Dunkelheit ist. Einem Geburtsblinden erklären zu wollen, was Dunkelheit ist, ist genauso aussichtslos, wie ihm erklären zu wollen, was Rot, Grün, Blau und Gelb ist.

Wenn nun jemand einwendet: »Tatsächlich lebt der aber in Dunkelheit. Er weiß es nur nicht. Denn es ist nun mal entweder hell oder dunkel. Etwas Drittes gibt es ja gar nicht.«, dann schließt er von seinem subjektiven Erleben auf das subjektive Erleben anderer. Dunkelheit und Helligkeit sind keine physikalischen Zustände.


Gleich und ungleich zu gleich

Alle Menschen sind gleich und doch sind alle Menschen ungleich. Man wird nie zwei Menschen finden, an denen nicht irgendetwas gleich und irgendetwas ungleich ist. Jeder Mensch hat einen Kopf und ein Gehirn darin. Dies ist allen Menschen gleich. Aber auch jeder Mensch hat seine ganz spezifischen Erbanlagen. Seine Chromosomen sind in ihrer spezifischen Struktur einzigartig.

Wenn nun daraus, dass es nicht zwei Menschen gibt, die überhaupt nichts Trennendes haben, der Schluss gezogen wird »In letzter Instanz sind eben alle Menschen ungleich«, dann könnten Sie das Wort »gleich« aus unserer Sprache streichen, denn wir werden nie zwei Dinge finden, die überhaupt nichts Trennendes haben. Aber ohne den Begriff »gleich« verliert auch der Begriff »ungleich« seinen Sinn.

Ob etwas gleich oder ungleich ist, hängt von dem Bezugsrahmen oder der praktischen Absicht ab. Wenn ich zum Beispiel einen Karton mit einigen tausend Büroklammern nehme und sage, das sind alles die gleichen Büroklammern, dann ist dies völlig in Ordnung, wenn ich das Ziel habe, einzelne Blätter zusammenzuhalten. Sähe ich mir aber diese Büroklammern unter einem Mikroskop an, dann würde ich sehen, dass nicht zwei Büroklammern gleich wären.

Ob alle Menschen gleich oder ungleich sind, hängt von der praktischen Absicht ab. Wenn die Verfassung verkündet, alle Menschen sind gleich, dann ist dies eine von mir unterstützte ethische Grundlage der Gesellschaft. Alle Menschen können Freude und Leid erleben, alle Menschen sollen gleichberechtigt am demokratischen Leben teilnehmen können. Wenn aber ein Arzt, der Bluttransfusionen vornimmt, sagen würde, alle Menschen sind gleich, dann wäre dies ein tödlicher Irrtum.


Gegensätzliche Gefühle wechseln

Die Relativität hat allerdings ihre Grenzen dort, wo es um unmittelbar erlebte subjektive Eigenschaften geht. Wenn ich hungrig bin, dann bin ich nicht gleichzeitig nichthungrig, wenn ich Schmerzen haben, dann habe ich nicht gleichzeitig Schmerzfrei.

Aber ich verändere mich ständig und schwanken zwischen Hunger und Nicht-Hunger. Wenn ich die Bewegung hinzuziehen, dann stimmt es wieder, dann bin ich das Eine wie das Andere. Außerdem ist die Frage, ob wir einen Zustand richtig begreifen, ihn von anderen abgrenzen können, wenn wir nicht seine Abwesenheit, sein Gegenteil kennen. Um es mit dem Schweizer Schriftsteller Jakob Bosshart (1862–1924) zu sagen: »Wäre der Tod nicht, es würde keiner das Leben schätzen. Man hätte vielleicht nicht einmal einen Namen dafür.«


Vergangenheit und Zukunft

Wenn man sich auf das konzentriert bzw. beschränkt, was man unmittelbar erlebt, dann erlebt man sich immer im Jetzt, nie in der Vergangenheit oder Zukunft. Ob es Vergangenheit und Zukunft überhaupt gibt – oder nur ein ewiges Jetzt mit immer neuen Inhalten –, hängt davon ab, wie man es gerade »sieht«. Vergangenheit und Zukunft existieren und existieren nicht. Je nachdem, in welchem Bezugsrahmen darüber ein Urteil gefällt werden soll.


Die Relativität von Dingen

Was für die Eigenschaften der Dinge und Erscheinungen gilt, gilt das auch für die Dinge und Erscheinungen selbst? Besteht ein Ding überhaupt aus mehr als seinen Eigenschaften?

Nach Hume ist es ein in allen Menschen wohnender innerer Zwang, hinter den Eigenschaften – nur die können wir wahrnehmen – eine Substanz anzunehmen. Die Substanz sei letztlich eine Vermutung.


Nehmen wir einen Wald. Wälder gibt es (noch). Ich gehe des Öfteren durch welche spazieren. Aber der Wald besteht aus Bäumen. Eigentlich sind es doch die Bäume, die existieren, nicht der Wald (den man ja bekanntlich manchmal vor lauter Bäumen nicht sieht). Der Wald ist eine Abstraktion oder eine Zusammenfassung meines Geistes. Aber der Baum besteht wiederum aus Laub, Ästen, Rinde, Wurzeln usw. Dieses alles wieder aus Zellen, diese aus Molekülen, diese aus Atomen usw. usf. Wenn ich nun immer weiter ins Kleine vorstieße, bliebe dann zum Schluss überhaupt noch etwas, wovon ich sagen könnte, es existiere nicht als meine Zusammenfassung?

Es ist immer nur eine Frage der Betrachtung, des Bezugsrahmens oder der praktischen Absicht, ob ein Ding oder eine Erscheinung existiert oder nicht existiert. Je nachdem aus welchem Blickwinkel man es gerade betrachtet. Mit der zweiwertigen Logik ist das allerdings nicht vereinbar. Das ist dialektische Logik.


Materie und Geist

Ist das Sein primär materiell oder primär geistig? Beide Standpunkte haben gute Argumente. Der naturwissenschaftliche Betrachter mag sagen, Geist gibt es nur, wo eine physiologische Grundlage für ihn existiert, und der philosophische Betrachter mag sagen, Materie gibt es nur als Vorstellung des Geistes. Beide mögen recht haben, je nachdem, wie man es gerade »sieht«, mit welchem praktischen Ziel man es gerade beurteilt.

Und möglicherweise ist es sogar unabhängig von unserem menschlichen Dafürhalten im Sein tatsächlich so, dass Materie und Geist so zusammenhängen, sich gegenseitig bedingen, dass das Eine ohne das Andere nicht existieren kann, und dass es unmöglich ist, zu sagen, das Eine sei primär, das Andere sekundär. (Sehen Sie dazu auch  Dualismus.)

Wenn es so ist, dass Materie und Energie, also Bewegung, untrennbar sind, das Eine ohne das Andere nicht existieren kann, ja beides sogar identisch ist bzw. ineinander umschlägt (E = mc²), warum sollte das Gleiche dann nicht auch für Materie und Geist gelten?


Subjektives und Objektives

Und so mag es auch mit dem Subjekt-Objekt-Problem sein. In meinem unmittelbaren Erleben unterscheide ich zwischen Subjekt und Objekt . Durch kritisches Denken komme ich dann zu dem Ergebnis, dass alles Objektive ein subjektives Erlebnis ist (Möglichkeit des Solipsismus), und es folgt die Frage, ob es denn überhaupt etwas Objektives gibt. Aber durch weiteres Nachdenken komme ich zu dem Ergebnis, dass ich alles, was ich als subjektiv betrachte, objektivieren kann, zum Objekt meiner Betrachtung und meines Nachdenkens machen kann, einschließlich des Betrachtens und Denkens selbst. Ist es da nicht sinnvoll, zu sagen:

Alles ist subjektiv und alles ist objektiv. Es kommt nur darauf an, wie man es gerade »sieht«.



Wer bin ich?

Und wenn ich hier erst einmal angekommen bin, wird auch das »Ich« problematisch. Wer oder was bin »Ich« eigentlich? Ich bin ein erlebendes Wesen. Wenn ich alle Erlebnisse streichen würden (was gar nicht möglich ist), dann bliebe gar kein »Ich« mehr übrig (siehe  Psychologischer Aktualismus). Ich bin identisch mit meinen Erlebnissen. Diese Erlebnisse ändern sich aber ständig. Neue kommen, alte verschwinden. Einige dieser Erlebnisse, die besonders stabil sind, die sich im Vergleich zu anderen nur sehr langsam ändern, die sind es, die Sie mit den Namen »Ich« bezeichnen.

Ich habe mal darüber nachgedacht, ob ich eigentlich noch der Mensch bin, der ich in meiner Jugendzeit war. Damals war ich ein sehr unreifer, ungebildeter, auf einem qualitativ anderen geistigen Niveau existierender Hilfsarbeiter ohne Volksschulabschuss. Die Veränderungen, die ich seitdem durchlaufen habe, sind stärker als bei den meisten anderen Menschen. Bin ich also noch der, der ich damals war? Ich bin es und ich bin es nicht!

Das berühmteste Zitat  Heraklits: »In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht, wir sind es und wir sind es nicht.« Wenn wir in einen Fluss steigen, in den wir Tage oder gar Jahre vorher gestiegen sind, dann hat er sich mehr oder weniger verändert, es ist der gleiche Fluss, aber doch nicht der gleiche Fluss. Auch wir selbst haben uns verändert. Wir sind es und wir sind es nicht.


Die buddhistische Dharma-Lehre

Dass sich alles ständig ändert, in jedem Moment schon wieder anders ist als im Moment davor, haben auch andere Philosophen in anderen Kulturkreisen erkannt, zum Beispiel der ungefähr zeitgleich mit dem Griechen Heraklit lebende Inder Siddhartha Gautama, der später den Ehrentitel »Buddha« erhielt, zu Deutsch »der Erleuchtete«. (Heraklit und Buddha haben voneinander nichts gewusst. Es gibt jedenfalls keinerlei Hinweise darauf.)

Im Buddhismus werden die letzten Bestandteile allen Seins, aus denen alles zusammengesetzt ist, »Dharmas« genannt. Diese Dharmas sind aber weder mit den  demokritischen Atomen noch mit den  leibnizschen Monaden zu vergleichen. Dharmas sind weder Materiepartikel noch Bewusstseinspartikel. Ein Dharma ist auch nicht etwas ständig Daseiendes, sondern etwas, das kurz aufblitzt und sofort wieder verschwindet. Dauerhaftes, fortwährendes Sein gibt es gar nicht. Nur der Augenblick ist real. Das Universum ist ein ununterbrochener Strom einzelner Seinsmomente, ein Kontinuum der Vergänglichkeit.

Deshalb gibt es auch kein dauerhaftes Ich ( Psychologischer Aktualismus), kein dauerhaftes Bewusstsein. Auch Ich und Bewusstsein vergehen und entstehen in jedem Augenblick neu. Nur die Geschwindigkeit, mit der dieser Prozess abläuft, und die Vernetzung der einzelnen Seinsmomente erzeugt die Täuschung, es gäbe ein dauerhaftes Ich und ein dauerhaftes Sein. Die Zeit ist ein Aufeinanderfolgen lauter Einzelmomente und nicht ein kontinuierliches Fließen. Zur Dialektik Heraklits, nach der die Dinge sind und gleichzeitig nicht sind, scheint Buddha gedanklich nicht vorgedrungen zu sein.


Seelenwanderung

Hier lässt sich nun die Frage anschließen, ob ich vor meiner Geburt schon existiert habe und nach meinem Tode existieren werde. Nehmen wir mal an, der Seelenwanderungsglaube wäre richtig, nehmen wir mal an, es gäbe einen Kern, der durch alle Inkarnationen identisch geblieben war, ist und bleibt. War ich in den früheren Leben das Ich, das ich heute bin? Werde ich in zukünftigen Leben das Ich sein, das ich heute bin? Ich war es und ich war es nicht. Ich werde es sein und ich werde es nicht sein.


Weltbewusstsein

Wenn die Welt – wie in vielen Religionen und philosophischen Strömungen angenommen – nur im Geist existiert, wenn es ein alles umfassendes Weltbewusstsein gibt, das sich in viele individuelle Einzelbewusstseins aufgespaltet hat, dann wäre ich auch das Du und wäre es doch nicht. Es gäbe nur ein Bewusstsein und gäbe doch viele. Ich wäre der ganze  Weltgeist und doch nur ein Teil von ihm.

Ich bin die Summe meiner Erlebnisse. Aber auch die Welt ist die Summe meiner Erlebnisse. Trotzdem unterscheide ich zwischen mir und der Welt. Ich bin die ganze Welt und doch nur ein Teil von ihr. Und vielleicht bin ich darüberhinaus das ganze Sein und doch nur ein Teil von ihm, vielleicht bin ich der Schöpfer und doch das Geschöpfte.


Das Sein und das Nichts

Gibt es etwas, das bei all der Veränderung, bei aller dialektischen Bewegung und Widersprüchlichkeit, bei aller Relativität bleibt? Einen Kern des Seins, auf den die Dialektik der Identität von Sein und Nichtsein nicht anwendbar ist? (Sind die Gesetze der Dialektik selbst etwas, das außerhalb der dialektischen Relativität und Veränderung steht?) Oder ist es so, wie Hegel und Heidegger sagen: »Das Sein und das Nichts sind das Gleiche.« (Und gleichzeitig doch nicht das Gleiche!) Ich weiß es nicht. Es sprengt mein Vorstellungs- und Denkvermögen. Ich kann lediglich sagen, dass meine bisherigen Gedanken mich dahin geführt haben, diese dialektische Aussage nicht für so völlig absurd, sondern zumindestens für überlegenswert zu halten.


Verschiedene Wirklichkeiten

Das Sein mag aus verschiedenen, einander ausschließenden Wirklichkeiten bestehen. Verständlich machen möchte ich diese  Hypothese, indem ich sie mit einer Aussage der  Relativitätstheorie vergleiche.

Die Krümmung des Universums, die Existenz eines grenzenlosen und trotzdem endlichen Raumes kann man sich nicht vorstellen. Die in populärwissenschaftlichen Fernsehsendungen aufgeblasenen Luftballons, die das expandierende, in sich gekrümmte All demonstrieren sollen, sind eher eine Irreführung als eine Erkenntnishilfe. Man sieht ein kugelförmiges Weltall und fragt sich unwillkürlich, was denn nun außerhalb dieses Weltalls ist. Aber der Relativitätstheorie nach gibt es kein Außerhalb, denn das Universum ist nicht kugelförmig. Ein gekrümmter Raum widerspricht unserem Raumempfinden und ist deshalb unvorstellbar.

»Vorstellen« bedeutet, vom Wortursprung her, etwas »vor sich stellen«, es damit anschaulich machen. Aber einen gekrümmten Raum kann man sich nicht anschaulich machen. Man kann nur gedanklich auf ihn schließen. Der englische Physiker Paul Davis schreibt, die Relativitätstheorie könne man erst dann verstehen, wenn man darauf verzichte, sie sich anschaulich machen zu wollen.

Ähnlich verhält es sich mit meinen verschiedenen Wirklichkeiten. Wenn man ausgehend von einem naiven Realismus oder auch kritischen  Realismus bzw.  Materialismus die uns umgebende Raum-Zeitliche Wirklichkeit »und« alles was in ihr ist (die Wirklichkeit ist identisch und gleichzeitig nicht identisch mit ihren Inhalten) als ein auch unabhängig vom denkenden Betrachter existierendes objektives Faktum ansieht und nun versucht, neben diese Wirklichkeit noch eine andere, diese Wirklichkeit ausschließende Wirklichkeit zu stellen, dann ist dies unmöglich. Zwei sich gegenseitig ausschließende, unabhängig von uns existierende Wirklichkeiten kann man sich nicht gleichzeitig existierend vorstellen. Man kann nur gedanklich darauf schließen, dass es aus verschiedenen geistigen Blickwinkeln verschiedene, einander ausschließende Wirklichkeiten gibt, die gleichzeitig, oder zeitlos, vorhanden sind. Mehr nicht.

Die Quantenphysik sagt, dass Quanten verschiedene Zustände gleichzeitig einnehmen und scheinbar erst durch unsere Beobachtung auf eine bestimmte Wirklichkeit festgelegt werden! Auch in diesem unvorstellbar kleinen Bereich scheinen wir, sobald wir erkennend in ihn vordringen, Wirklichkeit zu schaffen.



Aber irgendwie muss es doch schließlich sein!?

Wenn nun jemand sagt, wir Menschen könnten zwar nicht überall entscheiden, ob es so oder so ist, aber einen wie auch immer gearteten tatsächlichen eindeutigen Zustand müsse das Sein und seine einzelnen Bestandteile ja nun mal haben, dann schließt er von seinem Denken auf das Sein! Wir Menschen denken so.

Unser Verstand funktioniert so, dass es überall und immer einen eindeutigen Zustand geben muss, ob wir ihn nun kennen oder nicht. Wahrscheinlich denken wir so, weil wir in unserem praktischen Leben eindeutige Tatsachen als Handlungsgrundlage brauchen.


Wir können schlecht planen, wenn wir sagen würden: »Eventuell gibt es den Supermarkt am Ende der Straße, eventuell gibt es den aber auch nicht.« Aber was unser aus dem praktischen Leben hervorgegangener Verstand noch wert ist, wenn wir über das Sein schlechthin nachdenken, das wissen wir nicht.

Einige könnten eine solche Einsicht als Rechtfertigung für irrationale Glaubenssätze ansehen. Aber über den Alltagsverstand, über die zweiwertige Logik hinaus gedanklich zur Dialektik vorstoßen, bedeutet nicht, seinen Verstand aufzugeben.

Über die Vernunft hinaus! Aber nicht hinter die Vernunft zurück!



Einige weitere Aspekte der Dialektik

Aufheben

Interessant im Zusammenhang mit der These von der Existenz und gleichzeitigen Nichtexistenz von Gegenständen und Eigenschaften ist Hegels Vorstellung vom Prozess des Aufhebens.

Das Wort Aufheben hat in der hegelschen Dialektik die dreifache Bedeutung, die es auch in der deutschen Sprache hat:

Aufheben im Sinne von »Beseitigen«: Ein Gesetz aufheben.

Aufheben im Sinne von »Bewahren«: Ein Foto aufheben.

Aufheben im Sinne von »Hinaufheben«: Ein gefallenes Kind aufheben.

Bei der Beurteilung eines Menschen, eines Dinges oder eines Ereignisses schlagen wir oft von einem Extrem ins andere, um dann am Ende zu einer »goldenen Mitte« zu finden, die aber mehr ist als einfach nur ein Kompromiss zwischen den anfänglichen Extrempositionen. These und Antithese werden »aufgehoben«. Es entsteht die Synthese.


Die Einheit und der Kampf der Gegensätze

In der dialektischen Sicht des Seins ist dieses von Gegensätzen, von Widersprüchen durchzogen. Die Widersprüche sind die Triebkraft der Bewegung und Bewegung ist die Voraussetzung von Existenz.

Natur: Nach dem heutigen Erkenntnisstand sind Atome Energiebündel. Die Materie existiert nur, weil sich etwas bewegt (was auch immer das sein mag).

Gesellschaft: Gesellschaftliche Institutionen wie Staat und Familie haben keine materielle Existenz wie zum Beispiel ein Haus oder ein Baum. Sie existieren dadurch, dass Menschen sich in einer bestimmten Weise verhalten und in diesem Verhalten, sprich »Bewegen«, Regelmäßigkeiten sind. Die Bundeskanzlerin ist deshalb Bundeskanzlerin, weil die Menschen es so sehen, es anerkennen.

Individuum: Das Wesen des Menschen (soweit mein Erkenntnisvermögen reicht) ist seine Bedürftigkeit. Ein Bedürfnis ist ein Widerspruch zwischen dem tatsächlichen Zustand und einem gewünschten Zustand. (Ich habe Hunger und will nichthungrig sein. Ich bin ohne Schmerz und will keine Schmerzen haben.) Aus diesem Widerspruch entsteht menschliches Handeln. Das Streben, Bedürfnisse zu befriedigen, ist der Wille. Ohne Widersprüche kein Bedürfnis, kein Wille, keine Handlung, sprich: keine Bewegung.


Das Umschlagen quantitativer in qualitative Veränderungen

Quantitative Veränderungen schlagen ab einer bestimmten Stufe in qualitative Veränderungen um.

Natur: Wasser verändert seinen flüssigen Zustand nicht, solange es eine Temperatur zwischen (je nach Luftdruck) 0 und 100 Grad hat. Darunter aber wird es fest, darüber gasförmig.

Gesellschaft: Kleine Reformen auf politischem und sozialem Gebiet verändern eine Gesellschaft noch nicht grundlegend. Hält eine solche Entwicklung aber über einen längeren Zeitraum an, entsteht eine neue Qualität von Gesellschaft, eine Entwicklung, die in den letzten 100 Jahren in Westeuropa vor sich gegangen ist.

Individuum: Das quantitative Anhäufen von Wissen kann nach einer gewissen Zeit zu einer qualitativen Veränderung des Bewusstseins, des intellektuellen Niveaus eines Menschen führen. Diese Entwicklung geht normalerweise bei jedem Menschen bei der Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen vor sich. Diese qualitativen Sprünge können auch mehrfach stattfinden. (Ich weiß aus eigener Erfahrung sehr gut, was das bedeutet.)

Die Entstehung neuer Bewusstseins-Qualitäten ist das wirklich Wichtige und Erstaunliche am intellektuellen Fortschritt.


Es ist darüber hinaus nach meiner Auffassung der einzige erkennbare Sinn und die einzige Rechtfertigung für die gesamte Evolution des Lebens zu höheren Formen und der Qualen, die diese Höherentwicklung mit sich bringt. Um es mit Alexander von Humboldt zu sagen: »Wissen und Erkennen sind die Freude und die Berechtigung der Menschheit.«

Vom Niederen zum Höheren

Der Dialektik nach gibt es eine gesetzmäßige Entwicklung vom Niederen zum Höheren, von einfachen zu komplexeren Strukturen. Der heutige Erkenntnisstand der Naturwissenschaft stützt im Kern diese Auffassung.

Höherentwicklung der Materie: Nach dem Urknall entstanden Wasserstoffatome. Diese ballten sich zu Sonnen, in deren Zentren und bei deren Explosionen (Supernovae) alle höheren Atome bzw. chemischen Elemente zusammengebacken bzw. zusammengepresst wurden. Als Nächstes entstanden Atomverbindungen, sprich Moleküle. Wo es die Umweltbedingungen zuließen, immer komplexere Moleküle bis hin zu Zellen und den sich selbst replizierenden Großmolekülen, der DNS, als Träger von Erbinformationen.

Höherentwicklung des Lebens: In der Evolution des Lebens auf diesem Planeten ist eine Entwicklung von einfachen zu komplexeren Lebewesen feststellbar. Von der Zelle ohne Zellkern zu der mit Zellkern. Vom Einzeller zum Mehrzeller. Von der Nervenzelle zur Zusammenballung vieler Nervenzellen, daraus die Entstehung der Gehirne und ihre Vergrößerung.

Höherentwicklung des Bewusstseins: Damit dann – wie viele Naturwissenschaftler und die  Materialisten annehmen – die Entstehung des Bewusstseins. Die quantitative und qualitative Weiterentwicklung des Bewusstseins bzw. seiner Inhalte bis zu der heute in den gebildeten Menschen in Form von Wissenschaft und Philosophie realisierten Form.

Objektives Wissen: Dadurch wird die Entstehung »Objektiven Wissens« ermöglicht, wie  Popper es nennt, dem Wissen, das in Bibliotheken, Archiven, Dokumentationen, Computern gespeichert und oft in keinem Gehirn präsent ist.

Höherentwicklung der Ethik: Es gibt eine ethische Höherentwicklung in der Geschichte, aber leider nicht im Sinne eines Automatismus, nicht im Sinne einer Unumkehrbarkeit, nicht in dem Sinne, dass es etwa heute keine Verbrechen mehr gäbe. Aber je größer der allgemeine Zivilisierungsgrad eines Menschen bzw. einer Menschengruppe, desto höher ist tendenziell ihre Ethik. Es gab in der Antike keine Haager Landkriegsordnung, keine Genfer Konvention, keine Menschenrechtskataloge. Aber es gab die Anfänge. Die  Stoiker forderten bereits eine allgemeine Menschenliebe, als es noch üblich war, feindliche Völker zu versklaven oder zu vernichten. Im Mittelalter waren Folter und Krieg nicht problematisiert. Lediglich einzelne Personen kritisierten solche Dinge. In ihnen kündigten sich zukünftige Entwicklungsphasen der Menschheit an.

Im Verlaufe der Entwicklung vom Niederen zum Höheren kommt es zu »Dialektischen Sprüngen«, es entsteht dann etwas Neues, das vorher nicht da war. In Anlehnung an einen Begriff aus der marxistischen Ökonomie nennt man es auch etwas ironisch den »ontologischen Mehrwert«. Da es sowohl  idealistische wie  materialistische Dialektiker gibt, gibt es unterschiedliche Vorstellungen darüber, was im Einzelnen neu entsteht.

Ontologischer Mehrwert: Die Marxisten als  Materialisten sehen das Bewusstsein als Ergebnis eines dialektischen Sprunges. Ab einem bestimmten Entwicklungspunkt des Gehirns entstehe etwas, das vorher nicht war: Bewusstsein. Dieses habe zwar zur Voraussetzung physiologische Prozesse, sei aber selbst etwas nicht Physiologisches, sondern etwas gänzlich anderes. Nach Lenin ist es das einzig Immaterielle überhaupt.

Kategoriales Novum: Der deutsche Philosoph Nicolai Hartmann sieht das ähnlich. Im Verlauf der Entstehung höherer Schichten würden neuartige Kategorien auftauchen, die in den niederen Schichten noch nicht waren. Hartmann nennt dies  »Kategoriales Novum«.

Einen dialektischer Sprung hat es gegeben bei der Entwicklung vom Affen zum Menschen.


Wir Menschen haben ein dreimal so großes Großhirn wie unsere nächsten Verwandten im Tierreich, die Schimpansen. Wir sind deshalb aber nicht einfach dreimal so klug wie die Schimpansen. Es ist nicht so, dass wir Menschen alles, was die Schimpansen können und wissen, dreimal so gut können und wissen. Nein, wir sind ein qualitativer Sprung. Wir haben Zugang zu Seinsbereichen, von deren Existenz die Affen keinen blassen Schimmer haben. Wir Menschen haben diese höheren Seinsbereiche zum Teil überhaupt erst geschaffen: Wissenschaft, Philosophie, Bücher, Internet etc. Diese Bereiche befinden sich außerhalb des geistigen Horizonts aller anderen Lebewesen auf diesem Planeten.

Warum sollten qualitative Sprünge wie vom Affen zum Menschen nicht auch in der zukünftigen Evolution auftreten?


Um es mit Friedrich Schlegel zu sagen: »Es ist der Menschheit eigen, dass sie sich über die Menschheit erheben muss.« Sehen Sie hierzu bitte auch meine Essay-Sammlung Über die Notwendigkeit der Entstehung höherer Arten


Kommentare und Aphorismen zur Dialektik

Folgende Zitate sind dialektische Aussagen. Aber nicht jeder der hier Zitierten muss sich dessen bewusst gewesen sein.

Aristoteles: »Denken und Sein werden vom Widerspruch bestimmt.«

Boethius: »Aber willst du, dass wir die Gründe für und wider aufeinander prallen lassen? Vielleicht mag aus solchem Streit ein schöner Funke der Wahrheit hervorspringen.«

Jakob Bosshart: »Wer nie in Banden war, weiß nichts von Freiheit.«

Engels: »Die Dialektik, die sog. objektive, herrscht in der ganzen Natur, und die sog. subjektive Dialektik, das dialektische Denken, ist nur Reflex der in der Natur sich überall geltend machenden Bewegung in Gegensätzen, die durch ihren fortwährenden Widerstreit und ihr schließliches Aufgehen ineinander, resp. in höhere Formen, eben das Leben der Natur bedingen.« »Für den Metaphysiker sind die Dinge und ihre Gedankenabbilder, die Begriffe, vereinzelte, eins nach dem andern und ohne das andre zu betrachtende, feste, starre, ein für allemal gegebne Gegenstände der Untersuchung. Er denkt in lauter unvermittelten Gegensätzen; seine Rede ist ja, ja, nein, nein, was darüber ist, das ist vom Übel. Für ihn existiert ein Ding entweder, oder es existiert nicht: Ein Ding kann ebenso wenig zugleich es selbst und ein andres sein. Positiv und negativ schließen einander absolut aus; Ursache und Wirkung stehen ebenso in starrem Gegensatz zueinander. Diese Denkweise erscheint uns auf den ersten Blick deswegen äußerst einleuchtend, weil sie diejenige des sogenannten gesunden Menschenverstands ist. Allein der gesunde Menschenverstand, ein so respektabler Geselle er auch in dem hausbacknen Gebiet seiner vier Wände ist, erlebt ganz wunderbare Abenteuer, sobald er sich in die weite Welt der Forschung wagt; und die metaphysische Anschauungsweise, auf so weiten, je nach der Natur des Gegenstands ausgedehnten Gebieten sie auch berechtigt und sogar notwendig ist, stößt doch jedes Mal früher oder später auf eine Schranke, jenseits welcher sie einseitig, borniert, abstrakt wird und sich in unlösliche Widersprüche verirrt, weil sie über den einzelnen Dingen deren Zusammenhang, über ihrem Sein ihr Werden und Vergehn, über ihrer Ruhe ihre Bewegung vergisst, weil sie vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht.«

Goethe: »Das Gleiche lässt uns in Ruhe, aber der Widerspruch ist es, der uns produktiv macht.«

Aurobindo Ghose: (Sri Aurobindo) »Nur jene Gedanken sind wahr, deren Gegenteil in seiner Zeit und an seinem Platz ebenfalls wahr ist; unbestreitbare Dogmen sind die gefährlichste Art von Lüge

Hegel: »Der Widerspruch ist das Erheben der Vernunft über die Beschränkungen des Verstandes

Heraklit: »In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht, wir sind es und wir sind es nicht.«

Ricarda Huch: »Das Leben ist voll von Widersprüchen, und von jeder Wahrheit ist auch das Gegenteil wahr.«

Laozi: »Denn Sein und Nichtsein erzeugen einander. Schwer und Leicht vollenden einander. Lang und Kurz gestalten einander. Stimme und Ton vermählen einander. Vorher und Nachher folgen einander.«

Otto von Leixner: »Lust und Leid sind siamesische Zwillinge. Sie können nur zusammen leben. Könnte man alles Leid ausrotten, so dämpfte sich die Lust allmählich ab zu ödem Einerlei ertötender Gleichgültigkeit.«

Paul Richard Luck: »Man braucht eine Sache nicht zu drehen und zu wenden, um sie von der Seite der Lüge oder der Wahrheit zu betrachten. Alles ist hundertmal wahr und hundertmal falsch. Die subjektive Perspektive ist alles.«

Michel de Montaigne: »Die meinigen widersprechende Urteile regen mich nicht auf und beleidigen mich nicht; sie regen mich nur an und setzen mich in Tätigkeit.«

Johann Nepomuk Nestroy: »Je tiefer ich in meinen Ideen das Senkblei auswerfe, desto mehr finde ich in mir den Abgrund der Widersprüche.«

Schelling: »Jedes Wesen kann nur in seinem Gegenteil offenbar werden, Liebe nur in Hass, Einheit in Streit.«

Gerhard Uhlenbruck: »Was Gesundheit ist, kann nur ein Kranker ermessen.«


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