Nicolai Hartmann (18821950) war ein deutscher Philosoph, Professor in Marburg, Köln, Berlin und Göttingen. Er war ursprünglich Neukantianer der Marburger Schule (Cohen und Natorp waren seine Lehrer), wandte sich dann unter dem Einfluss der Phänomenologie Husserls und Schelers vom Neukantianismus ab und versuchte eine neue Ontologie zu begründen. Sein System, besonders die Erkenntnistheorie, wird auch kritischer Realismus genannt. [1] Er wird der »Neuen Metaphysik«, bzw. »Neuen Ontologie« zugerechnet. Hartmann war zu seinen Leb- und Schaffenszeiten einer der bedeutendsten Philosophen in Deutschland. (Zu seinen Hörern gehörte auch Hoimar von Ditfurth.) Heute ist er weitgehend nur noch Spezialisten bekannt.
Erkenntnis ist für Hartmann nicht ein Schaffen, sondern ein geistiges Erfassen von etwas, das vor der Erkenntnis bereits vorhanden sei. (Klare Absage an den Subjektiven Idealismus, an Cohens Vorstellung, Erkennen sei Erzeugen.) Es gebe ein unmittelbares Widerstandserlebnis, das zu einem nicht zu verleugnenden Betroffensein führe, welches nicht von uns geschaffen, sondern vorgefunden werde. [Woher nimmt er diese Sicherheit?] Erkenntnis sei eine besondere Relation zwischen einem erkennenden Seiendem (Subjekt) und einen erkannten Seiendem (Objekt.)
Was wir dann hätten, seien aber nur die Erscheinungen, nicht das Wesen der Dinge. wie bei Kant. Hartmann kehrt faktisch zum Ding an sich zurück, das im Neukantianismus aufgegeben worden war.
Die Welt sei weder völlig unerkennbar noch völlig erkennbar. Man müsse die Grenze des Erkennens bestimmen und versuchen, sie ins Unerkannte zu verschieben. Unsere Begriffe blieben hypothetisch, müssten sich bewähren. Und neben dem uns Bekannten gebe es immer noch einen großen Bereich des Nichterkannten. Erkenntnistheoretisch gebe es drei Bereiche: Hartmann sah sich als Systematiker, glaubte aber nicht an die Abgeschlossenheit eines Systems. Statt geschlossener Systeme würden in der Philosophiegeschichte immer wieder die im wesentlichen gleichen Systeme von Fragen und Problem auftreten. Seine Philosophie verstand er als Problemdenken. Nach Hartmann gibt es vier Stufen der philosophischen Analyse: Metaphysik mit a priorischem Wissen, mit Universalien-Realismus sei seit Kant nicht mehr möglich. Heutige Ontologie müsse kritische Ontologie sein. Sie müsse aus Erfahrung hervorgehen. Hier zeigt sich eine Nähe zur Induktive Metaphysik. Hartmanns Ontologie ist im wesentlichen Kategorialanalyse. Die Kategorien des Seins könnten aber nicht aus den Kategorien der Erkenntnis abgeleitet werden (und auch nicht umgekehrt), denn wir könnten nicht wissen, wie groß die Übereinstimmung zwischen menschlichem Erkennen und objektivem Sein sei. Aber eine gewisse Übereinstimmung scheine es zu geben. (Ähnlichkeit zur Evolutionäre Erkenntnistheorie) Aus allen menschlichen Erfahrungen in allen Wissenschaften und allen anderen Lebensbereichen müssten die Seinskategorien herausgeschält werden. [Woher sollen wir wissen, ob die Gesamtheit aller menschlicher Erfahrungen tauglicher als die Erkenntnisse sind, Seinskategorien aus ihnen abzuleiten?] Vier Fehler in Bezug auf den Realitätsbegriff müssten vermieden werden:
Seinsaufbau nach Nicolai Hartmann | |
Primäre Sphären | Ideales Sein Zeitlosigkeit und Allgemeinheit |
Reales Sein Zeitlichkeit und Individualität | |
Sekundäre Sphären | Erkenntnis, Logik |
Das reale Sein werde vom idealen Sein als der »grundlegenden Struktur« und »allgemeinen Gesetzmäßigkeit« bestimmt.
Das Ideale Sein umfasse die mathematischen Strukturen, die Wesenheiten, die ethischen und ästhetischen Werte. [Dass ethische und ästhetische Werte losgelöst von wertenden Subjekten als etwas objektives existieren, da habe ich starke Bedenken.]
Die 4 Schichten des Realen Seins | ||
Räumliche Welt | 1. | Unorganisches |
2. | Das Leben | |
Nicht-Räumliche Welt | 3. | Die Seele |
4. | Der Geist |
Die 1. Schicht könnte man auch »Die Materie« nennen, aber Hartmann mag diesen Begriff nicht.
Die 3. Schicht, die Seele, ist ganz grob das, was man gemeinhin Gefühl nennt.
Die 4. Schicht, der Geist, ist aber nur bedingt als das zu bezeichnen, was man im allgemeinen Vernunft oder Intellekt nennt. Am ehesten träfen solche Bezeichnungen auf die 1. und 3. Art von Geist zu. Hartmann sieht drei Arten von geistigem Sein: [Hartmanns »Räumliche Welt« ist nach Popper Welt 1, seine »Nichträumliche Welt« Welt 2, mit Ausnahme des »Objektiven Geistes«, das ist bei Popper Welt 3.]
Für Hartmann gibt zwei Arten von Kategorien: Bei der Kategorialanalyse müssten drei Fehler vermieden werden:
Kategorien, die in einer bestimmten Seinsschicht feststellbar seien, dürften nicht unbedacht auf andere Seinsschichten übertragen werden. |
Fünf Schichtungsgesetze:
Wenn Kategorien niederer Seinsschichten in höheren Seinschichten wiederkehrten, so würde sie vom Charakter der höheren Seinsschicht »überformt«. Die Eigenart höherer Seinsschichten bestehe immer in einem kategorialem Novum, im Auftreten neuer Kategorien. |
In den unteren Schichten seien die breiteren basalen Kategorien, die in den höheren Seinsschichten in veränderter Form wieder auftauchen (können).
Ob die Welt von der Materie oder vom Geist her bestimmt sei, sei schon in der Fragestellung falsch. Der Geist sei gegenüber der Materie das ontisch sekundäre und damit das Schwächere und weniger dauernde. [Für mich ist das eine materialistische Aussage. Aus naturwissenschaftlicher Sicht mag dies für den menschlichen Geist zutreffen. Ob es aus philosophischer Sicht für den menschlichen Geist zutrifft oder gar für den Geist schlechthin, ist eine andere Frage.]
Es sei sinnlos hinter der uns teilweise erfassbaren Ordnungseinheit der Welt einen letzten Weltgrund oder einen persönlichen Gott zu suchen.
Der Mensch vereinige in sich das gesamte Schichtengefüge und auch die reale Welt umfasse das gesamte Schichtengefüge. Man könne den Menschen nur verstehen, wenn man die Welt erkenne und umgekehrt.
Freiheit und Kausalität: Die Kategorie Kausalität würden auf höherer Stufe »überformt«. Menschliche Freiheit sei mit Kausalität vereinbar. Nur weil es Kausalität gebe, könne der Mensch zweckbedingt eingreifen. [Das ist nicht neu. Damit ist der Widerspruch zwischen Freiheit und Kausalität aber nicht ausgeräumt.]
Es gebe drei verschiedene Seinsmodalitäten:
Dabei geht Hartmann von der Superiorität der Wirklichkeit aus. Möglich und notwendig sei etwas immer nur auf Basis oder in Abhängigkeit zu etwas wirklichem.
Ethik: Im Anschluss an Max Scheler vertrat Hartmann die materiale Wertethik. Werte existierten unabhängig von subjektiven und intersubjektiv/gesellschaftlichen Wertungen. (Ob sie nach Hartmann ein objektives Sein haben ist umstritten. Er wird hier unterschiedlich interpretiert.)
Hartmann kritisierte das teleologische Denken.
Mit seiner Abkehr vom Neukantianismus und der Hinwendung zur Ontologie wendete sich Hartmann von der Subjektphilosophie ab und der Objektphilosophie zu. Er wird aber kein vollständiger Objektphilosoph, sondern bleibt wie Kant irgendwo zwischen Subjekt- und Objektphilosophie. Am Anfang dieser Wendung stehen Argumente, wie man sie von Vertretern aller Richtungen des Naiven Realismus und Materialismus hört. Hartmann spricht von »natürlichem Realitätsbewusstsein«. Moore nannte es »Liste der Trivialitäten«, Lukács sprach von der »erkenntnistheoretischen Seite der Alltagsspontaneität«. Husserl nannte es die »natürliche Einstellung« und Scheler »unmittelbare Widerstandserfahrung«. Für das Alltagsleben haben diese Dinge ihre Bedeutung, auch für die Naturwissenschaft. Ob man aus dem »natürlichen Realitätsbewusstsein« allerdings philosophische oder gar ontologische Wahrheiten ableiten kann, ist eine ganz andere Frage. Eine unmittelbare Widerstandserfahrung kann man auch in einem Traum, in anderen Halluzinationen und in Cyberspace-Welten haben, in dem Moment wo zum Sehen Tasteindrücke hinzukommen.
Dass Hartmann eine Schichtenfolge im Sein sieht und sich gegen eine Vermischung, eine unbedachte Übertragung von Schichtengesetzen von einer auf eine andere Schicht wendet, finde ich begrüßenswert. Er unterscheidet sich in diesem Punkt z. B. von Nietzsche und anderen Sozialdarwinisten, die Gesetze der Natur in die menschliche Gesellschaft übertragen. Die von Hartmann »herausgeschälten« Kategorien haben in unserer menschlichen Welt ihren (Erkenntnis)Wert und eventuell geben sie auch objektive Tatbestände wieder. Aber die von uns Menschen gesehenen Schichten und Kategorien können eben auch menschliche Schöpfungen sein oder nur in Teilen des Seins gelten. Es mag Seinsbereiche geben, die sich völlig dem menschlichem Erkenntnisvermögen entziehen. Das sieht Hartmann ja selber so. Aber er zieht daraus nicht die Konsequenz in Erwägung zu ziehen, dass diese Schichten und Kategorien im vom Menschen unabhängig existierenden Sein keine oder eine äußerst marginale Rolle spielen.
Hartmann forderte zwar mit dem Sein die Seinsart des Werdens zu beschreiben, war aber selbst vielfach ahistorisch. Z. B. die ethischen und ästhetischen Werte sind bei ihm ja scheinbar etwas, das nicht wird, das nicht geworden ist, sondern etwas, das unveränderlich ist. Ethik und Ästhetik haben aber wahrscheinlich viel mit subjektiver und inter-subjektiver Wertung zu tun.
Nach dem gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Erkenntnisstand ist die Welt, die wir erleben, nicht die von uns unabhängig existierende Welt, sondern unser »Bild«, dass wir uns mit unserem Gehirn in unserem Bewusstsein von dieser Welt machen. (Allerdings auf Grund von Reizen aus der vom Subjekt unabhängig existierenden Welt. Insoweit ist Hartmann dichter an der Naturwissenschaft, als die Subjektiven Idealisten) »Bild« habe ich in Anführungszeichen gesetzt, da es sich bei diesem Bild nicht nur um etwas handelt, das wir sehen. Zu diesem Bild gehört auch was wir hören, riechen, schmecken und ertasten. Der Widerstand, den materielle Dinge auf uns ausüben, wenn wir gegen sie drücken, ist ein Teil dieses Bildes. Und von dem Bild, das wir uns machen, lässt sich kein letztinstanzlich sicheres, ontologisches Wissen ableiten.
Nach dem gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Erkenntnisstand ist der Mensch das Produkt einer über unvorstellbar lange Zeiträume abgelaufenen Evolution. Wir sind das gegenwärtig höchstentwickelste Lebewesen auf der Erde, jedenfalls was das Erkenntnisvermögen betrifft. Es ist vor dem Hintergrund der Evolutionstheorie aber überhaupt nicht plausibel, dass der Mensch das höchste Produkt sein soll, das die Evolution hervorbringen kann. Es können nach uns »Höhere Arten« kommen, deren Erkenntnisvermögen das unsere so weit übersteigt, wie unser Erkenntnisvermögen das der Schimpansen. Was aus deren Sicht unsere Philosophie, auch die philosophischen Auffassungen Hartmanns, Wert sein werden, können wir nicht wissen. [2] Aus Sicht des orthodoxen Marxismus-Leninismus war Hartmann ein Objektiver Idealist, der in der Erkenntnistheorie auch Subjektiv Idealistische Züge aufwies. Aber Lukács und andere Leninisten, die nicht völlig im orthodoxen Marxismus-Leninismus aufgingen, sondern sich im gewissen Umfang ihre eigenen Gedanken machten, haben Hartmann sehr geschätzt, was wohl daran liegen dürfte, dass sowohl bei Hartmann wie bei den Leninisten am Anfang faktisch der Naive Realismus steht. (Was nicht bedeutet, dass sie bei diesem stehen bleiben, sie entwickeln dann den »kritischen Realismus«.) Sowohl Hartmann wie die Leninisten lehnen die in der Neuzeit vorherrschende Subjektphilosophie ab. Auch die Entstehung neuer Seinsschichten im Verlauf der Entwicklung und die dabei entstehenden neuen Kategorien verbinden. (Bei Hartmann »kategoriales Novum« im Marxismus-Leninismus »Ontologischer Mehrwert«.) Wolfgang Stegmüller, als Vertreter der Analytische Philosophie, hat Hartmann heftig kritisiert. Anmerkungen
Kommentare anderer Philosophen zu Hartmann
Literatur
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