Die Philosophie des alten Indien


Grundsätzliches:



Die Geschichte der indischen Philosophie wird in drei Perioden unterteilt, und zwar in


Indische Philosophie will meistens keine Erkenntnis um der Erkenntnis willen sein, sondern Anleitung zum richtigen Leben und zur Erlösung. Verstandeserkenntnis hat nur eine untergeordnete Rolle. Intuition und Meditation seien die Wege zu wahrer Erkenntnis.

Im Unterschied zu europäischen Verhältnissen haben die indischen Priester nie eine weltliche Macht angestrebt oder besessen und sie haben (fast) nie nach Art einer Kirche eine geschlossene Organisation mit Hierarchie und geistigem Oberhaupt gebildet.

Es hat in der indischen Religion kein dermaßen fest umrissenes mit Absolutheitsanspruch ausgestattetes Glaubensdogma gegeben wie z. B. im Christentum. Die Toleranz und die Integrationsfähigkeit gegenüber abweichenden Vorstellungen ist deshalb größer. Gewaltsame Missionierungen und Inquisition hat es (jedenfalls in christlichen Ausmaßen) nicht gegeben. Wer das Kastensystem nicht in Frage stellte, genoss eine geradezu unbeschränkte Gedankenfreiheit.


Es werden drei Phasen der Religionsentwicklung in Indien unterschieden:

  1. Vedismus, ca. 1500–900 v. u. Z.
  2. Brahmanismus, ca. 900–400 v. u. Z.
  3. Hinduismus, ca. 400 v. u. Z. bis heute

Die Philosophie des alten Indien ausführlicher


Das vedische Zeitalter ca. 1500–400

Die Veden (ind. Wissen, sprachlich mit diesem Wort verwandt) sind Schriften, die von verschiedenen Personen zu verschiedenen Zeiten aufgezeichnet wurden. In ihnen sind mystische religiöse und philosophische Gedanken dargelegt. Der Umfang der Veda übertrifft die  Bibel um das Sechsfache. Neben bestimmten einheitlichen Grundtendenzen sind die Aussagen des Öfteren widersprüchlich.

In der »Hymnenzeit«, ca. 1500–1000 wird Indien durch arische Stämme mit indogermanischer Sprache besiedelt.

Eine Unterscheidung von Belebtem und Unbelebtem, von Personen und Sachen, von Materiellem und Geistigem wurde noch nicht vorgenommen. Naturelemente und Naturgesetze wurden als Personen gedacht.

Die ersten Keime philosophischen Denkens entstehen mit der Frage: Liegt hinter der Vielzahl der Götter ein letzter Urgrund verborgen? Zum Ende der Hymnenzeit kommt es zum ersten Zweifel an der Existenz der Götter.

In der »Zeit der Opfermystik«, ca. 1000–750, entsteht das Kastenwesen, das das hinduistische Indien [leider] bis heute prägt. Aryas (die indogermanischen Eroberer) und Tschudras (die unterworfenen Völker). Innerhalb der Aryas: Brahmanen (Priester), Kschatriyas (Krieger, Adel) und Vaischyas (Freie, Kaufleute). Noch unter den Tschudras stehen die Parias (Sklaven, unbekehrte Eingeborene). Aus ihnen sind die »Unberührbaren« hervorgegangen. Im Laufe der Zeit entwickelten sich viele weitere erbliche Unterkasten, die alle streng getrennt voneinander lebten.

Im Gegensatz zur Hymnenzeit, wo die Kschatriyas die Vormacht hatten, entsteht nun die Vormacht der Brahmanen, die aber nicht zu ihrer weltlichen Herrschaft führt. Es kommt zur Monopolisierung des Wissens. In dieser Zeit entstehen die Begriffe »Brahman und Atman«.


Siehe hierzu Die Brahman-Atman Lehre


Die nicht-orthodoxen Systeme

In der nachvedischen Zeit (ab ca. 500 v. u. Z.) entstanden neue Religionen und philosophische Denkrichtungen. Nicht-orthodoxe Systeme nennt man die Denksysteme, die die Veda nicht als göttliche Offenbarung anerkennen. War bisher die brahmanische Religion der einzige Hintergrund philosophischen Denkens, so entstehen nun mit dem Jainismus und dem Buddhismus konkurrierende Religionen.


Mit den Charvakas treten auch skeptizistische und  materialistische Denker auf, die nicht nur die brahmanische Religion, sondern jegliche Religion ablehnten. Alle geistigen Vorgänge wurden auf materielle Vorgänge zurückgeführt. Eine menschliche Seele existiere nicht. Sie spotteten über Priester und religiöses Verhalten und lehnten jede metaphysische Spekulation ab. Verglichen mit dem alten Griechenland waren Sie die Sophisten und  Hedonisten in Indien

Die Charvakas sahen in der Sinnenlust das Ziel des Lebens und lehnten jede darüber hinausgehende Ethik ab. Dass Lust auch mit Schmerz verbunden sei, sei kein Grund auf sie zu verzichten.

Die Charvakas hatten zeitweilig viele Anhänger, konnten sich aber auf Dauer auf Grund des doch ganz andersartigen indischen Volksgeistes nicht halten. Ihre Kritik der brahmanischen Religion schuf allerdings den Freiraum für neue Religionen.


Die orthodoxen Systeme

Orthodoxe Systeme nennt man diejenigen nachvedischen Religionen und Philosophien, die auf die Veda aufbauen. Das Wissen über diese Systeme stammt aus vier Quellen:

  1. Die Upanischaden, soweit sie nach 500 v. u. Z entstanden sind.
  2. Die Sutras, das sind kurze Merksprüche und deren Kommentare.
  3. Das indische Nationalepos Mahabharata, von dem die Bhagavad-Gita
    ein Teil ist.
  4. Das Gesetzbuch des Manu.

Im folgenden werden fünf Systeme dargestellt, die eine besondere Bedeutung erlangten. Von diesen haben sich viele ähnliche abgeleitet.


Nyaya und Vaischeschika

Nyaya heißt »Beweis« oder »Regel«. Der Schwerpunkt dieses Systems liegt auf dem Gebiet der Logik und der Dialektik. Hier wird zum ersten Mal der Versuch unternommen, die Kunst des richtigen logischen Schließens darzulegen.

Vaischeschika bedeutet ungefähr »Unterschied«. Der Name besagt, dass dieses System versucht, durch das Herausfinden von Unterschieden, von Differenzen in der Welt der objektiven Körper und des Inneren des Menschen zu klarer Erkenntnis zu kommen. Der Schwerpunkt dieses Systems liegt auf Welterklärung, Metaphysik und Naturphilosophie.

Im weiterem Verlauf ist es zu einer Verschmelzung dieser beiden Systeme gekommen.


Samkhya – Der Philosoph Kapila

Samkhya heißt ungefähr »Zahl« oder »Aufzählung«. Damit ist gemeint, dass dieses System das Sein dadurch erklären will, dass es aufzählt, was alles in ihm vorhanden ist. Als Begründer gilt der Philosoph Kapila.

Das Samkhya-System baut zwar auf die Veda auf, kommt aber in einer entscheidenden Grundfrage zu einer anderen Einstellung. An Stelle des  idealistischen  Monismus tritt ein  Dualismus von Geist und Materie. (Der sich nach und nach aus dem Monismus heraus entwickelt hat, also nicht von Beginn an diesem entgegengestellt wurde.)

Prakriti und Puruscha: Prakriti ist die Urnatur, ein materielles Prinzip, aktiv, aber ohne Bewusstsein. Puruscha ist ein geistiges Prinzip, passiv, aber mit Bewusstsein ausgestattet.

Atheismus: Es gibt viele einzelne Puruschas aber keinen diesen übergeordneten Gott. Damit ist auch das Samkhya-System atheistisch. (Im Dualismus und Atheismus gibt es eine Ähnlichkeit zum Jainismus.)

Gunas: In den Prakriti sind drei Entwicklungskräfte (Gunas) wirksam: Eine lichte, dem Klaren und Guten zugehörige Kraft, eine dunkle, hemmende und träge Kraft und eine zwischen beiden stehende bewegende Kraft.

Materie: Durch das fortwährende Widerspiel der drei Gunas geht aus den Prakriti die gesamte materielle Welt hervor und zwar in einem periodischen Wechsel von Weltentstehung und Weltuntergang.

Mensch: Nicht nur der menschliche Körper, auch die Fähigkeit des Menschen zu fühlen, zu denken, Sinneswahrnehmungen zu haben und sich als Ich zu empfinden, haben ihre Ursache in den Prakriti, nicht in den Puruschas.

Nur scheinbare Verbindung von Puruscha und Prakriti: Die Puruschas stehen der Entwicklung der Materie und damit auch der des Menschen grundsätzlich in ewiger Reinheit und unbeteiligter Fremdheit gegenüber. Die Verbindung von Prakriti und Puruscha ist nur eine scheinbare. So wie ein farbloser klarer Kristall rot erscheint, wenn eine rote Blume hinter ihn gehalten wird, so erscheint der Puruscha, indem er scheinbar mit einem lebenden Körper verbunden ist, als handelnd und leidend.

Erlösung: Der Puruscha muss zur Erkenntnis gelangen, dass ihn die Bewegung der materiellen Welt eigentlich gar nichts angeht, dass er im Innersten dieser Materie fremd und unbeteiligt gegenübersteht. Dann würde jeder Schmerz, jedes Leiden aufhören. Der Puruscha wäre erlöst. Er würde zum reinen untätigen Geist. Sein Zustand nach der Erlösung wird verglichen mit einem Spiegel, in den kein Reflex mehr fällt. Aber auch die Prakriti wäre erlöst, da sie ohne Bewusstsein keinen Schmerz empfinden kann.

[Ein nicht erstrebenswerter Zustand! Ein Bewusstsein ohne Inhalt und Körper bzw. materielle Vorgänge ohne ein Wissen davon. Die indische Sehnsucht nach der Nicht-Existenz. Obwohl die Prakriti-Puruscha Theorie durchaus überlegenswert ist.

Es bleiben aber eine ganze Menge Fragen offen: Mir ist nicht klar, wie der Puruscha, wenn er untätiger Geist, also pures untätiges Bewusstsein ist, überhaupt etwas erkennen soll, z. B. dass ihn die materiellen Prozesse gar nichts angehen. Denn Erkennen setzt Tätigkeit voraus. Es soll sich hier vielleicht um ein Erkennen handeln, das mit Begriffen wie »denken«, »fühlen« und »wahrnehmen« nicht mehr beschreibbar ist.

Was passiert mit den Puruschas wenn die materielle Welt gerade mal wieder untergegangen ist? Da es zu diesem Zeitpunkt keine Materie gibt, müssten doch alle Puruschas erlöst sein. Oder müssen sich die Puruschas mit jeder neuen Weltentstehung auf das Neue erlösen? Wenn die Puruschas schon seit Ewigkeit bestehen, müssten sonst nicht anderenfalls inzwischen alle erlöst sein? Oder hält diese Erlösung nicht auf Dauer an, fällt der Puruscha irgendwann wieder zurück? Gibt es irgendeine Verbindung zwischen den einzelnen Puruschas oder sind sie für alle Ewigkeit von einander getrennt? (Die  leibnizschen Monaden haben ja über sich zumindest noch den alles verbindenden Gott.)

Aber das zentrale Problem aller  dualistischer Weltanschauungen ist: Wie kommt die Verbindung zwischen Bewusstsein und Materie, hier Puruscha und Prakriti, zustande? Die rote Blume hinter dem farblosen klaren Kristall hat mit dessen Zertrümmerung nichts zu tun, spürt diese nicht. Aber mein Puruscha spürt es, wenn mein Prakriti Zahnschmerzen hat. Siehe  »Zirbeldrüse«.]


Yoga

Die Haupttexte des Yoga bilden die 194 Yoga-Sutras, die einem gewissen Patanjali zugeschrieben werden.

Yoga hieß ursprünglich soviel wie »Joch« (ist auch sprachlich mit diesem deutschen Wort verwandt) und bedeutet Selbstzucht, Disziplin. Es ist das System, das den Schwerpunkt nicht so sehr auf theoretische Erörterungen legt, sondern mehr auf die praktische Seite, indem es Mittel und Wege aufzeigt, wie die Erlösung erreicht werden kann.

Das Yoga-System übernimmt theoretisch weitgehend die  Samkhya-Philosophie. Die Samkhya-Philosophen betrachten die Yoga-Lehre als praktische Ergänzung ihres Systems.

Theismus: Ein wichtiger Unterschied ist allerdings, dass die Yogis einen persönlichen Gott kennen, der allerdings kein Schöpfer und Weltenlenker ist, sondern der oberste Puruscha, der für alle Ewigkeit allwissend und nicht in die Prakriti verstrickt ist.

Erlösung: Das Grundlegende des Yoga-Systems ist die Lehre, dass der Mensch durch ein bestimmtes System asketischer Übungen, zu dem auch eine streng vorgeschriebene Art des Sitzens gehört, durch Konzentration, Abziehung der Sinne von der Außenwelt, Meditation u. ä. m. einen Zustand tiefster Einsicht, Entzückung und Erlösung erreichen könne, der mit Wörtern nicht zu beschreiben sei, und den keiner verstehen kann, der ihn nicht erlebt hat. Die Yogis meditieren dann über Jahre hinweg, um diesen Zustand zu erreichen und klinken sich damit aus dem praktischen Leben aus.

Zauberkräfte: Als Nebenprodukt dieses Strebens entstehen dann angeblich Fähigkeiten wie Allwissenheit, Unverletzlichkeit, Allmächtigkeit. [Wahrscheinlich soll das bedeuten, dass sich der Yogi mit dem obersten Puruscha verbindet, in ihm aufgeht.] Nach der reinen Yoga-Lehre sind dies alles aber nur Mittel um zur Erlösung zu gelangen. Wer an diesen Fähigkeiten haften bleibt, oder sie gar zum Broterwerb, zur Befriedung der Schaulust anderer Menschen einsetzt, wird als Scharlatan angesehen, der das wahre Heil nicht erlangen wird.


Das Vedanta-System – Der Philosoph Schankara

Vedanta heißt »Ende der Veda« und war ursprünglich ein Name für den Schlussteil der Veda, also für die Upanischaden. Vedanta-Systeme nannte man diejenigen, die konsequent an der Brahman-Atman Lehre festhielten und diese gegen andere Lehren, sowohl dem Buddhismus als auch dem  Samkhya-System, das ja lediglich formell die Veda anerkennt, verteidigt. Es sind die einflussreichsten Systeme. Unter ihnen ist die Lehre des Philosophen Schankara, der um das Jahr 800 u. Z. lebte, die einflussreichste.

Erkenntniskritik: Weil die Alltagserfahrung der Auffassungen widerspreche, Brahman und Atman, Atman und Welt seien identisch, unterzieht Schankara die Mittel unserer Erkenntnis einer eingehenden Kritik. Er fragt: »Wie ist Wissen überhaupt möglich, wie kommt es überhaupt zustande und wieso ist es unbezweifelbar?« Sowohl in den Fragen, wie in den Antworten kommt Schankara Kant sehr nahe. Die Welt, wie sie uns unsere Sinnen vermittelt, ist nur die Erscheinung. Die Vorstellung, wir könnten durch sinnliche Erfahrung das wahre Wesen der Welt erkennen, sei Täuschung,  Maya.

Erst wer den Schleier der Maya durchschaue, erkenne, dass er mit Brahman, mit der Welt identisch sei. Wahres Wissen gehe weder aus der Sinneswahrnehmung noch aus Nachdenken hervor, sondern einzig aus der göttlichen Offenbarung der Veda. [Christen behaupten das Gleiche bezüglich der  Bibel, Moslems bezüglich des Korans usw. usf.]

Zwei Stufen der Erkenntnis: Schankara meint aber auch, dass die Veda vieldeutig ist, dass neben Texten, die die Einheit von Brahman und Atman behaupten, auch andere Texte zu finden seien, die nicht von dieser Einheit ausgingen. Er zieht daraus den Schluss zu sagen, es gäbe zwei Stufen der Erkenntnis. Auf der niederen Stufe erscheine Gott als Weltschöpfer, als von den Menschen getrennt, durchaus auch als Person. Dieses Gottes- und Weltbild sei dem Fassungsvermögen des breiten Volkes angepasst und zumindest die Vorstufe der höheren Erkenntnis. Der Wissende lehne diese niedere Stufe der Erkenntnis nicht ab, er könne in jedem Tempel, zu jedem Gott beten. Aber er wisse auf der höheren Stufe der Erkenntnis, dass sich hinter der Vielheit der Gottheiten, der Vielheit der materiellen Dinge und der Vielheit der Menschen letztlich der einzige wahrhaft existierende Brahman befinde, mit dem alles identisch sei und der letztlich unerkennbar sei.

Ethik: Unterscheidung zwischen Ewigem und Nicht-Ewigem; Verzicht auf Lohn im Diesseits wie im Jenseits; Gemütsruhe, Selbstbeherrschung, Entsagung von Sinnengenuss, Ertragen aller Mühsale, innere Sammlung, Glaube; Verlangen nach Erlösung vom individuellen irdischen Dasein. Gute Werke seien zwar nicht völlig wertlos, da sie eine Ähnlichkeit zur Askese haben, aber entscheidend ist nicht das richtige Tun sondern das richtige Erkennen. [Beinahe wie  Kant. Aber bei dem ist es in erster Linie Pflichtbewusstsein.]


Zur indischen Religion siehe Der Hinduismus


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