Der Poststrukturalismus auch Neostrukturalismus oder Dekonstruktivismus entstand in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts in Frankreich aus dem Bestreben der Überwindung bzw. der modifizierten Weiterentwicklung des ebenfalls in Frankreich entstandenen und dort einflussreichen Strukturalismus. Er ist keine einheitliche Schule, sondern definiert sich eher aus dem, was er ablehnt.
Alle Richtungen des Poststrukturalismus betreiben eine rigorose Semiotisierung der Welt und der Wissenschaft, anders ausgedrückt, die Wirklichkeit erschöpft sich für sie in Zeichen und Zeichensystemen. Oder noch drastischer: Sie behaupten, es gebe keine Wirklichkeit außerhalb der Sprache.
Die Trennung von Signifikant und Signifikat wie im Strukturalismus wird aufgegeben. Der Versuch, die Bedeutung eines Signifikanten festzustellen, führe nur zu weiteren Signifikanten usw. usf. (Der endlose Regress Poppers und Alberts.) Im Unterschied zum Strukturalismus geht der Poststrukturalismus von der Gleichrangigkeit der Ebenen des Signifikanten und des Signifikats aus, wobei allerdings auch hier der Sprecher unbedeutend bzw. sekundär bleibt.
Ursprünglich in der Literaturwissenschaft beheimatet, wurde der Poststrukturalismus zu einer umfassenden Kulturtheorie weiterentwickelt, in der die Welt als Text betrachtet wird. Eine außersprachliche oder außersemiotische Wirklichkeit, auf die der Text verweise, existiere nicht. [Im Rahmen traditioneller, besonders hegelscher Philosophie bedeutet dies: Der »Weltgeist« manifestiert sich in der Sprache und anderen Zeichen und nur dort. Und er ist auch nur dort vorhanden! Sprachidealismus.]
»Tod des Subjekts«: Das Subjekt sei ohne Ursprung und ohne Einheit, ein Zeichenprodukt, ein in der Sprache gefangenes und durch Sprache seiendes Wesen. [Wozu dann noch Biologie, Medizin? Wenn man Krebs bekommt, geht man nicht zum Arzt, sondern zum Sprachphilosophen. Wieso werden Männer zum Zahlen von Alimenten verdonnert, wenn das Subjekt ohne Ursprung ist?]
Außer dem Tod des Subjekts behaupten die Poststrukturalisten auch den Tod der Geschichte, der Vernunft, der Wahrheit, des Autors etc.
Ende der subjektiven Verantwortung: Es gebe keinen Täter hinter der Tat.( Nietzsche: »Niemand ist für sein Wesen verantwortlich, niemand für seine Taten.«)
Partikularismus: Hierarchisch organisierte Theorien und Systeme werden ebenso abgelehnt, wie jeder Monismus und Universalismus. Stattdessen werden Einzeluntersuchungen angestellt. Das Sein wird vorgestellt als aus verschiedenen nicht auseinander ableitbaren und nicht unter gemeinsame Oberbegriffe zu bringende Ebenen oder Teilbereichen. Der aphoristische Stil Nietzsches gefällt den Poststrukturalisten von daher sehr.
Gegen Marxismus: Die ökonomischen Gesetze seien den Gesetzen der Sprache und der Struktur des arbiträren Codes unterworfen und spiegeln dieses wider. [Selbst soziale Ungleichheit und Wirtschaftskrisen sind Sprach- bzw. Zeichenprobleme.]
Dem Poststrukturalismus werden u. a. folgende Personen zugerechnet:
(die zum großen Teil auch dem Strukturalismus zugerechnet werden!)
Nicht alle der hier aufgelisteten Personen verstehen sich selbst als Poststrukturalisten und zwischen diesen Personen und ihren Anhängern gibt es zum Teil beträchtliche Differenzen.
Da sich die Vertreter des Poststrukturalismus in vielen Details unterscheiden, trifft folgende Kritik nicht auf alle seine Vertreter zu, bzw. nicht in dem selben Maße.
Soziale Probleme und ethische Fragen lassen sich nicht in Sprach- oder Zeichenprobleme auflösen. Wenn Menschen verhungern, wenn Menschen ermordet werden, wenn Menschen leiden, weil sie sich elementare Bedürfnisse nicht befriedigen können, dann sind dies reale Probleme bewusst erlebender Wesen. Diese Probleme zu Sprachproblemen zu machen, ist dumm und/oder zynisch. Nach Wittgenstein ist »die Methode zu Philosophieren [..] sich wahnsinnig zu machen, und den Wahnsinn wieder zu heilen.« Es gibt Philosophen, die scheinbar nur den ersten Schritt zustande bringen. (Wittgenstein eingeschlossen.)
Und selbst wenn ich mich auf einen solipsistischen Standpunkt zurückziehen würde, dann blieben in meinem unmittelbaren Erleben Glück und Unglück, Begierde und Ablehnung, Schmerz, Hunger etc. Das alles sind keine Sprachprobleme.
Eine Überbewertung der Sprache, die an Heidegger erinnert. Poststrukturalisten schätzen Heidegger in der Regel sehr. Ich möchte hier mal Hirschberger Recht geben, der schreibt: »Man hat aber den Eindruck, das in dem ganzen Hin und Her mehr Literatentum als Philosophie stecke.« (Hirschberger 3, S. 218.) Die Überbewertung der Sprache habe ich im philolex-Artikel Sprachphilosophie als Sprachidealismus kritisiert.
Ein gewisses Maß an Skeptizismus ist mir recht, soweit die eigenen Auffassungen einbezogen werden. Die Ablehnung traditioneller von der Aufklärung herkommenden Philosophien, geht mir zu weit.
Ignorierung oder Minderbewertung der Naturwissenschaften.
Abwertung des empirisch Feststellbaren zugunsten meist sinnloser Abstraktionen.
Durch die Ablehnung der Vernunft kommt eine Beliebigkeit oder Verspieltheit hinein.
Die Poststrukturalisten sind weitgehend elitär und unpolitisch.
Ich bin kein Dogmatiker, bzw. ich bemühe mich immer wieder darum, keiner zu sein. Ich bemühe mich immer darum, zu verstehen, warum ein Mensch eine bestimmte Position vertritt. Aber die Leute, die glauben, alles in Sprachprobleme auflösen zu können, verstehe ich beim besten Willen nicht.
Ich bedauere es immer, wenn Menschen sich nicht mit Philosophie beschäftigen und philosophische Theorien als praxisferne Kopfgeburten intellektueller Virtuosen bezeichnen. Aber wenn jemand Philosophie in Form des Poststrukturalismus kennenlernt, dann habe ich für eine solche Abneigung volles Verständnis. Zum Glück ist dies aber nicht die Philosophie schlechthin.