John Rawls (19212002), amerikanischer Soziologe und Gesellschafts-Philosoph. Professor an der Harvard Universität. Schöpfer einer vieldiskutierten Theorie des »Gesellschaftsvertrages«. (Die in der Staatsphilosophie in den vergangenen Jahrhunderten schon des Öfteren eine Rolle spielte, z. B. bei Hobbes und Rousseau.) Dabei ist neu, daß Rawls nicht nur politisch-rechtliche, sondern auch wirtschaftlich-soziale Gesichtspunkte einbezieht.
In seinem Hauptwerk A Theory of Justice, deutsch Eine Theorie der Gerechtigkeit konstruierte Rawls einen Urzustand (den es aber nach seinen Bekunden nie gab), indem eine Gruppe von Menschen einen Staat gründen wollen. Alle Akteure seien aber hinter einem »Schleier der Unwissenheit« (veil of ignorance) und wüssten nicht, welche soziale Stellung sie in diesem Staat haben werden. Die einzelnen Menschen würden dann aus ganz egoistischen Motiven eine Staatsform wählen, in der das möglichst größte Glück aller realisiert werden könne. Dafür sei zweierlei Voraussetzung: 1. ein umfassendes System gleicher Grundfreiheiten und 2. soziale Differenzierung soweit sie zum einen zum Vorteil aller sind auch der sozial Schwachen , und zum anderen mit Positionen und Ämtern verbunden, die jedem zugänglich sind. (Der kategorische Imperativ Kants klinkt hier an. Mit dem wichtigen Unterschied, dass Kant eine Pflicht-Ethik vertrat, während Rawls Akteure aus egoistischen Motiven handeln.)Rawls hat seine ursprünglichen Vorstellungen mit der Zeit reichlich verwässert, weil diese eine erheblich sozialere Gesellschaft propagierten, als die in den USA vorhandene. Seine ursprünglichen Vorstellungen in die Tat umgesetzt, würden einen Sozialstaat hervorbringen, wie er in West- und Nordeuropa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestand und z. Z. gerade auf breiter Front zurückgefahren wird. (Was nicht auf meine Zustimmung stößt, wie ich im Artikel über die Arbeiterbewegung näher ausgeführt habe.) In den USA ist es nicht einmal möglich, soetwas wie eine AOK einzuführen.
Die Gerechtigkeitsvorstellungen, die dem ganzen Rawlschen Konstrukt zugrunde liegen, sind schon nicht unumstritten, sondern spiegeln die historisch gewordene gegenwärtige Gerechtigkeitsauffassungen großer Teil der Bevölkerung in der westlichen Welt wieder. Tatsächlich befinden wir uns ja nicht hinter einem Schleier der Unwissenheit über unsere Stellung in der Gesellschaft und unsere Fähigkeiten. Der Fähigere kann die Auffassung vertreten, ihm und seinen Nachkommen stünden andere Rechte zu als den weniger Fähigen.
»Die Gerechtigkeit ist die erste Tugend sozialer Institutionen, so wie die Wahrheit bei Gedankensystemen.«