Peter Möller

Was ist Transhumanismus?   (1999)

Zur Frage, was Transhumanismus ist, gibt es inzwischen eine ganze Menge Homepages und Artikel im Internet. Die Transhumanisten, von denen es weltweit vielleicht ca. 5.000 gibt (Stand: Ende 2001), sind aber eine sehr heterogene Gruppe, und was man bei dem einen Transhumanisten ließt, stimmt nicht in allen Punkten mit dem überein, was man bei einem anderen Transhumanisten ließt. Das folgende ist meine subjektive Darstellung des Transhumanismus, seiner Grundzüge und seiner Schwächen.


I. Grundsätzliche Bedeutung des Transhumanismus

Transhumanismus hat eine doppelte Bedeutung:

1. Die  Evolution des Lebens, besonders die Entwicklung immer höherer Arten, hat mit dem Menschen nicht ihr Ende gefunden, sondern geht weiter. Der Unterschied zu früher ist aber der, dass nicht nur die Natur neue Arten hervorbringt, sondern dass mit dem Menschen zum ersten Mal auf diesem Planeten ein Wesen entstanden ist, das über soviel wissenschaftliches und technisches Geschick verfügt, dass es bewusst und gezielt neue Arten hervorbringen kann. Im Verlaufe einer bewusst und gezielt betriebenen Evolution könnten höhere Lebewesen entstehen, die intellektuell, kulturell, ethisch, ästhetisch und gefühlsmäßig/emotional soweit über uns Menschen stehen, wie wir über den Affen. So wie wir Menschen vereinfacht ausgedrückt »Transschimpansen« sind, so würden diese Wesen »Transhumane« sein. [Andere Transhumanisten benutzen hier den Begriff »Post-Humane«.] Transhumanismus bedeutet, dass man eine solche Entwicklung für gut hält und sich für sie einsetzt.

2. Dabei soll die Entwicklung zu den Transhumanen an den Grundwerten des Humanismus orientiert sein. Nicht nur die Humane werden sich zu Transhumanen weiterentwickeln, auch der Humanismus soll zum Transhumanismus weiterentwickelt werden. Dies ist eine Absage an alle inhumanen Weltanschauungen. [1] Die Entwicklung zu den Transhumanen soll ein vorsichtiger, evolutiver Prozess sein, der über viele Zwischenstufen abläuft und für die daran Beteiligten selbst einen Wert haben muss. Kein Mensch darf zu Gunsten des Wohlergehens eventuell mal existierender Transhumane verheizt werden. [2] Um die Fehler früherer Weltverbesserungsversuche zu vermeiden, muss darauf bestanden werden, dass der Weg das Ziel ist.

3. Zu diesen beiden Bedeutungen des Transhumanismus kommt nun noch ein dritter Punkt hinzu: Das prinzipielle Festhalten am wissenschaftlich-technischen Fortschritt. Die Vorteile, die dieser Fortschritt für die Menschen mit sich bringt, wiegen seine Nachteile ganz eindeutig auf. In Zukunft wird dieser wissenschaftlich-technische Fortschritt nicht nur die Welt verbessern, sondern auch den Menschen, z. B. durch Gentechnik. Die Menschen – oder jedenfalls kleinere oder größere Gruppen von Menschen – werden sich auf diese Weise wahrscheinlich so sehr verändern, dass man irgendwann nicht mehr von Menschen sprechen kann, sondern von einer neue höheren, bzw. von mehreren verschiedenen höheren Arten. [3]


Der Einsatz von Wissenschaft und Technik zur bewussten und gezielten Selbst-Evolutionierung des Menschen, orientiert an humanistischen Idealen, ist der Kern des Transhumanismus.


Über diese drei essentials hinaus gibt es nun viele Details, die häufig mit dem Transhumanismus gleichgesetzt werden (auch von vielen Transhumanisten selbst), obwohl sie streng genommen gar nichts damit zu tun haben. Dabei handelt es sich um ganz spezielle Zukunftstechniken, z. B. die Kryonik, d. h. das Einfrieren eines Körpers bzw. Gehirns mit der Hoffnung, es später wieder reanimieren zu können, oder der Versuch des »Uploading« seines Bewusstseins auf einen anderen Träger. Ob das überhaupt funktioniert, wird die Zukunft zeigen. Verbunden mit solchen Dingen ist oft der Glaube an ein ewiges Leben. Ich halte die individuelle Unsterblichkeit für unmöglich [4] und auch nicht für erstrebenswert. Wir heutigen Menschen werden uns nicht zu Transhumanen entwickeln, sondern bestenfalls unsere Nachfahren in x Generationen.

Man kann von unterschiedlichen philosophischen Positionen und Weltanschauungen aus Transhumanist sein. Ob man philosophischer  Materialist,  Idealist oder  Agnostizist ist, an einen Gott glaubt oder an das moderne wissenschaftliche Weltbild, oder ob man alle wissenschaftlichen, philosophischen und religiösen Aussagen letztlich nur als eine Sammlung von  Hypothesen und Vermutungen ansieht, von all diesen Positionen aus kann man obige essentials des Transhumanismus unterstützen. Die Festlegung auf ein bestimmtes Weltbild ist deshalb unnötig. Gegenwärtig ist es allerdings so, dass die allermeisten Transhumanisten Materialisten oder Agnostizisten sind.


II. Grundsätzliche Fehler der Transhumanisten und der Gegner des Transhumanismus

Ich versuche zwei Fehler nicht zu begehen: 1. Euphorisches Abheben in Traumwelten und 2. Unfähigkeit substantiell andere Lebensverhältnisse als die Gegenwärtigen für möglich zu halten. (Ich bin mir nicht sicher, ob mir der Versuch immer gelingt!)

Einer der Hauptfehler, den die meisten gegenwärtigen Transhumanisten meiner Überzeugung nach machen, ist, dass sie sich für ihre eigene Person zuviel von den zukünftigen wissenschaftlich-technischen Entwicklungen versprechen, dass die nüchterne, kritische Haltung, die wissenschaftlich-technisch denkende Menschen eigentlich auszeichnen sollte, häufig vom Wunschdenken überflügelt wird. Da werden dann Zukunftstechnologien, die noch nicht entwickelt und erprobt sind, so behandelt, als sei es bereits erwiesen, dass sie funktionieren und die gewünschten Ergebnisse haben werden.

Wunschdenken, euphorisches Abheben, Dogmatismus und Sektirerei sind aber leider weitverbreitete menschliche Eigenschaften und Gründe für mich Transhumanist zu sein. Denn die Menschen werden sich mit ihrer heutigen Natur wahrscheinlich nie ganz von solchen Verhaltensweisen lösen können. Mit dem gleichen Optimismus, mit dem heute viele Transhumanisten im Verlaufe dieses Jahrhunderts die Heraufkunft der transhumanistischen Zustände erwarten, haben zu Beginn des 20. Jahrhunderts viele Menschen die Heraufkunft des Sozialismus, das Ende der Vorgeschichte der Menschheit erwartet.

Auf der anderen Seite gibt es viele Menschen, die unfähig sind, sich substantiell andere Lebensverhältnisse als die gegenwärtigen vorzustellen, die bei jedem etwas komplizierteren technischen Problem oder bei technischen Neuerung schnell dabei sind, etwas für unmöglich zu halten. Mitte des 19. Jahrhunderts hätten viele Menschen auch eine Glühbirne für eine Phantasterei gehalten, wenn sie über entsprechende Forschungen informiert gewesen wären, ganz abgesehen mal von Autos, Flugzeugen, Mondraketen, Computern, Organverpflanzungen u. v. m. Auch diese weitverbreitete menschliche Eigenschaft ist für mich ein Grund Transhumanist zu sein.

Viele Menschen meinen auch, dass es uns nicht erlaubt sei, unsere Natur und die Natur schlechthin nach unserem Willen umzugestalten. Wenn jemand der Auffassung ist, dass uns der »Liebe Gott« so gemacht hat, wie wir sind und wir deshalb daran nichts ändern dürfen, dann teile ich diese Auffassung zwar nicht – denn an einen »Lieben Gott« glaube ich nicht (dann schon eher an einen »Bösen Gott« [5]) – aber ich erkenne an, dass eine solche Auffassung zumindest in sich schlüssig ist. Wenn man aber davon ausgeht – wie es die allermeisten Menschen der fortschrittlichen, modernen Länder tun –, dass wir und die gesamte Natur in ihrem heutigen konkreten Zustand Produkte zufälliger Mutationen sind, im Rahmen dessen, was an Möglichkeiten und Zwängen in der Welt war, [6] dann ist es überhaupt nicht mehr schlüssig, unseren heutigen natürlichen Zustand oder den heutigen Zustand der Natur schlechthin zum Heiligtum zu erklären, an dem wir nichts ändern dürfen. Hier ist wohl unbewusster Konservatismus und unbewusste Angst vor neuen Situationen der Vater des Gedankens.

Ob man beim gegenwärtigen Entwicklungsstand von Wissenschaft und Technik einen Eingriff in das menschliche Genom erlauben sollte, darüber kann es nach meiner Auffassung eine legitime Diskussion geben. Nicht aber darüber, dass es dem Menschen prinzipiell unter allen Umständen und für alle Zeiten untersagt sei, seine Natur und seinen genetischen Bauplan selbst zu bestimmen.

Als vor einigen Millionen Jahren unsere Vorfahren die Bäume verließen, da sind viele ihrer Vettern oben geblieben und mancher hat vielleicht in der damals möglichen Weise zum Ausdruck gebracht, dass das da unten bestimmt nicht gut geht. Und da Schimpansen bereits lachen können – meines Wissens die einzigen Lebewesen auf diesem Planeten außer uns Menschen, die sich qualitativ so weit entwickelt haben, dass ihnen der Seinsbereich des »Humors« bereits zugänglich ist –, hat sich vielleicht auch mancher lustig gemacht über die Dummköpfe da unten. Aber trotz aller negativen Entwicklungen (Kriege, Massenmorde etc.) war die Entwicklung der Menschheit eine Erfolgsstory. Ich möchte jedenfalls nicht zurück auf die Bäume. Ich möchte Beethoven nicht tauschen gegen das Getrommel auf hohlen Baumstämmen, um nur ein Beispiel zu nennen.

Heute ist die Menschheit an einem Entwicklungspunkt angelangt, wo wiederum ein qualitativer Sprung nach vorne möglich ist. Aber auch dieses mal werden nicht alle mitmachen. Ich möchte zu denen gehören, die – im übertragenen Sinne – von den Bäumen heruntersteigen und neue Wege ins Unbekannte und Gefährliche wagen.


III. Philosophische Gesichtspunkte

Philosophische Gesichtspunkte kommen bei den meisten Transhumanisten zu kurz. Zum Teil hat man sogar den Eindruck einer direkten Philosophiefeindlichkeit. Erkenntnistheoretischen Skeptizismus gibt es faktisch nur verbal und das Leib-Seele-Problem befindet sich entweder gar nicht im Blickfeld oder gilt als gelöst im Sinne einer  materialistischen Bewusstseinserklärung. Die Entstehung neuer Seinsqualitäten im Verlaufe der weiteren Entwicklung, bzw. die Entdeckung von Seinsqualitäten, die bereits vorhanden sind, aber außerhalb des menschlichen Erkenntnisvermögens liegen, werden entweder gar nicht in Betracht gezogen oder faktisch nur verbal.

Die Menschen früherer Zeiten dachten sich Götter aus, die faktisch »Supermenschen« waren. Alles, was die Menschen konnten, wussten oder fühlten, das konnten, wussten und fühlten auch die Götter, bloß in einem viel umfassenderen, größerem Maße. Und diese Götter hatten Eigenschaften, die die Menschen gerne gehabt hätten, wie Allmächtigkeit, Allwissenheit, Unsterblichkeit etc. Sollte es aber soetwas wie einen geistigen Kern der Welt geben – was ich als  Agnostiker für möglich halte –, dann wird dies etwas sein, dass sich – zumindest in großen Teilen seines Wesens – außerhalb des menschlichen Erkenntnisvermögens befindet.

Viele Transhumanisten machen, wenn sie an transhumane oder posthumane Wesen denken, den gleichen Fehler, den die Menschen früherer Zeiten bei ihren Gottesvorstellungen gemacht haben. Die transhumanen oder posthumanen Lebewesen der Zukunft sind für die meisten Transhumanisten nur Weiterentwicklungen des heutigen Menschen, es sind Übermenschen oder Supermenschen. Sie können, wissen und fühlen alles, was die Menschen können, wissen und fühlen, bloß umfassender, in immens vergrößertem Maße. Und sie sind unsterblich, fast soetwas wie allmächtig etc. Aber das war es dann auch. Dass diese Wesen möglicherweise qualitativ anders sein werden als wir Menschen, dass sie in Seinsbereichen existieren, bzw. Seinsbereiche erst schaffen, die sich völlig außerhalb unseres menschlichen Erkenntnisvermögens befinden, das ist für die meisten Transhumanisten kein Thema. Nur sehr selten ist einmal eine Ahnung davon vorhanden, wenn es z. B. in den Transhumanist FAQ, am Ende des Teils über die Posthumane heißt: »Manchmal wird auch gesagt, dass es für uns Menschen unmöglich sei, sich vorzustellen, wie es wäre, posthuman zu sein. Posthumane könnten Aktivitäten nachgehen und Bestrebungen hegen, die zu ergründen wir auch nicht ansatzweise im Stande sind, sowenig wie ein Affe je hoffen könnte, die vielen Facetten des menschlichen Lebens zu erfassen.«

Der Mensch unterscheidet sich vom Affen nicht nur darin, dass er alles, was der Affe kann und weiß, in einem viel umfassenderen Maße kann und weiß. Das allermeiste, was dem menschlichen Sein aus menschlicher Perspektive einen Wert gibt, befindet sich außerhalb des geistigen Horizonts der Affen. Wir sind ein qualitativer, nicht einfach nur ein quantitativer Sprung über den Affen hinaus.

Die Entdeckung und Schaffung qualitativ neuer Seinssphären ist das wirklich Wichtige, was uns von den Affen unterscheidet. Und ebendiese Entdeckung und Schaffung qualitativ neuer Seinssphären wird auch das wirklich Wichtige an der Entwicklung trans- bzw. posthumaner Lebewesen sein. Die bewusste Erfassung neuer Qualitäten ist es, die der gesamten Evolution überhaupt erst einen Wert verleiht.


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Anmerkungen

Anm. 1: Z. B. auch eine Absage an Nietzsche, der mit seinem »Übermenschen« durchaus in die Richtung des Transhumanismus dachte, der aber inhumane Zukunftsvorstellungen hatte. Es gibt allerdings viele Transhumanisten, die Nietzsche positiver bewerten als ich, nicht weil sie etwa Reaktionäre oder Faschisten seien, sondern weil sie wie viele andere Niezsche-Anhäger glauben, man könne Nietzsche nichtreaktionär, nichtfaschistisch oder gar humanistisch auslegen. Zurück zum Text

Anm. 2: Ursprünglich hatte ich geschrieben: »Kein Lebewesen darf zu Gunsten des Wohlergehens zukünftiger Lebewesen verheizt werden«. Aber dann fiel mir ein, dass in den Zellen unseres Körpers ununterbrochen andere Lebewesen bzw. deren Überreste im wahrsten Sinne des Wortes verheizt werden. Da wir Menschen von Räuberzellen abstammen, die im Gegensatz zu Pflanzenzellen nicht dazu in der Lage sind, anorganische in organische Materie umzuwandeln, müssen wir, um selbst leben zu können, ständig anderes Leben vernichten. Anstatt von »Lebewesen« schlechthin zu reden, sollte man besser sagen: »Lebewesen, die bewusste, sich wissende Persönlichkeiten sind, bzw. die Anlagen haben, sich zu bewussten, sich wissenden Persönlichkeiten zu entwickeln – z. B. Embryonen, Föten und Babys –, dürfen nicht im Interesse anderer Lebewesen verheizt werden.« Wo man nun genau die Grenze ziehen soll, zwischen einem Zellhaufen – beim Menschen die ersten Wochen noch Befruchtung der Eizelle – und einem Embryo, das ist allerdings ein weiteres Problem. Aber da es erlaubt ist und massenhaft praktiziert wird, bis zum Ende des dritten Schwangerschaftsmonats abzutreiben, sollte es eigentlich möglich sein eine Grenze zu definieren, die mehrheitlich akzeptiert wird. Zurück zum Text

Anm. 3: Dies habe ich bereits 1995, vier Jahre bevor ich den Transhumanismus kennenlernte, in meinem Aufsatz Über die Notwendigkeit der Entstehung höherer Arten näher ausgeführt. Zurück zum Text

Anm. 4: Näher ausgeführt habe ich dies in meinem Aufsatz Ist der Tod überwindbar?. Zurück zum Text

Anm. 5: Sehen Sie hierzu auch  Über die Unschlüssigkeit des christlichen Gottesbildes. Zurück zum Text

Anm. 6: Mir reichen zufällige Mutationen als Erklärung der Entstehung immer komplexerer und höherer Arten nicht. Ich glaube eher an noch nicht entdeckte Naturgesetze oder an metaphysische Kräfte. An anderer Stelle habe ich mich dazu bereits näher geäußert. (Siehe meinen Aufsatz Kritik des philosophischen Materialismus) Aber warum auch immer die Evolution stattgefunden hat, ich räume den Menschen das prinzipielle Recht ein, die weitere Evolution im Rahmen ihrer Möglichkeiten und nach ihrem Willen bewusst zu gestalten. Zurück zum Text


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