Auszug aus 'Innenansichten eines Artgenossen' von Hoimar von Ditfurth
Claassen Verlag GmbH Düsseldorf 1989, S. 250 - 258

Die Welt ist nach oben »offen«

Es ist wichtig, sich darüber klarzuwerden, daß auch das primitivste Lebewesen bereits etwas von der Welt weiß. Auch die mit bloßem Auge nicht sichtbaren Einzeller, die ich als Schüler in Klein-Glienicke unter meinem Mikroskop beobachtete, verfügen über ein solches Wissen.
Ihr Weltbild ist, auf so primitiver Entwicklungsebene, natürlich unendlich armseliger als das höherer Tiere, von dem des Menschen ganz zu schweigen. Das wenige aber, was sie über die uns allen gemeinsame Welt »wissen«, stimmt. Wie könnten sie sich sonst in der Welt auch nur vorübergehend behaupten?
Wenn ein Pantoffeltierchen bei seiner Reise durch einen Wassertropfen an ein Hindernis stößt, schreibt Konrad Lorenz, und daraufhin nach kurzer Pause in irgendeiner anderen zufallsbestimmten Richtung weiterschwimmt, dann würden wir ihm zwar in den meisten Fällen einen Kurs empfehlen können, der aussichtsreicher wäre als der von ihm nach der Kollision auf gut Glück eingeschlagene. Das jedoch, was der winzige Einzeller »wisse«, sei objektiv richtig. In der ursprünglichen Richtung war tatsächlich kein Weiterkommen. Auch auf dieser Ebene also existieren bereits Übereinstimmungen von Verhaltenskategorien und objektiv zu konstatierenden Umweltbedingungen. Im Grunde ist das eine triviale Feststellung, denn ein Organismus, bei dem das nicht der Fall wäre, könnte in dieser Welt keinen Augenblick überleben.
Es gibt noch einige andere Dinge, die der Einzeller »wissen« muß (was hier nur heißen soll: auf die er zweckmäßig reagieren muß, um weiterleben zu können). Er muß zum Beispiel unterscheiden können zwischen genießbaren, also als Nahrung (Energiequelle) nutzbaren, Substanzen und anderen, denen er auszuweichen hat, weil sie giftig für ihn sind. Damit ist die Liste jedoch schon so gut wie erschöpft. Das Weltbild des Einzellers ist erbärmlich merkmalsarm. Die Eigenschaften der Welt, die es enthält, finden sich allerdings auch in unserer menschlichen Welt wieder. Pantoffeltierchen und Mensch leben in derselben Welt. Von der vergleichsweise unendlich viel größeren Reichhaltigkeit unseres menschlichen Weltbildes hat der einzellige Organismus keinen Begriff. Dennoch ist sein Weltbild, aus seiner Perspektive, vollständig. Was über dessen enge Grenzen hinaus in der Wirklichkeit sonst noch vorkommen mag, existiert für ihn einfach nicht, ohne daß seine Ignoranz ihm zum Nachteil gereichte.
Von hier aus kann man nun die ganze Evolutionsleiter nach oben emporklettern, um nur immer wieder auf den grundsätzlich gleichen Sachverhalt zu stoßen. Schon im Vergleich mit dem Weltbild einer Qualle, erst recht mit dem eines Fisches oder gar dem eines Huhns erscheint das des Pantoffeltierchens (erscheinen jeweils alle unterhalb der eigenen Entwicklungsebene realisierten Weltbilder) als vergleichsweise ärmlich und unvollständig. Aus der Perspektive eines Huhns präsentiert sich das Weltbild eines Reptils als auf einige wenige Umweltsignale »zusammengeschnurrt«, wie Jakob von Uexküll, legendärer Erstbeschreiber tierischer Umwelten, es einst anschaulich ausdrückte. Auf das Huhn wiederum würde ein Affe, wenn er von dessen Weltbild etwas ahnen könnte, gewiß mitleidig herabsehen. So, wie wir selber der permanenten Versuchung unterliegen, vom Boden unserer, im evolutiven Vergleich zwischen den irdischen Lebensformen konkurrenzlosen Weltsicht aus alle übrige Kreatur geringzuschätzen.
Auf welche der Sprossen dieser evolutiven Stufenleiter man sich in Gedanken nun auch stellt, in den entscheidenden Punkten hat man von jedem Standort aus immer wieder den gleichen Anblick, gänzlich unabhängig von den beträchtlichen Unterschieden in der jeweiligen Entwicklungshöhe. In jedem Falle ist das eigene Weltbild aus subjektiver Perspektive vollständig. (Es enthält für das Erleben des auf der betreffenden Stufe angelangten Lebewesens keine »Lücken«.) Es mag sich ferner »von oben«, von unserem menschlichen evolutiven Standort aus, noch so armselig ausnehmen, zum Überleben reicht es allemal. Und die Eigenschaften und Merkmale der Welt, die es enthält, gibt es auch in unserem Weltbild (hier freilich neben einer überwältigenden Fülle zusätzlicher Elemente). Alle diese unterhalb unserer Entwicklungsebene existierenden (»subhumanen«) Weltbilder stellen folglich Weltausschnitte dar, die der von uns erlebten Welt »partiell isomorph« sind, wie Gerhard Vollmer es genannt hat, die mit unserem Weltbild also partiell übereinstimmen.
Nun aber zur »Gretchenfrage«. Was ist vor dem Hintergrund dieser evolutionären Rückbesinnung eigentlich von unserem, dem menschlichen Weltbild zu halten? Im alltäglichen Leben gehen wir alle in naiver Gedankenlosigkeit davon aus, daß es mit »der Welt« schlechthin identisch sei. Unser erkenntnistheoretischer Exkurs hat uns bereits in Erinnerung gerufen, daß wir damit einem Irrtum erliegen. Was lehrt uns nun über die philosophische Besinnung hinaus der evolutionäre Vergleich?
Der beispiellose Erfolg und das in den letzten Jahrzehnten geradezu beängstigend angewachsene Ausmaß unseres manipulativen Umgangs mit unserer Umwelt könnten dem Gedanken Vorschub leisten, daß die bei der erkenntnistheoretischen Analyse feststellbaren Abbildungsmängel zwar grundsätzlich nicht zu leugnen sind, daß sie alles in allem aber doch relativ geringfügig sein dürften. Denn spricht dieses Übermaß des Erfolges bei dem Versuch, die Umwelt den Bedürfnissen des Menschen entsprechend umzubauen, etwa nicht für die Annahme, daß unsere kognitive Ausstattung uns eben doch ein Abbild der Welt vermittelt, das von deren objektiver Beschaffenheit nicht allzuweit entfernt sein kann? Dies wiederum liefe auf die Vermutung hinaus, daß wir, der Homo sapiens, nach rund vier Milliarden Jahren irdischer Lebensgeschichte heute definitiv die alleroberste Sprosse aller Möglichkeiten der Evolution darstellten. Just in unserer Gegenwart und verkörpert durch uns selbst hätte die Entwicklung demnach den obersten Gipfel erklommen. Und dreizehn Milliarden Jahre kosmischer Geschichte hätten zu nichts anderem gedient, als uns und unsere gegenwärtige Situation hervorzubringen. So gesehen, nimmt die Unterstellung sich bereits einigermaßen lächerlich aus. Unsere evolutionäre Rückbesinnung bestätigt bei näherer Betrachtung, daß sie das in der Tat ist.
Denn worauf allein könnten wir unseren kühnen Anspruch gründen, daß wir als die erste und einzige Lebensform über ein Gehirn verfügen, das die Welt seinem Besitzer endlich in perfekter Abbildung präsentiert? Erstens darauf (und dies ist das vom naiven Realismus jeglicher Couleur unbewußt herangezogene Hauptargument), daß unser Weltbild »geschlossen« ist, daß es keine »weißen Flecken« enthält. Wo könnten sich da denn, so fragt der Alltagsverstand rhetorisch, noch irgendwelche uns unzugänglichen Eigenschaften der objektiven Welt verbergen? Zweitens auf den unbestreitbaren Erfolg, mit dem wir uns mit Hilfe dieses Weltbildes in der Welt behaupten konnten (bis heute jedenfalls, ist man vorsichtshalber gezwungen hinzuzusetzen). Auf den ungeheuren - von nicht wenigen aber auch schon als beänstigend angesehenen - Erfolg, mit dem wir unsere Vernunft zum Zwecke des »Umbaus des Sterns Erde« (Ernst Bloch) einzusetzen vermochten.
Wer jedoch, wie wir es eben getan haben, die evolutionäre Stufenleiter der im Laufe der irdischen Lebensgeschichte aufeinanderfolgenden subhumanen Weltbilder hat Revue passieren lassen, weiß, was alle diese Berufungen und Beweise wert sind: nichts. Keines dieser von uns stammesgeschichtlich noch so weit entfernten Weltbilder, für das sich nicht mit dem gleichen Recht »subjektive Lückenlosigkeit« in Anspruch nehmen ließe. Keines auch, für das nicht mit dem gleichen Recht wie für das unsere der unbestreitbare Überlebenserfolg ins Feld geführt werden könnte, den es seinem Besitzer zuschanzte, was doch nichts anderes heißen kann als: daß es diesem ein Weltbild erschloß, das ihn zum erfolgreichen Umgang mit den ihm offerierten Eigenschaften der Welt befähigte (mochten diese auch bloß eine noch so winzige Auslese aus den Merkmalen darstellen, welche der Realität insgesamt zukommen).
Mit anderen Worten: In Wahrheit existiert nicht der Schimmer eines Beweises, der unseren in anthropozentrischem Übermut gehegten Anspruch stützen könnte, daß wir uns der Realität gegenüber in einer grundsätzlich anderen Situation befänden als irgendein anderes der uns stammesgeschichtlich vorangegangenen Lebewesen, und sei es eine nur unter dem Mikroskop sichtbare Amöbe. Von uns aus gesehen, klafft zwischen deren »Weltverständnis« und dem unseren zwar ein Abgrund. Der Unterschied ist jedoch nur relativ und nicht grundsätzlicher Natur. Anders gesagt: Wir müssen die Möglichkeit einräumen, daß der Unterschied zwischen uns und der Amöbe vor unseren Augen fast zur Bedeutungslosigkeit schrumpfen könnte, wenn wir den noch vielfach gewaltigeren Abgrund zu sehen vermöchten, der auch uns noch immer von der »Wahrheit der Welt« trennt.
Wir haben es als erste irdische Lebensform fertiggebracht, die Grenzen des uns angeborenen Erkenntnishorizonts zu überschreiten, zu »transzendieren«, wie die Philosophen sagen. Wir haben mit den künstlichen Sinnesorganen der Technik Eigenschaften der Welt aufgespürt, die uns »von Natur aus« verborgen sind: Röntgenstrahlen, magnetische Felder, Ultraschall, elektromagnetische Wellen und anderes. Wir haben es sogar gelernt, uns dieser für uns ohne technische Hilfsmittel nach wie vor nicht wahrnehmbaren Eigenschaften zur Verbesserung unserer Lebenssituation zu bedienen. Darüber hinaus haben die Klügsten unter uns die fast unglaubliche Leistung vollbracht, mit der Hilfe abstrakter mathematischer Formeln, die sie wie immaterielle Raumsonden in uns verschlossene Bereiche der Welt entsandten, Strukturen der Wirklichkeit nachzuweisen, die uns nicht nur nicht wahrnehmbar, sondern auch unvorstellbar sind: die schon erwähnte nichteuklidische Raumstruktur, die immaterielle Natur der Materie unterhalb der Ebene des Atoms, die prinzipielle Identität von Energie und Materie, um nur an einige der wichtigsten Fälle zu erinnern.
Der uns von unserer genetischen Konstitution zugewiesene Erkenntnishorizont ist von uns also in der Tat »transzendiert« worden - eine unbestreitbar atemberaubende, dem Menschen allein vorbehaltene Leistung. Die Frage ist nur, wie weit uns dieser Durchbruch eigentlich hat gelangen lassen. Manche Leute - akademische Philosophen vor allem - neigen dazu, den Durchbruch für total zu halten. Ihrer Ansicht nach hat sich der Mensch vermittels dieser Fähigkeit zur »Selbsttranszendierung« die Welt grundsätzlich ohne bleibenden Rest erschlossen. »Der Mensch ist durch seinen Erkenntnisapparat ins Absolute versetzt«, heißt das in ihren Kreisen. Der Außenstehende hört es mit Verwunderung. Solche Grenzenlosigkeit des Erkenntnisanspruchs riecht vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus zweieinhalb Jahrtausenden menschlicher Geistesgeschichte verdächtig nach einem schweren Rückfall in überwunden geglaubte Formen anthropozentrischer Hybris. Mir kommt das so vor, als ob jemand, der gerade schwimmen gelernt hat, daraus die Gewißheit ableiten wollte, daß er nunmehr in der Lage sei, auch einen Ozean schwimmend zu überqueren.
[...]
Vor allem aber möchte ich unterstreichen, daß mein Argument - die Erschließung neuer Welthorizonte im Falle einer evolutiven Weiterentwicklung über die bis heute biologisch verwirklichten kognitiven Funktionen hinaus - prinzipiellen Charakter hat: Es gilt völlig unabhängig von der Frage, ob es dazu auf diesem Planeten kommen wird. Wenn, das ist alles, was ich behaupte, uns haushoch überlegene Lebensformen die Welt betrachteten, dann würden sie mit ihren den unsrigen so weit überlegenen Erkenntnisapparaten jenseits der Grenzen des uns zugänglichen Weltbildes gewiß nicht auf lauter weiße Flecken stoßen, sondern auf Eigenschaften der objektiven Realität, die für uns unwahrnehmbar, unvorstellbar und unausdenkbar sind. Die Welt ist oberhalb der von uns erreichten Stufe der Erkenntnis nicht zu Ende. Sie ist nach oben offen. Die gegenteilige Annahme wäre Ausdruck anthropozentrischer Vermessenheit reinsten Wassers, vergleichbar nur mit dem jahrtausendelang die Köpfe der Menschen beherrschenden Wahn, sie befänden sich mit ihrer Erde im Mittelpunkt des ganzen Weltalls.