Peter Möller

Einführung in die Philosophie


Vorwort

Zhuang Zhou träumte, er sei ein Schmetterling, der fröhlich umherflatterte und nichts wusste von Zhuang Zhou. Nach dem Erwachen fragte sich Zhuang Zhou:

Bin ich nun Zhuang Zhou, der träumte, er sei ein Schmetterling, oder bin ich ein Schmetterling, der träumt, er sei Zhuang Zhou?

Mit dieser kleinen Parabel, dem »Schmetterlingstraum« des alten chinesischen Philosophen Zhuang Zhou (ca. 365–290 v. Chr.) haben Sie ein Beispiel dafür, womit Philosophen sich u. a. beschäftigen.

Allerdings nicht alle. Einige Philosophen werden mit Entrüstung zurückweisen, ihre Philosophie beschäftige sich mit einer so blödsinnigen Frage, ob das Leben vielleicht nur ein Traum sei.

Zur Bekräftigung einer solchen Position trug der deutsche Dramatiker und Lyriker Bertolt Brecht (1898–1956) sinngemäß folgende Parabel vor, die ebenfalls im alten China spielt:

Im Kloster Mi Sang am Ufer des Gelben Flusses trafen sich Philosophen, um über die Frage zu diskutieren, ob der Gelbe Fluss wirklich existiert oder nur in den Köpfen der Menschen. Nun kam es aber während der Diskussionen zu einer Schneeschmelze im Gebirge, der Gelbe Fluss trat über seine Ufer und schwemmte das Kloster Mi Sang mit allen Philosophen davon. Deshalb konnte die Frage, ob der Gelbe Fluss wirklich existiert, bisher nicht geklärt werden.

So ist es in der Philosophie. Zwei Philosophen, zwei Meinungen. 100 Philosophen, 100 Meinungen.

Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften gibt es in der Philosophie kein allgemein anerkanntes Grundwissen.

So sagte der amerikanische Philosoph William James (1842–1910):

Man kann sich bei Philosophen nur auf eine Sache verlassen: sie werden immer anderen Philosophen widersprechen.

Und der französische Philosoph und Schriftsteller Jean-Paul Sartre (1905–1980) sagte:

Wenn zwei Philosophen zusammentreffen, ist es am vernünftigsten, wenn sie zueinander bloß »Guten Morgen« sagen.

Meinungsverschiedenheiten sind unter selbstdenkenden Menschen eine Selbstverständlichkeit und Philosophen sind Selbstdenker. Das unterscheidet sie von den Anhängern und Verkündern aller möglichen festgeformten Weltanschauungen und Religionen.

Wenn zwei Philosophen in allen Punkten einer Meinung sind, dann ist mindestens einer von den beiden überhaupt kein Philosoph.

Viele Menschen meinen deshalb, es sei müßig, sich mit Philosophie zu beschäftigen. Nichtsdestotrotz besteht die Philosophie seit über zweieinhalbtausend Jahren und mit jeder neuen Generation wachsen Menschen heran, die fragen:

  • Ist vielleicht alles nur ein Traum?
  • Oder eine Computersimulation?
  • Warum gibt es überhaupt etwas?
  • Warum gibt es mich?
  • Was ist der Sinn des Lebens?
  • Gibt es überhaupt einen Sinn?
  • Was kann ich wissen?
  • Was soll ich tun?
  • Was ist gut, was ist böse?
  • Wie kann ich glücklich werden?
  • Gibt es einen Gott?
  • Gibt es eine Fortexistenz nach dem Tode?

  • Ob es sichere Antworten auf diese Fragen gibt, ist umstritten.

    Der italienische Schriftsteller Giovanni Guareschi (1908–1968), der Schöpfer von Don Camillo und Peppone, drückte es so aus:

    Die Philosophen sind wie Zahnärzte, die Löcher aufbohren, ohne sie füllen zu können.

    Auf jeden Fall vermehrt die Beschäftigung mit Philosophie die Menge der Rätsel, die Sie kennen. Es vermehrt die Menge der Fragen, die Sie haben. Es problematisiert, es sensibilisiert. Es erweitert so den individuellen geistigen Horizont eines Menschen, ohne deshalb unbedingt die Menge der sicheren Wahrheiten zu vergrößern.

    »Ob ein Mensch klug ist,
    erkennt man viel besser an seinen Fragen
    als an seinen Antworten.«
    François Gaston de Lévis (1720–1787)
    Französischer Militär und Aphoristiker


    Diese Einführung soll dem Leser vermitteln:

    • Was Philosophie ist
    • Welche Teilbereiche sie hat
    • Welche Themen und Fragen die Philosophie besonders untersucht
    • Welche zum Teil widersprechenden Antworten sie auf bestimmte grundsätzliche Fragen gibt
    • Welches die verschiedenen besonders bedeutenden philosophischen Strömungen und
    • Welches die bedeutendsten Philosophen sind


    »Klug fragen können, ist die halbe Weisheit .«
    Francis Bacon (1561–1626)
    Englischer Philosoph



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    Einleitung

    Wie sollte der Leser mit dieser Einführung arbeiten?

    Nach dem Lesen dieser Einführung in die Philosophie wird der Leser, der bisher nichts oder nur sehr wenig über die Philosophie wusste, mit einigen Begriffen, die er oft benutzt oder oft hört, in Zukunft bewusster umgehen.

    Wahrheit, Wirklichkeit, Welt, Existenz, Bewusstsein, Geist, Ich, Du, Gefühl, Vernunft, Verstand, Denken, Logik, Wissenschaft, Materie, Raum, Zeit, Bewegung, Ursache, Freiheit, Wille, Sein und Schein, Gut und Böse, Verantwortung und Schuld, Religion, Gott und Tod.

    Viele dieser Begriffe werden im Alltagsleben, in den Wissenschaften, in pseudowissenschaftlichen und esoterischen Schriften verwendet, ohne dass die Menschen sich der genaueren Bedeutung, der Tragweite und der Tiefe dieser Wörter bewusst sind. Wenn man über diese Begriffe nachdenkt, dann wird man merken (können), dass viele Wahrheiten des Alltagslebens, der Wissenschaften und der verschiedenen Weltanschauungen gar nicht so sicher, so selbstverständlich sind, wie die Menschen häufig auf den ersten Blick glauben. Denn die Begriffe, mit denen diese Wahrheiten gedacht und formuliert werden, sind selbst problematisch bzw. viel komplexer, als gemeinhin angenommen wird.

    Wer sich zum ersten Mal mit der Philosophie näher beschäftigt, der wird hier auch viele neue Begriffe kennenlernen, die er bisher nicht kannte, die aber Dinge, Eigenschaften, Ereignisse und Beziehungen seines Lebens, seiner Umwelt, seines Denkens und Fühlens beschreiben oder die bedeutende philosophische Strömungen, Methoden etc. bezeichnen.

    Materialismus, Idealismus, Agnostizismus, Dualismus, Dialektik, Metaphysik, Ontologie, Rationalismus, Empirismus, Induktion, Deduktion, Verifikation, Falsifikation, Intuition, Determination, Kausalität, Relativismus, Skeptizismus, Dogmatismus, Ästhetik, Ethik, Anthropologie, Monotheismus, Polytheismus, Pantheismus, Positivismus, Konstruktivismus, Strukturalismus, Existenzialismus.

    Diese Einführung soll die Leser, die bisher keine oder nur sehr vage Vorstellung von der Philosophie haben, u. a. dazu befähigen, aktuelle Diskussionen zur Philosophie und auf angrenzenden Gebieten zu verstehen. Sie sollen in die Lage versetzt werden, in den seriösen Zeitungen und Zeitschriften im »Feuilleton« entsprechende Beiträge zu lesen. (Von französisch »feuillet« = Blatt, der kulturelle Teil anspruchsvoller Zeitungen.) Auch im Fernsehen gibt es anspruchsvolle philosophische Gespräche, nicht nur Oberflächliches. Man muss nur suchen und entsprechend auswählen. Um das zu können, muss der Leser wissen, welche Philosophen und philosophischen Richtungen bedeutsam sind und welche Auffassungen von diesen Philosophen bzw. in diesen Strömungen vertreten werden.

    »Jeder ungebildete Mensch
    ist die Karikatur von sich selbst.«
    Friedrich Schlegel (1772–1829)
    Deutscher Philosoph und Dichter


    Philosophie und Naturwissenschaften

    Ich spreche auch des Öfteren naturwissenschaftliche Themen und Erkenntnisse an, insbesondere solche der Physik und der Biologie. Das liegt daran, dass der jeweilige naturwissenschaftliche Erkenntnisstand eine große Bedeutung für den jeweiligen philosophischen Erkenntnisstand hat bzw. für einige philosophische Strömungen.

    Es gibt (und gab) Philosophen, die mit Naturwissenschaft »nichts am Hut haben«, die losgelöst von den Naturwissenschaften philosophieren. Aber es gibt auch Philosophen und philosophische Strömungen, die einen starken Bezug zu den Naturwissenschaften und zu bestimmten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen haben.

    »Die Philosophie
    ist das Mikroskop des Gedankens.«
    Victor Hugo (1802–1885)
    Französischer Schriftsteller


    Bei Personen habe ich, wenn diese zum ersten Mal im Text erwähnt werden, in Klammern die Lebenszeit eingefügt und kurz erwähnt, wer das ist oder war. Im weiteren Verlauf habe ich das aber nicht immer wiederholt.

    Es lässt sich bei der Darstellung der Philosophie, ihrer Teilbereiche und ihrer verschiedenen Strömungen nicht vermeiden, dass ich Begriffe benutze und philosophische Grundgedanken, Strömungen und Personen erwähne, die erst in einem späteren Kapitel näher erläutert werden. Ich empfehle, diese Einführung zweimal zu lesen. Beim zweiten Mal wird man vieles besser verstehen als beim ersten Mal.

    In die Philosophie kann man nicht einfach geradeaus vordringen, wie eine Nadel in ein Wollknäuel. Das Eindringen in die Philosophie gleicht mehr dem Vordringen eines Korkenziehers in den Korken.


    Dieser Vergleich reicht noch nicht ganz, weil man häufig auch wieder zurückkehren muss, zu Stellen, wo man schon einmal war. Hin und wieder muss man einen Satz, den man nicht versteht, übergehen, weiterlesen und später auf den nicht verstandenen Satz zurückkommen.

    »Ist man in kleinen Dingen nicht geduldig,
    bringt man die großen Vorhaben zum Scheitern.«
    Konfuzius (551–479 v. Chr.)
    Chinesischer Philosoph


    Die Kapitel 1 bis 13 sollten nacheinander gelesen werden, da in den späteren Kapiteln oft auf Erklärungen in den früheren Kapiteln Bezug genommen wird. Die Kapitel 14 und 15 sowie das Sach- und Personenlexikon können als Nachschlagewerk benutzt werden.

    Ich versuche, die hier behandelten Themen so leicht wie möglich darzustellen. Aber nicht alles kann einfach wiedergegeben werden! Oder um es mit dem deutschen Philosophen Ernst Bloch (1885–1977) zu sagen:

    Die 9. Symphonie kann man nicht auf dem Kamm blasen.

    (Die von Beethoven ist gemeint.) Komplizierte Gedanken erfordern oft auch eine komplizierte Formulierung. Wie in Büchern über Mathematik, Physik, Chemie u. ä. muss man auch in einem Text über Philosophie hin und wieder einen Satz oder Absatz mehrfach lesen und eine gewisse Denkarbeit leisten, um das Gelesene geistig nachvollziehen zu können.

    »Nicht Lehre oder Betrachtung, nicht
    Begeisterung allein kann den Menschen,
    wie ein Licht von oben herein, durchwärmen,
    beleben und beseligen; er selbst,
    von innen heraus, muss sich emporarbeiten.«
    Ernst von Feuchtersleben (1806–1849)
    Österreichischer Philosoph und Schriftsteller


    Und es gibt auch in der Philosophie Bereiche, wo man in der Regel einen Lehrer braucht, um etwas verstehen zu können. Manches ist zu kompliziert, als dass alle Menschen es sich selbstständig anlesen könnten (zum Beispiel moderne symbolische Logik).

    Griechisch und Lateinisch

    Fremdwörter lassen sich in einem Text über Philosophie nicht vermeiden. Diese haben – wie die meisten philosophischen Begriffe auch – in der Regel ihren Ursprung im Altgriechischen, Abkürzung gr., oder im Lateinischen, Abkürzung lat. Die griechischen und lateinischen Wörter haben – wie es ja auch bei deutschen, englischen, französischen Wörtern üblich ist – oft mehrere, meist ähnliche Bedeutungen. Bei der Erklärung von philosophischen Begriffen werden in dieser Einführung die Bedeutungen wiedergegeben, die für den hier erläuterten Begriff wichtig sind. Die Bedeutung der griechischen und lateinischen Wörter erschöpft sich oft nicht in dieser Erklärung. Ich führe die Herkunftswörter auf, weil sie helfen, den Begriff zu verstehen. Aber ich erteile hier keinen Unterricht in Altgriechisch oder Latein.

    Bei der Schreibweise antiker und mittelalterlicher Philosophen gibt es Differenzen, besonders aber bei der Schreibweise indischer und chinesischer Philosophen, Begriffe, Buchtitel etc. Die Übersetzung von einer Sprache in eine andere ist nicht immer leicht, oft sind mehrere Übersetzungen möglich, besonders dann, wenn eine Sprache – wie das Chinesische – der deutschen Sprache denkbar fernsteht. Es sollte deshalb niemanden wundern, wenn er zum Beispiel im Internet andere Schreibweisen – aber eben auch gerade dort keine einheitlichen – findet als in dieser Einführung.

    Auch Zitate und Aphorismen von Philosophen, die nicht in Deutsch schrieben, werden von verschiedenen Autoren unterschiedlich übersetzt. Solange der Sinn erhalten bleibt, ist das kein Problem. Es sollte deshalb niemanden wundern, wenn man das eine oder andere Zitat anderswo in etwas anderer Formulierung findet als hier.

    Viele philosophische Fachbegriffe werden von verschiedenen Philosophen und Autoren unterschiedlich benutzt. Eine einheitliche philosophische Terminologie (Fachsprache), an die sich alle Philosophierenden, Denkenden, Lehrenden, Schreibenden etc. halten, gibt es ebenso wenig wie ein allgemein akzeptiertes Grundwissen. Es kann also durchaus passieren, dass in den philosophischen Texten anderer Autoren der eine oder andere Begriff anders benutzt oder definiert wird, als hier erläutert. Das erleichtert dem Anfänger nicht gerade den Einstieg in die Philosophie. Aber so ist es nun mal.

    Oft reden Philosophen und philosophisch interessierte Menschen aneinander vorbei, weil sie unter den gleichen Wörtern Verschiedenes verstehen.

    Da es in der Philosophie kein allgemein akzeptiertes und aufeinander aufbauendes Grundwissen gibt, muss ich aus der Vielzahl der philosophischen Themen, Strömungen und Personen auswählen. Nicht alles, was auf dem Gebiet der Philosophie diskutiert wird, kann ich gleichermaßen ausführlich in Breite und Tiefe behandeln. Sonst müsste dieser Einführung doppelt so lang sein. (Zur Weiterführung können Sie gerne das philolex nutzen.)

    Ich habe mein Ziel erreicht, wenn ich den Leser durch diese Einführung dazu bewegen kann, weitere philosophische Texte zu lesen.

    »Lernen ist wie Rudern gegen den Strom.
    Hört man damit auf, treibt man zurück.«
    Laozi (ca. 6. Jahrhundert v. Chr.)
    Legendärer chinesischer Philosoph


    Wegen des nicht vorhandenen allgemein akzeptierten Grundwissens und der großen Verschiedenheit der philosophischen Positionen wird Philosophie in viel stärkerem Maße als in den Naturwissenschaften an Hand der bedeutenden Philosophen und der bedeutenden philosophischen Strömungen dargestellt.

    Die Farben in diesem Text

    Wichtige Aussage
    Wenn der Text rosa hinterlegt ist, dann handelt es sich um eine wichtige Aussage, die für das Erläuterte besonders bedeutsam ist oder es kurz zusammenfasst. Solche Aussagen sollten Sie sich besonders merken.



    Beispiel
    Wenn der Text lila hinterlegt ist, dann bedeutet dies, dass an Hand eines Beispiels aus dem täglichen Leben oder eines Gleichnisses versucht wird, einen abstrakten Gedanken zu verdeutlichen.


    Experimente wie in den Naturwissenschaften kann man in der Philosophie nicht machen. Stattdessen werde ich zum Nachdenken über bestimmte Fragen, Themen, Probleme etc. auffordern. Ich werde Vorschläge machen, über was man mit anderen Menschen diskutieren sollte. Wenn es auf die Fragen eindeutige Antworten oder mehrere mögliche Antworten geben sollte, dann werden diese entweder im Anschluss an die Frage oder in einem extra Abschnitt am Ende des jeweiligen Kapitels dargestellt.

    Denken
    Wenn der Text grün hinterlegt ist, dann bedeutet dies, dass ich einen Vorschlag mache, worüber Sie nachdenken oder mit anderen diskutieren sollten. Bevor der folgenden Absatz gelesen oder am Ende des Kapitels nach der Lösung gesucht wird, sollte über die Frage nachgedacht werden.


    In einigen Kapiteln werden Aufgaben nicht in solchen Kästen angeführt, sondern am Ende des Kapitels in einem Extraabschnitt.

    Des Öfteren füge ich in blauer Schrift Zitate berühmter Philosophen, Schriftsteller oder Wissenschaftler ein, die ich im Zusammenhang mit den vorgetragenen Gedanken besonders interessant finde. (Diese Zitate geben zwar oft, aber nicht in allen Fällen meine Meinung wieder.)

    »Hunderte Menschen schärfen ihren Säbel,
    Tausende ihre Messer,
    aber Zehntausende lassen ihren
    Verstand ungeschärft,
    weil sie ihn nicht üben.«
    Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827)
    Schweizer Pädagoge



    Zitat
    Zitate sowie Wiedergaben der Auffassung anderer Philosophen oder philosophischen Richtungen in meiner eigenen Formulierung befinden sich in Kästen, die hell orange hinterlegt sind. (Es sei denn, es handelt sich um Gleichnisse u. ä. Dann sind sie lila hinterlegt.)



    Humor
    Wenn der Text gelb hinterlegt ist, dann handelt es sich um eine humoristische, ironische oder polemische Stellungnahme zu einer bestimmten Auffassung. Oder es ist ein Scherz oder eine humorvolle Begebenheit oder Anekdote etc.



    Aufzählung
    Wenn der Text graugelb hinterlegt ist, dann handelt es sich um Aufzählungen.



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    1. Kapitel

    Was ist Philosophie?


    »Wer niemals eine philosophische Anwandlung gehabt hat,
    der geht durchs Leben und ist wie in ein Gefängnis
    eingeschlossen: von den Vorurteilen des gesunden
    Menschenverstandes, von den gewöhnlichen Meinungen
    seines Zeitalters oder seiner Nation und von den Ansichten,
    die ohne die Mitarbeit oder die Zustimmung der
    überlegenden Vernunft in ihm gewachsen sind.«
    Bertrand Russell (1872–1970)
    Britischer Philosoph



    In diesem Kapitel wird vermittelt:

    • Was Philosophie ist
    • Welche Teilbereiche sie hat
    • Warum man sich mit Philosophie beschäftigen sollte
    • Was das Wichtigste an der Philosophie ist
    • Was Philosophie von anderen Wissensbereichen unterscheidet


    Philosophie und Einzelwissenschaften

    Es ist schwierig, wenn nicht unmöglich, eine Definition für Philosophie zu finden, der alle Philosophen zustimmen. Die Philosophie gibt es so wenig wie die Religion. Die Menschen, die gemeinhin »Philosophen« genannt werden, haben in den vergangenen ca. 2.500 Jahren die unterschiedlichsten und widersprechendsten Behauptungen aufgestellt, auch über ihre eigene Tätigkeit.

    Was Münchhausen nur im Märchen schaffte, sich nämlich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen, das muss im übertragenen Sinne die Philosophie bewerkstelligen. Sie muss sich selber definieren. Was Philosophie ist, ist bereits eine Frage der Philosophie.


    »Philosophie ist die Wissenschaft, über die man
    nicht reden kann, ohne sie selbst zu betreiben.«
    Carl Friedrich von Weizsäcker (1912–2007)
    Deutscher Physiker und Philosoph


    Am ehesten wird folgende Definition die meiste Zustimmung finden:

    Philosophie ist der Versuch des Menschen mit der Methode des Denkens seine Existenz, die von ihm wahrgenommene äußere Welt und sein eigenes Inneres zu erklären.


    Wie in den weiteren Kapiteln dieser Einführung noch deutlich wird, stimmen nicht alle Philosophen mit dieser Definition überein. Aber als Einstieg wird diese Erklärung erst einmal reichen.

    »Das Geschäft der Philosophie ist das Aussondern
    und systematische Zusammenstellen dessen,
    was sich von selbst versteht und wodurch
    alles andere muss verstanden werden.«
    Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819)
    Deutscher Philosoph


    Für die abendländische Philosophie gilt Folgendes: Im antiken Griechenland, der Geburtsstätte unserer abendländischen Kultur, war ein Philosoph einfach ein Mensch, der sich um die Erkenntnis der Welt bemühte, in etwa vergleichbar mit dem, was wir heute einen Wissenschaftler nennen. Das Wort Philosophie kommt von den griechischen Wörtern »philia«, was ungefähr bedeutet »Freund« oder »Liebe« und »sophia«, was ungefähr bedeutet »Weisheit« oder »Einsicht«. Ein Philosoph war ein »Weisheitsfreund«. Er beschäftigte sich mit allem, mit den Sternen wie mit den Pflanzen, mit der Frage was gut und böse ist, was der Sinn des Lebens sei etc. pp.

    »Philosophieren heißt die Allwissenheit
    gemeinschaftlich suchen.«
    Friedrich Schlegel


    Im Laufe der Jahrhunderte entwickelten sich dann erst die Einzelwissenschaften. Es gab Menschen, die beschäftigten sich speziell mit Mathematik oder mit Medizin, mit dem Recht oder der Kunst der richtigen Rede (Rhetorik) etc. Daneben blieb die Philosophie bestehen als das Bestreben, nicht nur einzelne Teile des Seins, sondern das Sein in seiner Gänze zu erklären.

    Unter Philosophie versteht man in der Umgangssprache des Öfteren die grundsätzliche Einstellung zu etwas. Zum Beispiel: »Jeder Trainer hat da seine eigene Philosophie.« »Die Philosophie unseres Unternehmens ist ...« In dieser Einführung geht es um Philosophie in einem grundsätzlicheren und umfangreicheren Sinne.


    Wenn die Philosophie einzelne Teile des Seins untersucht, was sie auch macht, zum Beispiel die Natur (Naturphilosophie) oder den Staat (Staatsphilosophie), dann macht sie dies, um Grundsätzliches über diesen Teilbereich auszusagen oder um die Beziehung des Teils zum Ganzen zu erläutern. Mit den Details des jeweiligen Teils des Seins beschäftigt sich dann die jeweilige Wissenschaft von diesem Teil, zum Beispiel die Naturwissenschaft oder die politische Wissenschaft.

    »Die wahre Medizin des Geistes ist die Philosophie.«
    Cicero (106–43 v. Chr.)
    Römischer Philosoph und Rhetoriker



    Teilbereiche der Philosophie

    Welche Teilbereiche der Philosophie es gibt, wird von den verschiedenen Philosophen, Philosophieprofessoren und philosophischen Schriftstellern unterschiedlich gesehen. In der Regel werden folgende Gebiete genannt:

  • Die Ontologie (von den griechischen Wörter »on« = sein und »logos« = Lehre, Gesetz, Vernunft u. ä.) beschäftigt sich mit der Gesamtheit des Seins, mit den grundsätzlichsten Existenz- und Entwicklungsbedingungen.

  • Die Metaphysik (von gr. »meta« = nach, hinter und »physika« = Naturwissenschaft) beschäftigt sich ebenfalls mit der Gesamtheit des Seins, aber besonders mit dem sinnlich nicht mehr Wahrnehmbaren. Es ist der Bereich der Spekulationen. (Metaphysik und Ontologie überschneiden sich, wie auch die anderen Teilgebiete. Für einige Philosophen sind Ontologie und Metaphysik dasselbe.)

  • Die Erkenntnistheorie ist die Lehre vom Erkennen, von den Möglichkeiten, Quellen und Grenzen menschlichen Erkenntnisvermögens. (Daraus abgeleitet und zum Teil mit ihr identisch ist die Wissenschaftstheorie.)

  • Die Logik ist die Lehre vom richtigen Denken.

  • Die Ethik (von gr. »ethos« = Sitte, Gewohnheit) ist die Lehre vom richtigen Wollen und Handeln und von der Frage, was gut und böse ist.

  • Die Ästhetik (von gr. »aisthesis« = sinnliche Wahrnehmung) ist die Lehre vom Schönen.

  • In einigen philosophischen Richtungen wird davon ausgegangen, dass Ontologie und Metaphysik unmöglich seien. Einige Philosophen sehen die Ethik und Ästhetik nicht als Teile der Philosophie an, sondern als etwas gesondertes, das aber durchaus einen Wert haben kann.

    Zusätzlich werden oft als Teilgebiete der Philosophie genannt:

  • Anthropologie (von gr. »anthropos« = Mensch) ist die Wissenschaft vom Menschen.

  • Die Sprachphilosophie.

  • Die Dialektik wird oft als ein Teilgebiet der Philosophie betrachtet, das die Logik und die Ontologie und mitunter auch die Metaphysik umfasst. Einige Philosophen lehnen die Dialektik aber schroff ab.

  • Gelegentlich werden noch – in der Regel in älterer Literatur – als Teilgebiete genannt: Kosmologie, philosophische Psychologie und philosophische Theologie bzw. philosophische Religionslehre.

    Diese Teilgebiete und ihre Bezeichnungen werden in den kommenden Kapiteln dieser Einführung näher erläutert.


    Warum Sie sich mit Philosophie beschäftigen sollten

    Unter der Vielzahl von Gründen, warum man sich mit Philosophie beschäftigen sollte, möchte ich hier vier hervorheben, die zeigen, dass Philosophie jeden angeht, dass jeder philosophiert, ob er es weiß oder nicht.

    Jeder Mensch hat ein Neugierbedürfnis.

    Auch wenn das bei vielen Erwachsenen nach und nach schwindet oder sich auf sehr banale Dinge bezieht. (»Wo verliert Hertha denn heute?« Der Autor lebt in Berlin ;-) Viele wollen wissen, was das hier ist. Wo bin ich hier gelandet? What's the name of the game?

    »Das Wichtige ist, dass man nicht aufhört zu fragen.
    Neugierde hat ihren eigenen Existenzgrund.
    Man kann nicht anders,
    als staunend über die Ewigkeit, das Leben
    und die wunderbare Struktur
    der Realität nachzudenken. [...]
    Verliere niemals diese heilige Neugierde.«
    Albert Einstein (1879–1955)
    Bedeutender Physiker


    Viele Menschen sind mit einer traditionellen Religion verbunden und glauben die dort gegebenen Antworten. Andere schließen sich neuen Religionen oder irgendwelchen esoterischen Lehren an. Aber es gibt auch Menschen, die versuchen mit Hilfe des Denkens Lösungen zu finden.

    Jeder Mensch hat eine Erkenntnistheorie.

    Ob er es weiß oder nicht.

    Menschen, die als Erwachsene zum ersten Mal eine Fremdsprache lernen, bemerken häufig erst dann, dass ihre Sprache nicht nur aus Wörtern, sondern auch aus Grammatik besteht. Das merken sie dann, wenn sie ihre Grammatik, die sie seit Jahrzehnten ständig unbewusst benutzt haben, instinktiv in die fremde Sprache übertragen wollen.


    Und so wie jeder Sprechende eine Grammatik hat, ob er es weiß oder nicht, so hat jeder Erkennende eine Erkenntnistheorie, ob er es weiß oder nicht. Jeder, der glaubt, eine Wahrheit zu kennen, hat bewusst oder unbewusst eine Vorstellung davon, an was eine Wahrheit zu messen ist, was die Wahrheit wahr macht. Die Beschäftigung mit Philosophie kann dazu führen, dass Menschen sich ihrer Erkenntnistheorie bewusst werden. Dann werden sie erfahren können, dass es neben der eigenen auch andere Erkenntnistheorien gibt. Das kann dazu führen, dass das Wissen, das man zu haben glaubt, in einem neuen Licht erscheint.

    Jeder Mensch hat eine Vorstellung von Gut und Böse.

    Ob er es weiß oder nicht. Einige wenige Menschen sind auch der Auffassung, dass es so etwas wie Gut und Böse gar nicht gibt. Das heißt, jeder Mensch hat eine Ethik. Die Beschäftigung mit Philosophie kann dazu führen, dass Menschen sich ihrer Ethik bewusst werden. Dann werden sie erfahren können, dass andere Menschen eine andere Ethik haben. Die eigenen ethischen Auffassungen können dann in einem anderen Licht erscheinen.

    Jeder Mensch strebt nach etwas, setzt sich Ziele.

    Er versucht, Bedürfnisse zu befriedigen. Die Beschäftigung mit Philosophie kann dazu führen, dass Menschen sich ihrer Ziele und Bedürfnisse bewusst werden und bewusster mit ihnen umgehen. Sie können erkennen, dass andere Menschen nach anderem streben. Das kann dazu führen, dass sie sich der Relativität, der Austauschbarkeit der Ziele bewusst werden, was sie dann eventuell dazu in die Lage versetzt, ganz bewusst Ziele aufzugeben und in Zukunft andere Ziele anzustreben.


    Grundsätzliches zur Philosophie

    Es geht nicht nur darum, dass man sich quantitativ Wissensstoff aneignet und in seinem Kopf speichert. Das wirklich Wichtige an der Philosophie ist, dass sie zu einer qualitativen Weiterentwicklung des Intellekts eines Menschen führen kann. Viele philosophische Aussagen sind ohne eine qualitative Steigerung des Einsichtsvermögens überhaupt nicht verstehbar. Sie sind nur als eine faktisch nicht nachvollziehbare Information aufspeicherbar. Die quantitative Menge des Wissens ist allerdings nicht unwichtig, da sie häufig Voraussetzung für die qualitative Steigerung ist. (Der Umschlag quantitativer in qualitative Veränderungen wird in dem Kapitel Dialektik näher vorgestellt. Auch im Kapitel Erkenntnistheorie im Zusammenhang mit der Intuition wird darauf näher eingegangen.)

    »Der Geist ist nicht wie ein Gefäß,
    das gefüllt werden soll,
    sondern wie Holz,
    das entzündet werden will.«
    Plutarch (ca. 46–120)
    Griechischer Schriftsteller



    Abgrenzung zu anderen Wissensbereichen und Aktivitäten

    Es kommt vor, dass Philosophie mit anderen Wissensbereichen und Aktivitäten bis zur Unkenntlichkeit vermischt wird. Viele Künstler haben den Anspruch, mit ihren Produkten etwas über das Sein auszusagen. Aber ihre Annäherung an das Sein und ihre Produkte unterscheiden sich von der Philosophie und können deshalb nicht mit Philosophie gleichgesetzt werden. Das bedeutet nicht, dass Kunst deshalb schlecht sei.

    Vanilleeis ist ja auch nicht schlecht, nur weil es kein Schokoladeneis ist. Aber Vanilleeis ist nun mal Vanilleeis und Schokoladeneis ist Schokoladeneis.


    Und so ist Philosophie eben Philosophie, und Kunst ist Kunst, und Religion ist Religion etc. Es gibt Berührungspunkte. Ein Philosoph kann gleichzeitig auch ein Literat sein. Linguistik (Sprachwissenschaft), Psychologie (Wissenschaft von der Psyche, den bewussten und unbewussten geistigen Vorgängen), Gehirnforschung und Naturwissenschaft sind interessante geistige Tätigkeiten der Menschen. Philosophen sollten einen allgemeinen Überblick haben, was sich dort tut. Aber diese Bereiche geistiger Tätigkeit sind keine Philosophie, können die Philosophie nicht ersetzen, da die Philosophie grundsätzliche Fragen stellt, die in diesen Teilbereichen intellektueller Aktivitäten nicht gestellt werden.


    Fragen und Aufgaben

  • Aufgabe 1: Versuchen Sie in ein paar Sätzen zu erklären, was Philosophie ist.

  • Aufgabe 2: Welche Teilbereiche hat die Philosophie?

  • Aufgabe 3: Nennen Sie einige Gründe, warum man sich mit Philosophie beschäftigen sollte.


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    2. Kapitel

    Die Grundfrage der Philosophie

    »Die große Grundfrage aller, speziell neueren Philosophie
    ist die nach dem Verhältnis von Denken und Sein [...]
    Je nachdem diese Frage so oder so beantwortet wurde,
    spalteten sich die Philosophen in zwei große Lager.
    Diejenigen, die die Ursprünglichkeit des Geistes gegenüber
    der Natur behaupteten, also in letzter Instanz eine
    Weltschöpfung irgendeiner Art annahmen [...], bildeten das
    Lager des Idealismus. Die anderen, die die Natur als das
    Ursprüngliche ansehen, gehören zu den verschiedenen
    Schulen des Materialismus.«
    Friedrich Engels (1818–1895)
    Deutscher Philosoph


    In diesem Kapitel wird vermittelt:

    • Was die Grundfrage der Philosophie ist
    • Was das Leib-Seele-Problem ist
    • Was man in der Philosophie versteht unter:
    • Materialismus und Realismus,
    • Idealismus und Spiritualismus,
    • Agnostizismus,
    • Dualismus und Monismus.

    Der deutsche Philosoph Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) behauptete, es könne nur zwei konsequente philosophische Systeme geben: Materialismus oder Idealismus.

    Wenn Sie sich auf das konzentrieren, was Sie unmittelbar erleben, dann erleben Sie sich als Körper (oder als Materie) und als Bewusstsein. Unabhängig davon, welche Wörter Sie dafür auch immer benutzen mögen.

    Sie haben einen Körper.
    Sie sind zugleich aber auch dieser Körper.
    Sie haben ein Bewusstsein.
    Sie sind zugleich aber auch dieses Bewusstsein.


    Im Kapitel Dialektik werden Sie sehen, dass dies nicht der einzige Widerspruch, das einzige Paradoxon Ihrer Existenz ist.

    In welchem Verhältnis Bewusstsein und Materie zueinander stehen, ist eine der ältesten Fragen der Philosophie, auch bekannt als Leib-Seele-Problem.

    Analogieschluss

    In der Philosophie ist auch die Welt analog zum Menschen oft als Körper (die materiellen Dinge) und als Seele (Gott, Weltseele, Weltbewusstsein) angesehen worden. (Der Analogieschluss wird weiter hinten noch näher erklärt.) Die Frage, in welchem Verhältnis diese beiden Bereiche zueinander stehen, ist in der Philosophiegeschichte immer wieder neu beantwortet worden. Die verschiedenen Antworten lassen sich allerdings in bestimmte Gruppen einteilen.


    Materialismus

    Die Auffassung, die Materie bzw. die körperlichen Dinge seien das Primäre der Welt bzw. des Seins, wird in der Philosophie Materialismus genannt. Zu den Vertretern des Materialismus gehören u. a. die antiken griechischen Philosophen Leukipp (5. Jahrhundert v. Chr.) und Demokrit (um 460 bis 371 v. Chr.) mit ihrer Atomtheorie.

    Das Sein besteht aus verschiedenen winzig kleinen Körperchen, den Atomen (gr. »atom« = unteilbar), die weder entstehen noch vergehen. Alles Entstehen und Vergehen ist ein Sichzusammenschließen und ein Sichtrennen von verschiedenen Atomen.


    In der Neuzeit wurde der Materialismus neu belebt von den französischen Materialisten des 18. Jahrhunderts. (Vertreter waren u. a. der Arzt und Naturforscher Julien Offray de La Mettrie (1709–1751) und der in Paris lebende deutsche Baron Dietrich von Holbach (1723–1789). Ihre Auffassung:

    Hinter der Materie ein selbstständiges geistiges Prinzip zu suchen, produziert nur Hirngespinste.

    Der naturwissenschaftliche Materialismus des 19. Jahrhunderts war eng verbunden mit der Naturwissenschaft, genauer gesagt mit dem naturwissenschaftlichen Erkenntnisstand des 19. Jahrhunderts. Er wurde nicht von Philosophen, sondern von Naturwissenschaftlern begründet und vertreten. Bedeutende Vertreter waren der deutsch-schweizerische Mediziner, Zoologe und Politiker Karl Vogt (1817–1895), der niederländische Physiologe Jakob Moleschott (1822–1893) und der deutsche Arzt, Naturwissenschaftler und Philosoph Ludwig Büchner (1824–1899).

    Das Bewusstsein hat zum Gehirn das gleiche Verhältnis, wie der Urin zur Niere.

    Aus philosophischen Überlegungen heraus zum Materialisten wurde der deutsche Philosoph Ludwig Feuerbach (1804–1872). Da der menschliche Körper aus den Stoffen aufgebaut wird, die wir als Nahrung zu uns nehmen, sagte Feuerbach:

    Der Mensch ist, was er isst!

    Besonders bedeutsam für den Verlauf der Geschichte und der Philosophie sind die Materialisten Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels. Sie prägten den berühmten Satz:

    Das Sein schafft das Bewusstsein.

    Die meisten Naturwissenschaftler gehen davon aus, dass das materielle Gehirn primär ist und den Geist bzw. das Bewusstsein des Menschen hervorbringt. Nur eine kleine Minderheit unter ihnen glaubt, dass das Gehirn nur im menschlichen Geist existiert. Es gibt aber auch unter den Naturwissenschaftlern viele religiöse Menschen, die glauben, dass ein Gott die Welt und damit auch die Gehirne geschaffen hat.

    Realismus

    Eine häufig verwendete Bezeichnung für Materialismus ist in der Gegenwartsphilosophie Realismus.

    Der englische Philosoph George Edward Moore (1873–1958) war ein Vertreter des Neurealismus. Er stellte eine »Liste der Trivialitäten« zusammen, in denen er aufschrieb, was der »Gesunde Menschenverstand« (Common Sense) nach seiner Überzeugung mit unmittelbarer Sicherheit wisse: zum Beispiel, dass ich einen Körper habe, dass dieser zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit geboren wurde, dass es das Bücherbord neben mir gibt, andere Menschen, meine Träume, Bestrebungen, Gefühle etc.

    Moore hielt es für eine ungeheuerliche Zumutung, sich vorzustellen, die um uns herum wahrgenommenen materiellen Dinge seien eine Schöpfung des Geistes.


    »Der gesunde Menschenverstand ist oft eine
    der ungesundesten Verständnislosigkeiten.«
    Ludwig Marcuse (1894–1971)
    Deutscher Philosoph


    In seinen Vorlesungen hielt er seinen rechten Arm hoch und sagte: »Hier ist mein rechter Arm.« Dann hielt er seinen linken Arm hoch und sagte: »Hier ist mein linker Arm.«

    Eine solche Einstellung nennt man in der Philosophie auch Naiven Realismus. Naiv nennt man eine solche Einstellung, weil sie nicht nur aus philosophischer, sondern auch gerade aus Sicht der modernen Naturwissenschaft unhaltbar ist, wie weiter hinten noch näher aufgezeigt wird.

    Der Materialismus beinhaltet in der Regel den Atheismus. Das heißt, die Existenz eines Gottes wird ausdrücklich verneint.


    Unterschieden wird zwischen starkem und schwachem Atheismus. Der starke Atheist verneint ganz ausdrücklich die Existenz eines Gottes. Der schwache Atheist glaubt nicht an Gott, lässt es letztlich aber offen, ob es einen Gott gibt. – Siehe hierzu weiter hinten Agnostizismus.)

    Unter den Gegenwartsphilosophen gibt es nicht besonders viele Materialisten, was u. a. etwas mit dem gewandelten Materiebegriff der Physik zu tun hat. Weiter hinten werde ich im Zusammenhang mit der Darstellung des Materiebegriffs noch einmal auf den Materialismus zurückkommen.


    Idealismus

    Die Auffassung, das Bewusstsein, der Geist oder die Idee sei das Primäre der Welt bzw. des Seins, wird in der Philosophie Idealismus genannt.

    Dabei sind zwei Varianten zu unterscheiden: objektiver und subjektiver Idealismus.

    Objektiver Idealismus

    Die Auffassung, eine vom Menschen unabhängige objektive geistige Kraft, Gott, Idee o. Ä. ist Ursache der materiellen Welt, wird Objektiver Idealismus genannt. Für diese Position stehen zum Beispiel die verschiedenen Religionen. So heißt es weit vorne in der Bibel:

    Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.

    Und der bedeutende antike griechische Philosoph Platon (427–347 v. Chr.) sagte:

    Die materiellen Dinge gleichen bloßen Schatten, denen keine wahre Wirklichkeit zukommt. Sie sind nur Abbilder der Ideen. Diese sind Formen, Strukturen, Gattungen, Allgemeinheiten des Seins. Nur ihnen kommt wahre Identität zu.

    Subjektiver Idealismus

    Die Auffassung, der menschliche, subjektive Geist schafft die Welt, wird Subjektiver Idealismus genannt. Konsequentester Vertreter dieser Auffassung unter den klassischen Philosophen war Fichte. Er meinte:

    In einem vorbewussten Stadium setzt das Ich sein eigenes Sein. Als Nächstes setzt es sich ein Nicht-Ich, die Welt, als Schranke, als Widerstand entgegen, um etwas zu haben, an dem es tätig sein kann.

    Der Radikale Konstruktivismus – eine philosophische Modeströmung in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts – ist dieser Richtung zurechenbar. Einer ihrer Hauptvertreter, der österreichisch-amerikanische Philosoph Heinz von Förster (1911–2002), sagte:

    Was wir als Wirklichkeit wahrnehmen, ist unsere Erfindung.

    Auch der irische Philosoph und Bischof George Berkeley (1685–1753) wird des Öfteren dem subjektiven Idealismus zugerechnet oder gar als sein Begründer bezeichnet. Er prägte den unter philosophisch interessierten Menschen sehr berühmten Satz:

    Esse est percipi.

    Zu Deutsch in etwa »Sein ist Wahrnehmung«. Die Existenz materieller Dinge erschöpft sich darin, Wahrnehmungen bzw. Bewusstseinsinhalte zu sein. Da Berkeley ein Christ war, und dazu noch ein Bischof, ging er aber davon aus, dass Gott als oberster Geist den menschlichen Geistern diese Bewusstseinsinhalte eingibt, was Berkeley zu einem Objektiven Idealisten macht.

    In den verschiedenen Religionen wird in der Regel davon ausgegangen, dass die Materie von Gott geschaffen wurde. Dann aber eine tatsächliche Existenz hat. Hiervon verschieden ist die Auffassung, dass Materie nur Bewusstseinsinhalt ist und keine darüber hinausgehende Existenzweise hat.


    In der philosophischen Literatur gibt es weitere »Idealismen« (transzendentalen, kritischen, empirischen u. w.), die aber immer auf subjektiven oder objektiven Idealismus hinauslaufen. Oder auf Mischungen der beiden Grundformen. Da es keine einheitliche philosophische Fachsprache gibt, wird der Begriff Idealismus zuweilen auch für skeptizistische und dualistische Auffassungen verwendet. Diese werden weiter hinten näher erläutert.

    Spiritualismus

    Eine oft verwendete Bezeichnung für Idealismus bzw. für bestimmte Spielarten des Objektiven Idealismus ist Spiritualismus (von lat. »Spiritus« = Geist). Die so bezeichneten Auffassungen gehen in der Regel schon ins Religiöse, besonders wenn in diesem Zusammenhang von Spiritualität gesprochen wird.

    Nicht verwechseln darf man Spiritualismus mit Spiritismus. Letzteres ist ein Begriff aus dem Okkultismus bzw. der Esoterik. Spiritismus bedeutet die Vorstellung, Menschen könnten mit den Geistern Verstorbener Kontakt aufnehmen. Mit Philosophie hat das nichts zu tun.

    Idealismus und Materialismus

    Idealismus und Materialismus als philosophische Begriffe bedeuten etwas anderes als in der Umgangssprache!


    Umgangssprachlich ist ein Idealist jemand, der ein Ideal hat, der bestimmte politische, religiöse, philosophische u. w. Überzeugungen hat und nicht im praktischen, täglichen Leben seine einzige Erfüllung findet. Ein solcher Mensch kann sowohl ein Idealist wie ein Materialist im philosophischen Sinne sein. Und ein Materialist ist umgangssprachlich jemand, dem es nur um das Materielle geht, nur um den materiellen Lebensstandard, der nur an Essen, Sex, Kleidung, Autos etc. interessiert ist und darüber hinaus keine Interessen, keine Ideale hat. Auch ein solcher Mensch kann im philosophischen Sinne sowohl ein Idealist wie ein Materialist sein.

    »Die großen Gegensätze von Idealismus und Realismus
    bewegten von jeher die intellektuelle Welt in ihren Tiefen.
    Sie werden niemals versöhnt und ausgeglichen werden;
    denn gerade auf der ewigen Reibung dieser Gegensätze
    beruht die Entwicklung der Zivilisation,
    und diese leidet nur dann Not,
    wenn einer der beiden Pole einseitig vorwiegte.«
    Johannes Scherr (1817–1886)
    Deutscher Kulturhistoriker




    Agnostizismus

    Die Auffassung, nicht wissen zu können, ob Materie oder Geist das Primäre am Sein ist, wird Agnostizismus genannt. (Von gr. »agnostikos« = nichterkennbar). Hierzu werden in der Literatur der englische Philosoph David Hume (1711–1776) und der deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) gezählt. Der Begriff Agnostizismus wird des Öfteren darauf eingeschränkt, nicht wissen zu können, ob Gott existiert oder nicht.

    »Sichere Wahrheit erkannte kein Mensch
    und wird keiner erkennen, über die Götter
    und alle die Dinge, von denen
    ich spreche. Sollte einer auch einst
    die vollkommenste Wahrheit verkünden,
    wüsste er selbst es doch nicht.
    Es ist alles durchwebt von Vermutung.«
    Xenophanes (565–470 v. Chr.)
    Griechischer Philosoph


    Während der schwache Atheist nicht glaubt, dass es einen Gott gibt – dessen Existenz aber offen lässt, glaubt der Agnostiker weder an die Existenz noch an die Nichtexistenz Gottes. Der weiche Agnostiker bekundet in dieser Frage sein Nichtwissen. Der harte Agnostiker bekundet in dieser Frage sein Nichtwissenkönnen. Umfassender als der Agnostizismus und diesen beinhaltend ist der Skeptizismus. Dieser wird im Kapitel Erkenntnistheorie näher erläutert.

    »Was die Götter angeht, so ist es mir unmöglich,
    zu wissen, ob sie existieren oder nicht,
    noch, was ihre Gestalt sei.
    Die Kräfte, die mich hindern,
    es zu wissen, sind zahlreich,
    und auch ist die Frage verworren
    und das menschliche Leben kurz.«
    Protagoras (490–411 v. Chr.)
    Griechischer Philosoph



    Dualismus

    Die Auffassung, Geist und Materie seien seit Ewigkeit existierend, keines von beiden habe das andere hervorgebracht, wird Dualismus genannt. (Von lat. »dualis« = zwei enthaltend.)

    Der Begriff Dualismus hat weitere Bedeutungen. Er ist eine Bezeichnung für alle philosophischen und religiösen Auffassungen, die zwei Grundprinzipien oder Ursachen der Welt annehmen. Das kann Materie und Geist sein. Das kann auch wie in der antiken persischen Religion des Zarathustrismus und im römischen Gnostizismus ein guter und ein böser Gott sein. Auch die im übernächsten Abschnitt vorgestellten Mittelwege werden in der Literatur oft als Dualismus bezeichnet.

    Eine in China vorhandene Form des Dualismus ist die Lehre von »Yin und Yang« und von »Li und Qi«. Eine in Indien vorhandene Form des Dualismus ist die Lehre von »Prakriti und Purusha«. Diese Theorien werden weiter hinten noch näher vorgestellt.

    Gegensätze zum Dualismus in der umfassenderen Bedeutung sind Monismus und Pluralismus.

    »Wer Materie sagt, sagt Geist,
    ob er es will oder nicht.
    Denn sie wäre überhaupt nicht
    vorstellbar ohne Geist.
    Und wer Geist sagt, sagt Materie,
    denn ohne Materie
    könnte er es nicht sagen,
    nicht einmal denken.«
    Arthur Schnitzler (1862–1931)
    Österreichischer Schriftsteller


    Popper und Eccles

    Eine moderne Form des Dualismus vertreten der bedeutende österreichisch-britische Philosoph Karl Popper (1902–1994) und der australische Physiologe John C. Eccles (1903–1997) in dem gemeinsam geschriebenen Buch Das Ich und sein Gehirn. Sie wenden sich in diesem Buch gegen den reinen Materialismus und halten eine Fortexistenz des Bewusstseins nach dem Tod des Gehirns für möglich.

    Religionen

    Einen Dualismus bezogen auf den Menschen – nicht auf das Weltganze! – vertreten alle die Religionen, die beim Menschen zwischen Körper und Geist unterscheiden und eine Fortexistenz der Seele nach dem Tod des Körpers annehmen.


    Monismus

    Die Auffassung, Geist und Materie seien nur zwei Seiten, zwei Momente oder zwei Attribute desselben, wird Monismus genannt. (Von gr. »monos« = allein, einzig.) Die Unterscheidung von Geist und Materie ist nach dieser Auffassung entweder nicht möglich, nicht zwingend oder im unmittelbaren Erleben gar nicht vorhanden. Diese Unterscheidung würden wir nur deshalb vornehmen, weil wir es von klein auf an so gewohnt seien, weil es uns so beigebracht wurde. Für eine solche Ansicht stehen u. a. der bedeutende holländische Philosoph Baruch de Spinoza (1632–1677) (idealistischer Monismus), der deutsche Naturphilosoph Ernst Haeckel (1834–1919) (materialistischer Monismus) und der englische Philosoph Bertrand Russell (neutraler Monismus). Russell sagte:

    Im unmittelbaren Erleben fällt Bewusstseinsinhalt und materieller Gegenstand zusammen. Es ist unmöglich und unnötig, zwischen beiden zu trennen.

    Der Begriff Monismus hat weitere Bedeutungen. Er ist eine Bezeichnung für alle philosophischen und religiösen Auffassungen, die nur ein Grundprinzip oder nur eine Ursache der Welt annehmen. Das kann außer Materie und Geist auch ein Gesetz sein. Oder ein Absolutes, von dem Geist und Materie nur zwei verschiedene Attribute sind.

    Gegensätze zum Monismus in der umfassenderen Bedeutung sind Dualismus und Pluralismus.


    Mittelwege

    Einige Philosophen sind Mittelwege zwischen Idealismus und Dualismus gegangen, die in letzter Instanz Idealismus sind, aber des Öfteren als Dualismus bezeichnet werden. Zu ihnen gehören:

    Der bedeutende antike griechische Philosoph Aristoteles (384–322 v. Chr.) mit seiner Lehre von Form (= Geist) und Stoff (= Materie), wo der Geist aber letztendlich das Primäre, das Entscheidende ist.

    Der bedeutende französische Philosoph René Descartes (1596–1650) mit seiner Lehre von »res cogitans« (der »erkennenden Sache« = Geist) und »res extensa« (der »ausgedehnten Sache« = Materie). Gott hat aber diese beiden Sachen geschaffen.

    Beide Philosophen sind letztendlich Objektive Idealisten.


    Scheinprobleme

    Eine der bedeutendsten philosophischen Strömung in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Analytische Philosophie. Sie wird weiter hinten noch näher vorgestellt werden. Viele ihrer Vertreter halten die Gegenüberstellung von Idealismus, Materialismus, Dualismus und Agnostizismus etc. für Scheinprobleme, die sich aus einer Ungenauigkeit unserer Sprache ergeben würden.

    »Dass die Philosophie eine Frau ist, merkt man daran, dass sie gewöhnlich an den Haaren herbeigezogen ist.« Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) Deutscher Physiker und Aphoristiker



    Synthetische Positionen

    Die moderne wissenschaftliche Vorstellung vom menschlichen Bewusstsein bzw. von seinen Inhalten und von der Welt kann als eine Mischung aus materialistischen und subjektiv-idealistischen Auffassungen angesehen werden. Nach dieser Vorstellung gibt es eine vom subjektiven Geist unabhängig existierende objektive Welt. Teile dieser objektiven Welt, zum Beispiel bestimmte Materieformen und Strahlungsarten – aber keineswegs alle! – haben eine Wirkung auf das Subjekt und dieses bildet sich dann einerseits auf Grund dieser Wirkungen bzw. seinen sinnlichen Wahrnehmungen und andererseits auf Grund angeborener und erworbener Arbeitsweisen seines Gehirns seine Welt.

    Die Welt, in der Sie (sich er)leben, ist eine von Ihrem Geist geschaffene Welt, die es ohne Ihre subjektive Schöpfung nicht gibt.


    Die Bewusstseinsinhalte sind keine Spiegelungen oder Abbildungen objektiver Vorgänge. Wäre es so, gäbe es – um nur ein mögliches Beispiel anzuführen – keine Farben, sondern nur elektromagnetische Wellen verschiedener Frequenzen.

    Aber – und das ist im Anbetracht der vielen gegenwärtig sehr populären subjektiv-idealistischen Strömungen in der philosophischen Welt zu beachten:

    Nach Auffassung der Naturwissenschaft schafft sich der subjektive Geist seine subjektive Welt nicht nach freiem Belieben, sondern auf Grundlage von realen, unabhängig von ihm existierenden objektiven Tatbeständen.


    Wenn man nun auch noch glaubt, diese Welt sei von einem Gott geschaffen worden – und das glauben auch viele Naturwissenschaftler –, dann kommt sogar auch die objektiv-idealistische Komponente hinzu.

    Und wenn man nun auch noch der Auffassung ist, dass dies eben Gesagte wohl stimmen wird, man es aber mit letzter Sicherheit nicht wissen könne, dann kommt sogar auch noch der Agnostizismus hinzu.

    Wer kein Dogmatiker ist, kann alle Aussagen irgendwie berücksichtigen. Die berühmten Vertreter dieser verschiedenen Positionen waren allesamt intelligente und gebildete Menschen. Sie hatten alle überlegenswerte Argumente für ihre Auffassungen.


    Zusammenfassung

  • Materialismus/Realismus: Die Materie ist ursprünglich und bringt den Geist hervor.

  • Idealismus/Spiritualismus: Der Geist ist ursprünglich und bringt die Materie hervor.

  • Agnostizismus: Der Mensch kann nicht erkennen, ob Geist oder Materie das Ursprüngliche ist.

  • Dualismus: Materie und Geist sind gleichermaßen ursprünglich.

  • Monismus: Materie und Geist sind zwei Seiten der gleichen Sache.

  • Scheinproblem: Der Unterschied zwischen Geist und Materie entsteht nur durch die Ungenauigkeit unserer Sprache.

  • Synthese: Alle Positionen haben innerhalb eines Gesamtbildes ihre Bedeutung, sind Teilwahrheiten, bzw. können Teilwahrheiten sein.

  • In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zu Beginn des 21. Jahrhunderts dominieren unter den Fachphilosophen ganz eindeutig agnostizistische und subjektiv-idealistische Strömungen mit unterschiedlicher konkreter Ausprägung und unter verschiedenen Namen, deren Vertreter solche Bezeichnungen aber häufig ablehnen. Oder die Probleme werden als Scheinprobleme angesehen. Weiter hinten werden diese Strömungen kurz vorgestellt werden.

    Der objektive Idealismus wird heute fast nur in den verschiedenen Religionen vertreten und der Materialismus von vielen – aber keineswegs allen – Naturwissenschaftlern. Unter den Fachphilosophen werden diese beiden Grundrichtungen nur von einer kleinen Minderheit verfochten.


    Aufgaben

  • Formulieren Sie, welche unterschiedliche Bedeutungen die Begriffe Materialismus und Idealismus in der Philosophie und in der Umgangssprache haben.

  • Erläutern Sie, inwieweit sich die verschiedenen Positionen zur Grundfrage der Philosophie im gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Weltbild und in der gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Erklärung des menschlichen Erkenntnisprozesses wiederfinden.


  • Zum Inhaltsverzeichnis



    3. Kapitel

    Grundsätzliche Tatbestände der Welt

    »Die Physik vermag nicht auf eigenen Füßen zu stehen,
    sondern bedarf einer Metaphysik, sich darauf zu stützen;
    so vornehm sie auch gegen diese tun mag.«
    Arthur Schopenhauer (1788–1860)
    Deutscher Philosoph


    In diesem Kapitel wird vermittelt:

    • Was Ontologie und Metaphysik ist.
    • Was man in der Philosophie versteht unter:
    • Sein und Schein,
    • Bewusstsein, Geist und Seele,
    • Materie, Energie und Kraft,
    • Raum und Zeit,
    • Bewegung, Kausalität, Gesetz und Mathematik.

    Perpetuum mobile

    Haben Sie schon einmal etwas von einem Perpetuum mobile gehört? Der Begriff kommt aus dem Lateinischen und bedeutet in etwa: »Sich ständig selbst Bewegendes«. Viele »Erfinder« haben schon vergeblich versucht, eine solche Maschine zu bauen, die ohne Energiezufuhr von außen ständig in Bewegung ist. Die Physiker behaupten, dass eine solche Maschine unmöglich ist.

    Es gibt Philosophen, die behaupten, dass es ein Perpetuum mobile gibt. Sie benutzen dafür allerdings andere Wörter. Sie nennen es Sein, Universum, Welt, Substanz etc.

    Ihre Beweisführung ist – bei jedem Philosophen etwas anders formuliert – folgende:

  • Das Sein ist alles, was es in irgendeiner Weise gibt, ob ich es kenne oder nicht. (Gegenstände, Ideen, Beziehungen, Eigenschaften, ein eventuell existierender Gott und vieles mehr. Auch mir vielleicht völlig Unvorstellbares.) Außerhalb des Seins gibt es nichts, da alles, was es gibt, per Definition Teil des Seins ist.
  • In dem Moment, wo ich Bewegung erlebe, gibt es Bewegung. Zumindest in meinen Erlebnissen. Und da meine Erlebnisse ein Teil des Seins sind, gibt es Bewegung im Sein.
  • Da alles, was die Bewegung hervorrufen kann, Teil des Seins ist, kann das Sein nur aus sich selbst heraus bewegt sein. Ein Teil des Seins kann einen anderen Teil des Seins bewegen, aber das Sein in seiner Gänze kann nur ein sich selbst bewegendes Sein sein.

  • Hiermit haben Sie ein Beispiel, womit Ontologie sich beschäftigt.


    Ontologie und Metaphysik

    Ontologie

    Die Ontologie ist die Lehre oder die Wissenschaft vom Sein, von den fundamentalsten, allgemeinsten, elementarsten und konstitutiven Tatsachen und Eigenschaften, den Prinzipien, den grundsätzlichsten Wesens-, Ordnungs- und Begriffsbestimmungen des Seins.


    Die Ontologie ist ein wichtiger Teilbereich der Philosophie. Für viele Philosophen ist Ontologie der Kernbereich oder der Anfang der Philosophie. Zuweilen werden Ontologie und Philosophie sogar als identisch angesehen. So sagte der bedeutende deutsche Philosoph Martin Heidegger (1889–1976):

    Die Frage nach dem Sein ist die einzige Frage der Philosophie.

    Metaphysik

    Metaphysik ist die Lehre von dem sinnlich nicht Erfahrbaren, von den hinter unseren Wahrnehmungen verborgenen (oder vermuteten) Tatbeständen. Es ist der Bereich der Spekulation.


    Metaphysik ist eine zentrale Disziplin der Philosophie. Sie fragt nach den allgemeinsten Prinzipien des Seins.

    »Metaphysik ist das Hinausfragen über das Seiende,
    um es als solches und im Ganzen für das Begreifen
    zurückzuerhalten.«
    Martin Heidegger


    Metaphysik war anfänglich lediglich der Name für die Schriften des Aristoteles, die in der ersten Gesamtausgabe nach seinen Schriften über die Physik eingeordnet wurde. Diese metaphysischen Schriften beschäftigten sich mit den allgemeinen Prinzipien. Dieser Teil der Philosophie wurde von Aristoteles »Erste Philosophie« genannt. Zu Beginn der Neuzeit bürgerte sich dafür der Begriff »Ontologie« ein. Metaphysik und Ontologie überschneiden sich und werden häufig auch als identisch angesehen.

    »Der Logiker operiert,
    der Metaphysiker betrachtet.«
    Joseph Joubert (1754–1824)
    Französischer Schriftsteller


    In der Gegenwartsphilosophie gibt es ontologische und metaphysische Systeme, die weiter hinten im Kapitel über die wichtigsten philosophischen Strömungen näher beschrieben werden. Mehrheitlich wird die Möglichkeit von Ontologie und Metaphysik heute aber verneint.

    Zwei exemplarische Äußerungen zur Metaphysik von zwei bedeutenden Philosophen:

    »Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: dass sie mit Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.« Immanuel Kant

    »So gering die Hoffnung, Antworten zu finden, auch sein mag: es bleibt Sache der Philosophie, weiter an diesen Fragen zu arbeiten, uns ihre Bedeutung bewusst zu machen, alle möglichen Zugänge zu erproben und jenes spekulative Interesse an der Welt wachzuhalten, das wahrscheinlich abgetötet würde, wenn wir uns ausschließlich auf abgesicherte Erkenntnisse beschränkten.« Bertrand Russell


    Sein und Schein

    Unter Sein bzw. Wirklichkeit versteht man in der Gegenwartsphilosophie wie im Alltagsverständnis das, was tatsächlich existiert, im Gegensatz zum Fantasierten und zur Fiktion.

    Manches, was wir für Wirklichkeit halten, ist nur Schein. Schein ist in der Philosophie der Gegensatz zum Sein bzw. zur Wirklichkeit. Etwas Unwirkliches, nur Vorgestelltes, von dem aber oft angenommen wird, es sei real.

    Das (einzelne) Pferd hat Sein. Der Pegasus (das geflügelte Pferd) ist nur eine Gestalt der griechischen Mythologie und einiger Computerspiele, das keine von diesen Mythen bzw. von diesen Computerspielen unabhängiges Sein hat.


    Diese Unterscheidung ist aber angreifbar.

    Physikalisch gebildete Menschen werden sagen, unabhängig von uns Menschen gibt es nur Energie. Selbst Materie und Kraft sei letztendlich Energie bzw. würden durch Energie erzeugt. Was wir als Welt erleben, auch das Pferd, sei bereits nicht die Wirklichkeit, sondern sei schon Schein. (Diese Auffassung vertritt – wenn auch etwas anders formuliert – u. a. die Evolutionäre Erkenntnistheorie, die weiter hinten ausführlicher vorgestellt wird.)

    So betrachtet ist auch Münzgeld Scheingeld.


    (Während meines Philosophiestudium beschäftigten wir uns in einem Seminar mit der Frage, ob vielleicht alles nur Schein ist, oder es nur so scheint, dass alles nur Schein ist. Mein Professor wandte ein, das Wort »Schein« dürfe nicht aufeinander bezogen benutzt werden. »Es scheint, dass es scheint ...« ginge nicht. Aber vor meinem Beispielsatz: »Es scheint, dass die Sonne scheint.« musste er dann doch kapitulieren.)

    Es gibt Körper und es gibt die Sonne. Beides zusammen kann Schatten entstehen lassen. Die Körper und die Sonne gibt es unabhängig von den Schatten, aber die Schatten nicht unabhängig von den Körpern und der Sonne. Auf dem Computerbildschirm werden elektronisch Figuren, Gebäude, Landschaften usw. erzeugt, die keine von diesen elektronischen Prozessen unabhängige Wirklichkeit haben.


    Nun gibt es in der Philosophie zwei verschiedenen Interpretationen solcher Vorgänge: Einige sagen:

    Nur Körper und Sonne haben Sein. Die Schatten sind nur Schein.

    Andere sagen:

    In dem Moment, wo die Schatten erzeugt sind, sind sie. Es geht nicht darum, dass das eine sei und das andere nicht sei. Es geht hier lediglich um die Frage, was ursprünglich und was bedingt sei.


    Ihre Zimmerdecke ist etwas Reales. Sie ist vom Fußboden etwa zweieinhalb bis drei Meter entfernt. Wenn Sie auf eine Leiter steigen, dann können Sie gegen die Decke klopfen. Aber wie hoch ist eigentlich das »blaue Himmelszelt«, das wir tagsüber bei unbewölktem Himmel über uns sehen können? Wie hoch müsste die Leiter sein, damit wir gegen das Blaue da oben klopfen können?


    Nun werden viele Menschen vor dem Hintergrund ihrer naturwissenschaftlichen Bildung sagen: »Das Blaue da oben, das gibt es doch gar nicht.«

    Wie? Das Blaue da oben gibt es gar nicht? Man sieht es doch ständig! (Häufig wird es einem ja sogar vom Himmel versprochen ;-) Wie kann es da gleichzeitig nicht existieren?

    Häufig ist es schwer zu entscheiden, ob etwas Sein oder Schein ist.


    (Im Kapitel Dialektik wird dieses Problem noch viel radikaler untersucht. Dort werden Sie die – aus Sicht des gesunden Menschenverstandes verrückte – Behauptung kennenlernen, dass etwas existieren und gleichzeitig doch nicht existieren kann.)

    Anstatt zu fragen, ob etwas Sein oder Schein ist, sollte man fragen, was für eine Art von Sein etwas hat. In dem Moment, wo Sie einen blauen Himmel sehen, gibt es diesen blauen Himmel. Er hat empirische Realität. (Was Empirie ist, wird weiter hinten noch näher erklärt.) In dem Moment, wo ein Computerspiel einen knallgrünen Himmel auf dem Bildschirm kreiert, gibt es diesen knallgrünen Himmel. Als Computersimulation. Käpt'n Blaubär gibt es. Als Stoffpuppe im Fernsehen, nicht als eine bewusste Person, die um ihre Existenz weiß. Farben gibt es. Als Teil unserer menschlichen Welt, nicht als Teil der von uns unabhängigen Realität.

    Würde es dunkel in der Welt, wenn alle Augen verschwänden? (Lösung 1)



    Was Sein und was Schein ist und worin sich diese beiden Dinge unterscheiden, ist eine zentrale Frage in der Philosophie. Die Diskussionen darüber durchziehen die gesamte Philosophiegeschichte, von der Antike bis in die Gegenwart.


    In der Regel wird unter Sein das vom Menschen unabhängig Existierende verstanden, als Schein das, was der Mensch im Verlaufe des Erkenntnisprozesses (oder auch des Phantasierens) hinzutut, wie er die Welt »sieht« (aktiv) bzw. wie ihm das von ihm unabhängig Existierende »erscheint« (passiv).


    Bewusstsein, Geist und Seele

    Bewusstsein

    Das Bewusstsein ist ein elementarer Tatbestand menschlicher Existenz und nicht zuletzt deshalb ist Bewusstsein ein zentraler Begriff der Philosophie.

    Was Bewusstsein ist, können Sie sich am besten an Hand unangenehmer Situationen klarmachen.

    Wenn Sie Schmerzen haben, dann erleben Sie diese bewusst. Unbewusste Schmerzen gibt es nicht. Es können in Ihrem Körper schädliche, Ihren Körper zerstörende oder schädigende physiologische Prozesse ablaufen. Aber das sind keine Schmerzen. Schmerz bedeutet immer, dass ein Subjekt sie bewusst erlebt, unter ihnen leidet. Ebenso ist es mit positiven Empfindungen. Freude ist immer etwas bewusst Erlebtes. Es gibt keine unbewusste Freude.



    Bewusstsein ist eine Sammelbezeichnung für viele unserer Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken, Vorstellungen, Gewolltem, Bedürfnisse etc.


    Teile von den hier aufgezählten geistigen Zuständen können sich auch unterhalb der Bewusstseinsschwelle, im Unterbewusstsein befinden. Das Unterbewusstsein wird weiter hinten im Kapitel Philosophische Psychologie näher erklärt.

    Sehr weitgehend ist Bewusstsein alles, was für ein Individuum da ist. Wie weiter vorne schon erwähnt, sind für einige Philosophen auch materielle Dinge Bewusstsein.

    »Jeder steckt in seinem Bewusstsein wie in seiner Haut
    und lebt unmittelbar nur in demselben.«
    Arthur Schopenhauer


    Selbstbewusstsein

    Das Selbstbewusstsein ist eine höhere Form von Bewusstsein. Ein Lebewesen kann Bewusstsein haben, ohne sich dessen bewusst zu sein. In der Philosophie bedeutet Selbstbewusstsein, dass ein Subjekt, ein Ich sich darüber bewusst ist, ein bewusstes Subjekt, ein Ich zu sein.

    Weltbewusstsein

    In der Philosophie gibt es auch die Vorstellung von der Existenz eines Weltbewusstseins, die in unterschiedlichen konkreten Varianten auftritt. In der Regel werden die individuellen Bewusstseins der einzelnen Personen als Teile des Weltbewusstseins angesehen und die materielle Welt als etwas nur im Weltbewusstsein Vorhandenes. Weitgehend ist eine solche Vorstellung identisch mit Pantheismus, der im Kapitel über Gott und Religion noch näher vorgestellt wird.

    Geist

    Ein häufig verwendeter Begriff für Bewusstsein ist Geist. Dieser Begriff ist allerdings vieldeutig und nicht immer mit Bewusstsein gleichzusetzen. Er kann vieles bedeuten:

  • Bei der Gegenüberstellung von »Körper und Geist« ist Geist Bewusstsein.
  • Den Geist als inneres Prinzip des Menschen anzusehen, der die äußere bzw. materielle Welt (zu der in dem hier gebrauchten Sinne auch der eigene Körper gehört) emotional und rational wahrnimmt und handelnd verändert, bedeutet, den Geist als aktives Bewusstsein anzusehen.
  • Bei der Gegenüberstellung von »Geist und Seele« bedeutet Geist Intellekt, Vernunft und Verstand, Seele dagegen Gefühl. Die Begriffe Geist und Seele werden aber auch synonym verwendet.
  • In diesem Sinne bedeutet Geist auch die Person als intellektuelles Wesen. (»Er verkehrte mit den berühmtesten Geistern seiner Zeit.«)
  • Geist kann bedeuten Sinn, Bedeutung, Inhalt. (»Im Geiste des Humanismus«, »Der Geist von Weihnachten«)
  • Geist kann bedeuten Gespenst. (»Mir erschien gestern Nacht der Geist meiner verstorbenen Großmutter.« Leider wollte sie mir die nächsten Lotto-Zahlen nicht verraten ;-)
  • Geist kann Gott bedeuten. (Heiliger Geist, der Geist Gottes.)
  • Unterschieden wird Geistliches und Weltliches. Weltliches bezieht sich auf die materielle Welt, Geistliches sich auf eine (angenommene) ideelle Welt. In dem Sinne heißt ein Pfarrer auch »Geistlicher«.

  • »Auch der Geist hat seine Hygiene,
    er bedarf, wie der Körper, einer Gymnastik.«
    Honoré de Balzac (1799–1850)
    Französischer Schriftsteller

    Weltgeist

    Schon seit der Antike gibt es in der Philosophie die Vorstellung von der Existenz eines Weltgeistes, einer Weltvernunft, die mit der Welt identisch sei oder die Welt durchwalte. Man spricht hier auch von Panlogismus. Der entschiedenste Vertreter einer solchen Vorstellung war der bedeutende deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831). Weltgeist mit Gott zu übersetzt, wäre etwas verkürzt, weil der Weltgeist erheblich komplexer ist als das, was man gemeinhin unter Gott versteht. (Hegel wird weiter hinten noch näher vorgestellt.)

    Seele

    Der Begriff Seele wird nicht einheitlich benutzt. Häufig wird er synonym mit Bewusstsein gebraucht, hin und wieder aber auch bedeutungsgleich mit Gefühl. In einigen Religionen und religiös beeinflussten Philosophien ist die Seele der bewusste personale Kern, das geistige Ich eines Menschen, der oft als unsterblich (zum Beispiel im Christentum, Islam, Platonismus), zum Teil aber auch als vergänglich (zum Beispiel bei Spinoza und in östlichen Religionen: Buddhismus, Brahmanismus, Hinduismus) angesehen wird.

    Unsterblichkeit der Seele

    Der Streit um die Unsterblichkeit der Seele ist ein wichtiger Aspekt der philosophischen und religionskritischen Diskussionen.

    »Die Seele kommt alt zur Welt, aber sie wird jung.
    Das ist die Komödie des Lebens.
    Und der Leib kommt jung zur Welt und wird alt.
    Das ist die Tragödie des Lebens.«
    Oscar Wilde (1854–1900)
    Irischer Schriftsteller


    Seelenwanderung

    Der Glaube an die Seelenwanderung bzw. die Wiedergeburt ist ein wichtiger Aspekt einiger östlicher Religionen und esoterischer Lehren, aber auch einiger philosophischer Lehren, zum Beispiel des Platonismus.

    »Der sittliche Mensch liebt seine Seele,
    der gewöhnliche sein Eigentum.«
    Konfuzius


    Weltseele

    In der Philosophie und einigen Religionen gibt es den Begriff der Weltseele. Eine in der Regel als unpersönlich oder überpersönlich gedachte geistige Kraft, ein Weltbewusstsein. Entweder alles umfassend, so dass alles, was ist, nur in der Weltseele ist; oder als Teil der Welt, der aber ihr innerer Kern, ihr Sinn, ihr Wert, ihre Bewegungsursache etc. ist. Die Seelen der Einzelwesen werden in der Regel als Teile der Weltseele angesehen, oder als etwas, das aus der Weltseele hervorgegangen ist und einst in sie zurückkehren wird. (Dazu erfahren Sie Näheres weiter hinten bei der Erklärung des Pantheismus.)

    Die Frage nach der Herkunft der Seele und ihrer Beziehung zum Körper ist eines der ältesten und meistdiskutierten Themen in der Philosophie, das Leib-Seele-Problem. Andere nennen es die Grundfrage der Philosophie.

    »Auf den Geist muss man schauen.
    Denn was nützt ein schöner Körper,
    wenn in ihm nicht eine schöne Seele wohnt.«
    Euripides (ca. 480–406 v. Chr.)
    Griechischer Dichter

    Naturwissenschaft und Bewusstsein

    Für den Naturwissenschaftler ist der Mensch ein materielles Wesen. Die Physik, die Chemie, die Biologie und die Medizin können viel Interessantes und für das praktische tägliche Leben Wichtige am Menschen erkennen und viele dieser Erkenntnisse können von großer Bedeutung für die Philosophie sein. Aber die Naturwissenschaft kann nicht das Bewusstsein untersuchen.

    »Ich habe so viele Leichen seziert
    und nie eine Seele gefunden.«
    Rudolf Virchow (1821–1902)
    Deutscher Mediziner


    Wenn ein Arzt sagt, er habe den ganzen menschlichen Körper seziert (aufgeschnitten) und nirgends eine Seele gefunden, dann müsste er gleich dazu sagen, dass er auch das Bewusstsein nirgends gefunden hat.

    Nun ist ein sezierter Körper tot. Aber wie ist es bei einem lebenden Körper?

    Stellen Sie sich einmal vor, Sie würden so extrem verkleinert, dass Sie in einem Mini-U-Boot durch ein menschliches Gehirn reisen könnten. So passiert es in dem Sciencefiction-Film Die phantastische Reise. Was würden Sie dort sehen? Sie sähen ein sehr komplexes System vernetzter Nervenzellen, Nervenfasern, auf denen mit großer Geschwindigkeit Elektronen an Ihnen vorüberrauschen, chemische Überträgerstoffe zwischen den Neuronen, den Nervenzellen. Sie würden einen Biocomputer, ein »neuronales Netz« von innen sehen. Aber Sie sähen dort nirgendwo einen Geist, ein Bewusstsein. Nirgendwo würden Sie sehen, dass dieses Gehirn einem Menschen gehört, der sich seiner Existenz bewusst ist.


    Eine ähnliche Überlegung stellte vor gut 300 Jahren der deutsche Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) an, der das – den damaligen Verhältnissen angemessene – Mühlengleichnis vortrug:

    Man muss übrigens notwendig zugestehen, dass die Perzeption und das, was von ihr abhängt, aus mechanischen Gründen, das heißt aus Figuren und Bewegungen, nicht erklärbar ist. Denkt man sich etwa eine Maschine, die so beschaffen wäre, dass sie denken, empfinden und perzipieren könnte, so kann man sie sich derart proportional vergrößert vorstellen, dass man in sie wie in eine Mühle eintreten könnte. Dies vorausgesetzt, wird man bei der Besichtigung ihres Inneren nichts weiter als einzelne Teile finden, die einander stoßen, niemals aber etwas, woraus eine Perzeption zu erklären wäre.


    Aus naturwissenschaftlicher Sicht haben alle Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen eine physiologische Grundlage. Aber das bewusste Erleben der Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen ist nicht identisch mit diesen physiologischen Grundlagen.



    Energie, Kraft und Materie

    Energie

    Energie (von gr. »energeia« = Tätigkeit) ist nach der modernen physikalischen Definition das Vermögen, Arbeit zu leisten.

    »Es ist wichtig, einzusehen,
    dass wir in der heutigen Physik nicht wissen,
    was Energie ist. Wir haben kein Bild davon,
    dass Energie in kleinen Klumpen
    definierter Größe vorkommt.«
    Richard Feynman (1918–1988)
    US-amerikanischer Physiker und Nobelpreisträger


    Da nach dem Energieerhaltungssatz jede Form von Energie in jede andere Energieform – also auch in Bewegungsenergie – umgewandelt werden kann, kann man sagen, dass Energie in letzter Instanz Bewegung ist.

    Energismus

    Die philosophisch-physikalische Theorie des Energismus – Hauptvertreter war der deutsch-baltische Chemiker, Philosoph und Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald (1853–1932) – sieht die Energie als einzige Substanz, aus der alles andere entsteht. Alles Wirkliche, alle physischen und psychischen Prozesse beruhten auf Energie. Ihr komme ein höherer Grad an Wirklichkeit zu als der Materie. Alles Geschehen sei eine Transformation verschiedener Energieformen.

    Kraft

    Kraft ist physikalisch die Fähigkeit, etwas zu bewirken bzw. zu verändern, zum Beispiel den Bewegungszustand oder die Form eines Körpers.

    »Wer andere besiegt, hat Kraft.
    Wer sich selber besiegt, ist stark.«
    Laozi


    Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Begriff Kraft weitergehend gebraucht, auch im Sinne dessen, was heute Energie genannt wird. (Das wirkt bis in die Gegenwart nach, wie Sie an dem Begriff »Kraftwerk« sehen können, das genau genommen ein »Energiewerk« ist.) In der Philosophie, besonders in den Schriften früherer Jahrhunderte, bedeutet Kraft in etwa das, was heute die Physik unter Kraft und Energie versteht.

    »Diese Welt: Ein Ungeheuer an Kraft, ...«
    Friedrich Nietzsche (1844–1900)
    Deutscher Philosoph


    So bezeichnete Leibniz die Elemente der Wirklichkeit als Kraftpunkte. Im Anschluss daran sagte Kant, das Wesen der Materie sei Kraft. Dies wird vielfach als Vorwegnahme der Materiedefinition Einsteins angesehen. Seit der Antike gingen die Naturwissenschaftler und viele Philosophen davon aus, dass es Materie, Körper, Stoff (oder welche Wörter Sie auch immer benutzen mögen) gebe, als etwas Absolutes, das nicht in etwas anderes aufgelöst werden könnte, zum Beispiel die Atome Demokrits und für religiöse Menschen die Materie, sobald sie einmal von Gott geschaffen war. Im Unterschied dazu gab es Philosophen, für die war Materie nur eine spezifische Form von Geist (Berkeley) oder das Reich der Schatten (Platon).

    Der Gedanke, Materie als Kraft anzusehen, war neu und zukunftsweisend.


    Leibniz sprach außerdem von der Erhaltung der lebendigen Kräfte im Universum, was in der Literatur vielfach als eine Vorwegnahme des Energieerhaltungssatzes angesehen wird (1. Hauptsatz der Thermodynamik.)

    Wenn Sie das nächste Mal eine Rechnung von Ihrem angeblichen »Energieerzeuger« erhalten, für Ihren angeblichen »Energieverbrauch« widersprechen Sie! Energie kann man weder erzeugen noch verbrauchen.


    Materie

    Wie das Bewusstsein, so ist auch die Materie ein elementarer Tatbestand unserer menschlichen Welt und nicht zuletzt deshalb ist Materie ein zentraler Begriff der Philosophie.

    »Die Materie ist ein und dasselbe Ganze,
    das auf völlig gleiche Weise Einheit in der Vielheit
    und Vielheit in der Einheit ist«
    Friedrich Wilhelm Josef Schelling (1775–1854)
    Deutscher Philosoph


    Das Wort Materie kommt von dem lateinischen Wort »materia«, dieses von »mater« = Mutter. Materie bedeutet vom Wortursprung her »Mutterstoff«.

    Materie ist

    1. ein umgangssprachlicher,
    2. ein naturwissenschaftlich-physikalischer und
    3. ein philosophischer Begriff.

    Über lange Zeit hinweg – bis zum Ende des 19. Jahrhunderts – verstand man unter Materie in diesen drei Bereichen weitgehend das Gleiche: Stoff, Körper, etwas im Raum Ausgedehntes, das man sehen und anfassen kann.

    Im praktischen Leben ist der Materiebegriff unverzichtbar. Wir haben es ständig mit materiellen Dingen zu tun. Selbst unser Körper ist ein materielles Ding.

    Albert Einstein stellte die berühmter Formel E = mc² auf (Energie gleich Masse mal Lichtgeschwindigkeit hoch zwei). Energie und Materie ist das Gleiche, jedenfalls unterhalb der Ebene des Atoms. Da nach dem Energieerhaltungssatz jede Form von Energie in jede andere Energieform – also auch in Bewegungsenergie – umgewandelt werden kann, bedeutet dies, dass Materie letztendlich Bewegung ist. Materie und Bewegung hängen nicht nur untrennbar zusammen, sondern sie sind letztendlich identisch. Diese physikalisch-philosophische Hypothese führt dazu, dass viele Philosophen den Materialismus für veraltet halten.

    Wenn sich die Materie in Bewegung auflösen könne, könne sie nicht Grundsubstanz der Welt sein.


    Ein weiterer sehr bedeutender Physiker des 20. Jahrhunderts war Max Planck (1858–1947). Er sagte zum Thema Materie:

    »Als Physiker, der sein ganzes Leben der nüchternen Wissenschaft, der Erforschung der Materie widmete, bin ich sicher von dem Verdacht frei, für einen Schwarmgeist gehalten zu werden. Und so sage ich nach meinen Erforschungen des Atoms dieses: Es gibt keine Materie an sich! Alle Materie entsteht und besteht nur durch eine Kraft, welche die Atomteilchen in Schwingung bringt und sie zum winzigsten Sonnensystem des Alls zusammenhält. Da es im ganzen Weltall aber weder eine intelligente Kraft noch eine ewige Kraft gibt [...] so müssen wir hinter dieser Kraft einen bewussten intelligenten Geist annehmen. Dieser Geist ist der Urgrund aller Materie. Nicht die sichtbare, aber vergängliche Materie ist das Reale, Wahre, Wirkliche [...] sondern der unsichtbare, unsterbliche Geist ist das Wahre! Da es aber Geist an sich ebenfalls nicht geben kann, sondern jeder Geist einem Wesen zugehört, müssen wir zwingend Geistwesen annehmen. Da aber auch Geistwesen nicht aus sich selber sein können, sondern geschaffen werden müssen, so scheue ich mich nicht, diesen geheimnisvollen Schöpfer ebenso zu benennen, wie ihn alle Kulturvölker der Erde früherer Jahrtausende genannt haben: Gott!«


    (Bei einigen seiner Schlussfolgerungen habe ich Bedenken, besonders wenn sie absolute Wahrheiten sein sollen. Aber diese Äußerungen zeigen, dass hervorragende Physiker nicht automatisch Atheisten sind, wie heute vielfach angenommen wird.)

    Lenin

    Mit den neuen naturwissenschaftlichen Theorien konfrontiert, hat der russische Materialist Wladimir Iljitsch Lenin (1870–1924), der nicht nur ein Politiker, sondern auch ein philosophischer Schriftsteller war, zu Beginn des 20. Jahrhunderts versucht, den Materialismus dadurch zu retten, dass er den Materiebegriff neu definierte. Lenin sagte:

    Materie ist eine philosophische Kategorie zur Bezeichnung der objektiven Realität.

    Materie sei alles, was unabhängig vom menschlichen Bewusstsein existiert, also auch elektromagnetische Felder, Strahlungen, aber auch Gesetzmäßigkeiten oder soziale Prozesse und alles, was in Zukunft noch entdeckt werden sollte. So wollte Lenin erreichen, dass der Materiebegriff nie veralten kann.

    Kritiker wenden ein, damit habe er aber den Materiebegriff so weit gefasst, dass er jeden Erklärungswert verliert. Lenins Materiebegriff sei faktisch die Bankrotterklärung des Materialismus. Wenn alles Materie ist, was nicht menschliches Bewusstsein ist, dann wäre ein Gott oder eine wie auch immer geartete geistige Ursache der Welt per Definition eben Materie.

    Den Verteidigern des Materialismus geht es dagegen um Folgendes: Sind das Primäre an der Welt, am Sein die objektiven Dinge, Tatbestände, Eigenschaften, Zusammenhänge etc.? Oder ist das Primäre der subjektive oder ein objektiver Geist? Die Beantwortung dieser Frage halten sie für fundamental für viele weitere philosophische Standpunkte. Die Frage, wie man die objektive Realität nenne, sei demgegenüber sekundär, faktisch bedeutungslos.


    Raum und Zeit

    Raum

    Der Raum ist ein elementarer Tatbestand unserer menschlichen Welt und nicht zuletzt deshalb ist Raum ein zentraler philosophischer Begriff, der von verschiedenen Philosophen unterschiedlich definiert wird.

    Für den Alltagsverstand, der noch durch keine philosophischen und naturwissenschaftlichen Gedanken sensibilisiert ist, ist der Raum eine Art Gefäß, in dem alles existiert, innerhalb dessen alles stattfindet. Würde nichts existieren und sich nichts ereignen, gäbe es dieses Gefäß trotzdem. Es wäre dann leer. So betrachtet ist das Sein – und alle seine Bestandteile – im Raum, der keinen Anfang und kein Ende hat.

    In der Philosophie ist eine andere Auffassung vorherrschend (die allerdings in verschiedenen Varianten auftritt):

    Der Raum ist im Sein. Raum ist Ausgedehntheit materieller Dinge und ihr Nebeneinander. Raum ist, wo Energie und Gravitation ist. Wo alles dies nicht ist, ist der Raum nicht nur nicht feststellbar, er ist nicht existent. Für sich allein, »An-sich« ist der Raum nicht(s).


    Bis zur Entwicklung der Relativitätstheorie durch Einstein galt in der Naturwissenschaft die newtonsche Physik als unumstößliche Wahrheit und damit der dreidimensionale euklidische Raum als absolute Größe, unendlich in alle Richtungen. Für die heutige Physik ist der Raum grenzenlos, aber endlich, eine dynamische Größe in einer gekrümmten vierdimensionalen Raumzeit, im Wechselspiel mit sich bewegenden Körpern und der Wirkungsweise von Kräften.

    »›Wie das?‹, fragt erschrocken sogleich unser ›gesunder Menschenverstand‹, der hier wieder einmal nicht gleich mitkommt (und das, wie stets, in aller Unschuld für ein Gegenargument hält).« Hoimar von Ditfurth (1921–1989) Deutscher Neurologe und Sachbuchautor

    Als ich zum ersten Mal die Hypothese vernahm, dass das Weltall grenzenlos, aber endlich sei, habe ich mich – wie die meisten anderen Menschen auch – gefragt, was denn nun außerhalb des Weltalls ist. Ein Ende des Raumes konnte ich mir nicht vorstellen. Vor dem Hintergrund der Relativitätstheorie habe ich dieses Problem nicht mehr. Schon ca. 250 Jahre vor der Relativitätstheorie sagte der bedeutende französische Philosoph Blaise Pascal (1623–1662):

    Das Weltall ist eine Kugel, deren Mittelpunkt überall, deren Oberfläche nirgends ist.

    Zeit

    Die Zeit ist ein elementarer Tatbestand unserer menschlichen Welt und nicht zuletzt deshalb ist Zeit ein zentraler Begriff in der Philosophie, der von verschiedenen Philosophen unterschiedlich definiert wird.

    »Die Zeit ist der beste Lehrer –
    leider tötet sie alle ihre Schüler.«
    Hector Berlioz (1803–1869)
    Französischer Komponist


    Es gilt hier vieles, was ich eben in Bezug auf den Raum bereits erwähnt habe. Für den Alltagsverstand, der noch durch keine philosophischen und naturwissenschaftlichen Gedanken sensibilisiert ist, ist Zeit eine Art Gefäß, innerhalb dessen alles stattfindet. Würde sich nichts ereignen, gäbe es dieses Gefäß trotzdem. So betrachtet ist das Sein – und alle seine Bestandteile – in der Zeit, die keinen Anfang und kein Ende hat.

    »Die Zeit vergeht. –
    Sie weiß es nicht besser.«
    Erich Kästner (1899–1974)
    Deutscher Schriftsteller


    In der Philosophie ist eine andere Auffassung vorherrschend (die allerdings in verschiedenen Varianten auftritt):

    Die Zeit ist im Sein. Sie ist abhängig von bewegtem Sein. Zeit ist das Aufeinanderfolgen von Zuständen (subjektiven oder objektiven). Wo es keine Bewegung, keine Aufeinanderfolge gibt, gibt es auch keine Zeit.


    (Anmerken möchte ich hier, dass meine diesbezügliche Auffassung nicht unumstritten ist. Vertreter der Relativitätstheorie sagen, Zeit sei eine Dimension – so wie die drei räumlichen –, die auch unabhängig von Bewegung existiert. Bewegung bedeutet in der Philosophie mehr als in der Physik. Näheres weiter hinten.)

    Ewigkeit

    Ewigkeit ist nicht endlos lange Zeit. Ewigkeit und Zeit sind zwei verschiedene Dinge. Es gibt etwas. Das ist eine objektive Wahrheit. Die Auffassung, dass es immer irgendetwas gibt, ist Ewigkeit. Und in dem Moment, wo sich etwas bewegt, gibt es zusätzlich zur Ewigkeit auch noch Zeit.

    »Was also ist ›Zeit‹? Wenn mich niemand danach fragt,
    weiß ich es; will ich es einem Fragenden erklären,
    weiß ich es nicht.«
    Augustinus von Hippo (354–430)
    Christlicher Kirchenlehrer


    Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

    Sie sind immer im Jetzt, immer in der Gegenwart!


    Nie in der Vergangenheit oder Zukunft.

    »Das Sein ist ungeworden,
    und unzerstörbar, [...]
    es war nicht und wird nicht sein,
    denn im Jetzt ist es als Ganzes,
    Zusammenhängendes.«
    Platon


    Erinnerungen und Erwartungen

    Aber, werden Sie einwenden, ich habe das Erleben, es gebe ein »vor dem Jetzt«, es habe eine Vergangenheit gegeben. Diese Erlebnisse heißen »Erinnerungen«.

    »Die Erinnerung ist das einzige Paradies,
    aus dem man nicht vertrieben werden kann.«
    Jean Paul (1763–1825)
    Deutscher Schriftsteller


    Und die Vorstellung, es werde ein »nach dem Jetzt«, eine Zukunft geben, heißt »Erwartungen«. Auch für die Reihenfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird das Wort »Zeit« benutzt. Aber:

    Vergangenheit und Zukunft haben keine subjektive Realität! Subjektive Realität haben nur die Erinnerungen und Erwartungen als Erlebnisse im Jetzt.


    »Dein Vergangenes ist ein Traum
    und dein Künftiges ist ein Wind.
    Hasche den Augenblick,
    der ist zwischen den beiden, die nicht sind.«
    Friedrich Rückert (1788–1866)
    Deutscher Dichter


    Vergangenheit und Zukunft sind Vorstellungen unseres Verstandes, ohne die wir im praktischen Leben nicht auskommen. Aber »An-sich« sind sie nicht(s)!

    Es gibt nur Gegenwart! Mit immer neuen Inhalten!


    »Die Zeit geht nicht, sie stehet still,
    Wir ziehen durch sie hin;
    Sie ist ein Karavanserai,
    Wir sind die Pilger drin.«
    Gottfried Keller (1819–1890)
    Schweizer Dichter und Politiker


    Einige Fachleute in moderner Physik wenden hier ein, eine solche Vorstellung sei nicht vereinbar mit der Auffassung Einsteins, dass es im Universum keine Gleichzeitigkeit gebe. Ich sehe da keinen absoluten Widerspruch. Einstein hat auch gesagt:

    Der Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist für uns Wissenschaftler eine Illusion, wenn auch eine hartnäckige.

    (Sie werden weiter hinten in dem Kapitel über die Dialektik noch sehen, dass Zukunft und Vergangenheit existieren und gleichzeitig nicht existieren. Es kommt nur darauf an, wie man es »sieht«.)

    Als ich zum ersten Mal die Urknall-Hypothese vernahm, da habe ich mich – wie die meisten anderen Menschen auch – gefragt, was denn vor dem Urknall war. Einen Beginn der Zeit konnte ich mir nicht vorstellen. Heute habe ich dieses Problem nicht mehr. Wo sich nichts bewegt, wo keine Aufeinanderfolge ist, da ist die Zeit nicht nur nicht feststellbar – es bewegen sich ja auch keine Uhren –, es gibt dann überhaupt keine Zeit, weil Zeit nur Aufeinanderfolge von Erlebnissen (subjektiv) bzw. Ereignissen (objektiv) ist.

    Die Frage was vor dem Urknall war, ist vergleichbar mit der Frage, was nördlich vom Nordpol ist.

    Der naturwissenschaftliche Zeitbegriff der Relativitätstheorie und der philosophische Zeitbegriff sind nicht identisch, schon allein deshalb nicht, weil verschiedene Philosophen verschiedene Zeitbegriffe haben. Ich führe obiges Einstein-Zitat an, weil viele Menschen, die von sich glauben, in Übereinstimmung mit den modernen Naturwissenschaften zu sein, oft mit ihren Auffassungen im Widerspruch zu diesen stehen. Ein wichtiger Unterschied ist: Nach Einstein können wir über die Gegenwart nichts wissen. Nach Auffassung vieler Philosophen können wir nur etwas über die Gegenwart wissen, weil nur sie gewiss ist. Das kommt u. a. zum Ausdruck, wenn der große deutsche Dichter Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) schreibt:

    Nur, was der Augenblick erschafft, das kann er nützen.

    Kant

    Eine in der Gegenwartsphilosophie weitverbreitete Auffassung über Raum und Zeit geht auf Kant zurück. Nach ihm ist der »Raum die Form, nach der uns alle Erscheinungen der äußeren Sinne gegeben werden«, den Dingen, der Welt komme er nicht zu. Die Zeit sei »reine Form unseres inneren Sinnes«, den Dingen, der Welt komme sie nicht zu. Nach Kant trägt das menschliche Denken Raum und Zeit in die Welt hinein. So weit geht die moderne Naturwissenschaft nicht.

    Menschliches Vorstellungsvermögen und Welt

    Sie haben eine bestimmte räumliche und zeitliche Ausdehnung. Ihr Vorstellungsvermögen ist an diese spezifische Ausdehnung gebunden. Nun zeigt uns die moderne Naturwissenschaft, dass es in der Welt räumliche und zeitliche Dimensionen gibt, die unser Vorstellungsvermögen sprengen.

    Zählen Sie von 1 bis 1000 und sprechen Sie jede Zahl aus. Machen Sie es, bevor Sie weiterlesen! Sie lernen daraus.



    Wenn Sie zügig zählen, schaffen Sie das in einer viertel Stunde. Wenn Sie auf diese Weise bis eine Million zählen wollten (ohne die Tausender, Zehntausender etc. auszusprechen), dann bräuchten Sie dafür 1000 Viertelstunden. Das ist ungefähr ein Monat, wenn Sie jeden Tag ca. 8 Stunden und 20 Minuten zählen. Wollten Sie auf diese Weise bis eine Milliarde zählen, bräuchten Sie dafür 1000 Monate. Das sind 83 Jahre.


    Durch dieses Beispiel bekommen Sie wohl eine gewisse Vorstellung davon, was es bedeutet, wenn wir an eine Zahl einfach mal eben drei Nullen dranhängen – Viertelstunde, ein Monat, ein Menschenleben.

    Zeit

    Können Sie sich einen Zeitraum von hundert Jahren vorstellen? Je länger ein Mensch lebt, desto eher kann er dies. Aber eine Million oder eine Milliarde Jahre können wir uns so wenig vorstellen, wie eine millionstel oder milliardstel Sekunde.

    Es gibt in der Welt Prozesse, die über Milliarden Jahre ablaufen, zum Beispiel die Existenzdauer einer Sonne. Es gibt in der Welt Prozesse, die über milliardstel Sekunden verlaufen, zum Beispiel die Existenzdauer einiger subatomarer Teilchen, die in physikalischen Versuchsanstalten erzeugt werden.


    Raum

    Die Entfernung zum nächsten Supermarkt ist im Bereich Ihres Vorstellungsvermögens. Wenn Sie einmal mit dem Auto viele Stunden unterwegs waren, dann haben Sie eine ungefähre Vorstellung davon, was 300 Kilometer bedeuten. Eine Lichtsekunde ist das Tausendfache davon. Das Licht bewegt sich in einer Sekunde ca. 300.000 Kilometer weit. Eine für den Menschen unvorstellbare Strecke. Die nächste Sonne – nach unserer Heimatsonne – ist aber nicht 4,2 Lichtsekunden, auch nicht 4,2 Lichttage, sondern 4,2 Lichtjahre entfernt. Um dort hinzufahren, bräuchten Sie Hunderttausende von Jahren. Auch mit einem Ferrari ;-)

    Unsere Milchstraße hat eine Ausdehnung von ca. 100.000 Lichtjahren. Die Sonne ist ca. 8 Lichtminuten von uns entfernt, der Mond ca. eine Lichtsekunde. Die Erde hat einen Durchmesser von ca. einer fünfzigstel Lichtsekunde.
    Ein Metallatom hat in etwa eine »Breite« von einem viertel milliardstel Meter. Vier Metallatome sind ca. ein Nanometer breit. 400.000 Metallatome nebeneinander haben etwa die Breite eines menschlichen Kopfhaares.


    Können Sie sich vorstellen, dass sich in einem Blutstropfen viele Millionen Blutkörperchen befinden? Können Sie sich vorstellen, dass die Inhalte aller Bücher der Weltliteratur bald auf einem Chip in der Größe einer Briefmarke gespeichert werden können?

    Nicht nur die Philosophie, sondern gerade auch die heutigen Erkenntnisse der Naturwissenschaften und die Möglichkeiten moderner Technik führen zu der Erkenntnis:

    Wir dürfen nicht von unserem menschlichen Vorstellungsvermögen auf das unabhängig von uns existierende Sein schließen.



    Bewegung, Kausalität, Gesetz und Mathematik

    Bewegung

    Bewegung bedeutet in der Philosophie nicht einfach nur Ortsveränderung von Körpern, sondern jede Art von Veränderung. Die unterschiedliche Bedeutung des Begriffs Bewegung in Physik und Philosophie ist oft Ursache von Missverständnissen.

    Bewegung ist konstitutiv für Materie, Raum und Zeit.


    Nach dem heutigen naturwissenschaftlichen Weltbild ist Materie in letzter Instanz Energie und Energie in letzter Instanz Bewegung. Damit ist Bewegung nicht nur die Daseinsform der materiellen Dinge, sondern sie ist für die Dinge konstitutiv.

    Ohne Dinge und Energie gibt es keinen Raum. Deshalb ist auch für den Raum Bewegung konstitutiv.

    Ohne Bewegung gibt es keine Zeit. Zeit ist Aufeinanderfolge von Ereignissen (objektiv) bzw. von Erlebnissen (subjektiv). Unabhängig davon hat sie keine Existenz. Deshalb ist auch für die Zeit Bewegung konstitutiv.

    »Wir messen also nicht nur die Bewegung durch
    die Zeit, sondern auch die Zeit durch die Bewegung,
    weil sie einander begrenzen und bestimmen.«
    Aristoteles


    Kausalität

    Kausalität (von lat. »causa« = Ursache) bedeutet, dass ein Ereignis oder ein Tatbestand von einem anderen Ereignis oder Tatbestand bedingt bzw. verursacht ist. Den Zusammenhang von Ursache und Wirkung nennt man Kausalnexus (von lat. »nexus« = Verbindung).

    Die Welt ist von Ursache-Wirkungs-Ketten durchzogen. Es ist aber in der Philosophie umstritten, ob diese Kausalität auch unabhängig von uns Menschen im Sein vorhanden ist oder ob wir Menschen diese Kausalität schaffen. Hier stoßen wir wieder auf die Grundfrage der Philosophie. Materialistische und idealistische Positionen treten hier aber nicht nur in reiner, sondern auch in vermischter Form auf.

    Kant

    Besonders bedeutsam für die philosophische Debatte ist auch hier wieder die Position Kants. Er postulierte einerseits die Existenz der »Dinge an sich« – das materialistische Element seiner Philosophie –, andererseits behauptete er, in dieser Welt der Dinge an sich gebe es keine Kausalität, sondern diese werde (wie vieles weitere) vom Menschen in die Welt hineingetragen – das ist das idealistische Element seiner Philosophie. Auch hier folgt ihm die moderne Naturwissenschaft nicht.

    Im praktischen Leben ist die Anerkennung der Kausalität unabdingbar. Wir handeln, um etwas zu erreichen. Könnte unser Handeln keine Wirkung haben, gäbe es überhaupt keinen Grund, irgendetwas zu tun. Aber:

    Kausalität ist nicht feststellbar. Sie hat keine subjektive Realität. Subjektive Realität hat nur das Miteinander und das Nacheinander. Das »Durcheinanderbedingt« ist in letzter Instanz eine Vermutung unseres Verstandes.


    Auf die Kausalität werde ich im 7. Kapitel im Zusammenhang mit der Frage nach der Möglichkeit menschlicher Willensfreiheit noch einmal zurückkommen.

    Sie lesen dieser Einführung mit dem Ziel, etwas über Philosophie zu erfahren. Würde das Lesen dieser Einführung diese Wirkung nicht haben, gäbe es keinen Grund, sie zu lesen.


    Gesetze

    Die Bewegungen zeigen Regelmäßigkeiten. Ohne solche Regelmäßigkeiten, oder – um ein anderes Wort dafür zu verwenden – ohne solche Gesetze könnte sich nichts bilden, könnte nichts entstehen, könnten wir nicht handelnd ins Geschehen eingreifen.

    »Wir können die Natur nur dadurch beherrschen,
    dass wir uns ihren Gesetzen unterwerfen.«
    Francis Bacon


    Ob die von uns beobachteten Gesetze auch unabhängig von uns im Sein vorhanden sind oder wir Menschen diese »erfinden«, ist in der Philosophie umstritten. Hier stoßen wir wieder auf die Grundfrage der Philosophie. Materialistische und idealistische Positionen treten auch hier nicht nur in reiner, sondern auch in vermischter Form auf.

    Kant

    Besonders bedeutsam für die philosophische Debatte ist auch hier wieder die Position Kants. Er postulierte einerseits die Existenz der »Dinge an sich« – das materialistische Element seiner Philosophie –, andererseits behauptete er, in der Welt der Dinge an sich gebe es keine Gesetze, sondern diese würden (wie vieles weitere) vom Menschen in die Welt hineingetragen – das ist wieder das idealistische Element seiner Philosophie.

    »Der Mensch ist der Gesetzgeber der Natur! Unsere Erkenntnis richtet sich nicht nach den Gegenständen, sondern die Gegenstände richten sich nach unserer Erkenntnis!« Immanuel Kant

    Beachten sollten Sie einen wichtigen Unterschied zwischen den Naturgesetzen (auch deskriptive = beschreibende Gesetze genannt) und den Gesetzen, die eine Gruppe von Menschen für ihr Zusammenleben aufstellt (auch normative Gesetze genannt). Gegen die von Menschen aufgestellten Gesetze können Sie verstoßen, aber nicht gegen die Naturgesetze. Könnten Sie gegen ein bestimmtes Naturgesetz verstoßen, gäbe es dieses Naturgesetz gar nicht bzw. nicht immer und überall.

    »Jedes Naturgesetz, das sich dem Beobachter offenbart,
    lässt auf ein höheres, noch unerkanntes schließen.«
    Alexander von Humboldt (1769–1859)
    Deutscher Naturforscher


    Mathematik

    Zu den Gesetzmäßigkeiten der Welt gehört, dass viele Dinge, Erscheinungen etc. nach mathematischen Regeln aufgebaut und miteinander verbunden sind. Und sich nach mathematischen Regeln bewegen bzw. funktionieren.

    Auch hier gibt es wieder den Streit, inwieweit die mathematischen Gegenstände bzw. Sachverhalte, mit denen sich die Mathematik beschäftigt, von den Menschen selbst geschaffen werden oder ob sie von den Menschen im Sein vorgefunden werden. Auch hier stoßen wir wieder auf die Grundfrage der Philosophie und es gibt auch hier materialistische, idealistische und Mischpositionen.

    Für den Platonismus sind mathematische Terme und Begriffe unabhängig vom menschlichen Denken existierende platonische Ideen, abstrakte Objekte, die der Mensch erkennen könne.

    »Ubi materia, ibi geometria.«
    (Wo Materie ist, da ist Mathematik.)
    Johannes Kepler (1571–1630)
    Deutscher Naturphilosoph und Astronom


    Eine direkte Gegenposition dazu bezieht der Konventionalismus, nachdem Aussagen der Mathematik und der Logik nur aufgrund der konventionellen Festlegung der Bedeutungen ihrer Grundbegriffe wahr seien, nicht weil ihre Aussagen auf irgendwelche unabhängig vom Menschen existierende Tatbestände wie platonische Ideen etc. hinwiesen. Mathematische Axiome und aus ihnen abgeleitete Theoreme seien Wahrheiten aufgrund semantischer Regeln.

    »Was wir mathematisch festlegen, ist nur zum
    kleinen Teil ein objektives Faktum, zum
    größeren Teil eine Übersicht über Möglichkeiten.«
    Werner Heisenberg (1901–1976)
    Deutscher Physiker und Nobelpreisträger


    Einstein antwortete auf die Frage, ob 2 x 2 = 4 seien: »Ich bin mir nicht sicher.«

    Diese Aussage Einsteins wird häufig als eine nicht ganz ernst gemeinte, augenzwinkernde Äußerung des Schöpfers der Relativitätstheorie angesehen. Was Einstein aber tatsächlich damit ausdrücken wollte, ist, dass es keine letzte Sicherheit darüber geben kann, ob die mathematischen Zusammenhänge, von deren Richtigkeit wir im täglichen Leben ausgehen (müssen), in dem von uns Menschen unabhängig existierenden Sein auch so Geltung haben wie in unserer menschlichen Welt.

    »Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit.« Albert Einstein


    Wenn behauptet wird, Raum, Zeit, Gesetze, Kausalität und Mathematik würden von den Menschen ins Sein »hineingetragen«, dann winken viele Menschen ab und sprechen von realitätsfernen Fantastereien. Aber Sie sollten wissen, dass es zum Teil die bedeutendsten Vertreter der Philosophie und der Naturwissenschaften waren, die solche Auffassungen vertreten haben. Dadurch werden diese Auffassungen nicht automatisch wahr! Aber macht es entsprechende Aussagen nicht wenigstens überlegenswert?



    3. Kapitel – Lösungen

    Lösung 1
    Helligkeit hat nach dem gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Erkenntnisstand etwas zu tun mit bewussten Lebewesen, die vermittels ihrer Augen und ihres Gehirns ein gewisses Spektrum elektromagnetischer Wellen als Helligkeit erleben. So betrachtet gibt es unabhängig von sehenden Wesen keine Helligkeit. Aber auch keine Dunkelheit! Da diese nur als Gegenteil der Helligkeit existiert und einen Sinn macht. Im Kapitel Dialektik wird dies noch näher erklärt.
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    4. Kapitel

    Erkenntnistheorie

    »Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist
    oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe,
    die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen,
    macht den Wert des Menschen.
    Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die
    Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte,
    worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit
    bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz.«
    Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781)
    Deutscher Dichter und Philosoph


    In diesem Kapitel wird vermittelt, welche unterschiedlichen Vorstellungen es in der Philosophie darüber gibt:

    • Was Erkenntnisse und Wahrheiten sind und
    • wie man zu ihnen gelangt.
    • Wie man mit dem, was man für wahr hält, umgeht.
    • In diesem Zusammenhang erfahren Sie hier etwas über
    • Empirismus und Rationalismus,
    • Induktion und Deduktion,
    • Verifikation und Falsifikation,
    • Denken, Verstand, Vernunft und Intelligenz.
    • Welche Bedeutung Gefühl, Glaube und Intuition im Erkenntnisprozess haben.
    • Was Dogmatismus und Skeptizismus bedeuten.
    • Sie erfahren hier etwas über die Evolutionäre Erkenntnistheorie,
    • über die unterschiedlichen Erkenntnismöglichkeiten der Menschen und der Tiere,
    • über die Buddhistische Theorie der zwei Wahrheiten und
    • welche Rolle die Interessen beim Erkennen haben (sollten).

    Viele Philosophen meinen, dass am Anfang der Philosophie die Erkenntnistheorie stehen sollte.

    Bevor wir uns um eine Erkenntnis des Seins bemühen, sollten wir uns zuerst einmal darüber im Klaren werden, was Erkenntnis, was Erkenntnisse überhaupt sind. Wie sie zustande kommen, was das Wesen, das Grundsätzliche der Erkenntnis ist, welche Quellen, welche Gültigkeit, welche Sicherheit, welche Grenzen und welche Ziele Erkenntnisse haben. Und wie wir mit dem, was wir für Erkenntnisse halten, umgehen.


    Epistemologie

    Früher nannte man die Erkenntnistheorie Epistemologie (von gr. »episteme« = Wissen). Besonders in den englischsprachigen Ländern – aber nicht nur dort – ist dies auch heute noch die Bezeichnung für Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Auch in deutschsprachiger Literatur wird man noch des Öfteren diesen Begriff finden, besonders die adjektivische Form »epistemisch«, was so viel bedeutet wie »die Erkenntnis oder die Erkenntnistheorie betreffend« oder »aus Sicht der Erkenntnistheorie«.

    »Die Früchte vom Baume der Erkenntnis
    sind es immer wert, dass man um
    ihretwillen das Paradies verliert«
    Ernst Haeckel


    (Für die nicht Bibelfesten: Der biblischen Überlieferung nach wurden Adam und Eva von Gott aus dem Paradies verwiesen, weil sie vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten.)


    Empirismus

    Der englische Philosoph John Locke (1632–1704) sagte:

    Es ist nichts im Verstande, was nicht vorher in den Sinnen war.

    Empirismus (von gr. »emperie« = Erfahrung, Wissen) ist die philosophische Auffassung, die nur oder in allererster Linie in der Wahrnehmung ein legitimes und verlässliches menschliches Erkenntnisverfahren sieht. Der Empirismus wurde über die Jahrhunderte hinweg besonders stark in England vertreten, was bis in die Gegenwart nachwirkt.

    Im Allgemeinen versteht man unter Wahrnehmung mit den Sinnesorganen aufgenommene Informationen der Außenwelt oder des eigenen Körpers. Was wir sehen, hören, riechen, schmecken und ertasten, hat empiristische Realität.

    Die Grundaussage des Empirismus:

    Wahr ist, was uns unsere Sinne vermitteln.


    Die Wahrnehmungen, die ein Subjekt hat, kann es nicht bezweifeln. Ob es aber durch diese Wahrnehmungen sicheres Wissen über die von ihm unabhängig existierende objektive Welt erlangen kann, ist in der Philosophie umstritten.

    Kritiker weisen zum Beispiel auf Fata Morganas, Halluzinationen und Träume hin. In solchen Situationen glauben wir, etwas wahrzunehmen, was tatsächlich aber nicht existiert.

    Außerdem gibt es Methoden, Sinnestäuschungen gezielt herbeizuführen. Wenn Sie zum Beispiel ihren Blick auf den schwarzen Punkt in der Mitte des grünen Kreis mit gelbem Rand fixieren und nach ca. 30 Sekunden auf die weiße Zimmerdecke blicken, dann sehen Sie dort einen roten Kreis mit blauem Rand.

    Kreis, 1995


    Aber auch das moderne naturwissenschaftliche Weltbild widerspricht dem Empirismus. Naturwissenschaftlich betrachtet gibt es die Welt, die für uns Menschen empirische Realität hat, unabhängig von uns nicht.

    So absurd es Ihnen auch erscheinen mag: Wenn Sie nicht in Ihrer Wohnung sind – und auch kein anderes mit einem Großhirn ausgestattetes Lebewesen, wie Ihr Partner oder Ihre Katze –, dann gibt es Ihren Computerbildschirm, auf den Sie gerade blicken, nicht. Auch nicht Ihren Fernseher, Ihr Sofa, das rote Kissen darauf, die Schränke, die Betten etc. Unabhängig von erkennenden bewussten Wesen gibt es – nach dem gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Erkenntnisstand – energetische Vorgänge, die für sich allein weit von dem entfernt sind, was Sie als Bett, Schrank, Tisch, Bücherbord usw. wahrnehmen. Schon Ihr Hund erlebt die Gegenstände in Ihrer Wohnung anders als Sie, weil er ein weniger weit entwickeltes Gehirn hat.



    Mädchen und junge Frauen mit Magersucht nehmen ihren Körper anders wahr, als er ist bzw. als andere Menschen ihn wahrnehmen.


    Abbildtheorie

    Die Abbildtheorie ist eine Form des Empirismus, die durch keinerlei Skepsis beeinträchtigt ist.

    Lenin sagte, wir würden die objektiven Tatsachen in unserem Bewusstsein widerspiegeln. Diese Widerspiegelungstheorie kann leicht zum Naiven Realismus führen.

    Russell und sein zeitweiliger Schüler und Weggefährte, der bedeutende österreichisch-britische Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889–1951) haben zeitweilig eine unkritische Abbildtheorie vertreten. Anfänglich glaubten sie, wir könnten die tatsächliche Welt empirisch wahrnehmen, sie gedanklich in ihre elementarsten Teile zerlegen und zu jeder dieser atomaren Einzelheit könne dann ein wahrer atomarer Satz gebildet werden. Später ließen sie diese Vorstellung aber fallen. (Während die Menschen in den Ländern mit sowjetischem System dazu vergattert waren, die leninsche Widerspiegelungstheorie zu vertreten.)

    Was sehen Sie auf diesem Bild? Sehen Sie eine junge Frau? Oder sehen Sie eine alte Frau?

    Einige Betrachter dieses Bildes sehen zuerst eine junge Frau, andere sehen zuerst eine alte Frau. Nach einer Weile »kippt« das Bild plötzlich um und zeigt uns scheinbar etwas anderes. Da sich die Reize aus der Außenwelt auf unsere Augen wohl nicht geändert haben, scheint lediglich in unserem Bewusstsein eine Änderung vor sich gegangen zu sein. Etwas, das wir als außerhalb und unabhängig von uns erleben, ist scheinbar nur so, wie es ist, weil wir es so interpretieren. Wir scheinen hier die Wirklichkeit zu schaffen.

    Wenn Sie zum ersten Mal das folgende Bild sehen, werden Sie wahrscheinlich nichts damit anfangen können.

    man1

    Wenn Sie aber das Bild im Abschnitt Lösungen (Lösung 1) gesehen haben, und dann noch einmal auf dieses Bild sehen, dann erkennen Sie das Bild aus dem Abschnitt Lösungen in obigem Bild wieder. Auch hier scheinen wir Wirklichkeit zu schaffen.

    »Was wir sehen, ist nicht, was
    wir sehen, sondern was wir sind.«
    Fernando Pessoa (1888–1935)
    Portugiesischer Schriftsteller


    Was im Beispiel mit obigem Bild sehr schnell geschah, das passiert bei Sprache und Schrift über viele Jahre hinweg, in der Regel in der Kindheit. Sie empfinden es wahrscheinlich als Selbstverständlichkeit, dass Ihnen das Wort »TOR« etwas sagt.

    Wenn Sie »TOR« sehen oder hören, dann nicht, weil auch unabhängig von Ihnen dieses »TOR« besteht, sondern weil Sie die deutsche Sprache verstehen und lesen gelernt haben.


    »Die Art und Weise, in der die menschliche
    Sinneswahrnehmung sich organisiert
    – das Medium, in dem sie erfolgt –
    ist nicht nur natürlich,
    sondern auch geschichtlich bedingt.«
    Walter Benjamin (1892–1940)
    Deutscher Philosoph


    Deutlich machen können Sie sich dies anhand eines ganz simplen Vergleichs:

    Ein Russe, Araber oder Chinese, der nur seine Sprache und seine Schrift kennt, der erlebt beim Anblick von »TOR« ungefähr das, was Sie beim Anblick von »Þ¥µ« erleben.


    Die Angehörigen der eben genannten Völker wissen aber in der Regel, dass es Schrift gibt. Die werden sich sagen: »Das ist etwas in einer Sprache und Schrift, die mir nicht bekannt ist.« Aber der Amazonasindianer, der nicht einmal weiß, dass es so etwas wie Schrift gibt, der erlebt beim Anblick von »TOR« schon wieder was ganz anderes. Wenn Sie also »TOR« sehen oder hören, dann spiegeln Sie nicht einen unabhängig von Ihnen existierenden Tatbestand in Ihrem Bewusstsein wider. Unabhängig von Ihnen mag es durchaus objektive Tatbestände geben (zum Beispiel Schallwellen oder Zeichen auf Papier), die über Zwischenstufen in Ihnen einen Erkenntnisprozess auslösen. Das Ergebnis dieses Prozesses sind aber nicht mehr die unabhängig von Ihnen existierenden Tatbestände.

    Paradoxon des Empirismus

    Kritiker des Empirismus behaupten, dieser beinhalte ein Paradoxon:

    Die Auffassung, »sicheres Wissen ist nur auf dem Wege der empirischen Erfahrung möglich«, könne selbst nicht der empirischen Erfahrung entstammen.


    Induktion

    Eng mit dem Empirismus hängt das wissenschaftlich-philosophische Verfahren der Induktion (von lat. »inducere« = (hin)einführen) zusammen. Diese geht vom Einzelnen zum Allgemeinen.

    Felix ist ein Kind. Marie ist ein Kind. Paul ist ein Kind.
    (Fall bzw. Fälle)

    Felix hat einmal im Jahr Geburtstag. Marie hat einmal im Jahr Geburtstag. Paul hat einmal im Jahr Geburtstag.
    (Resultate)

    Alle Kinder haben einmal im Jahr Geburtstag.
    (Regel)


    Popper war einer der schärfsten Kritiker des Induktionsprinzips. Auf induktivem Weg könnten wir niemals sicheres Wissen erhalten.

    Früher galt in Europa die Regel: »Alle Schwäne sind weiß.« Nun kam Popper, der als Jude und Sozialdemokrat vor den Nazis aus Österreich flüchten musste, nach Neuseeland. Dort und in Australien gibt es schwarze Schwäne, die Trauerschwäne, die es heutzutage auch in Europa in Zoos und Parks zuweilen gibt.


    Das veranlasste Popper zu der Aussage:

    Die Beobachtung noch so vieler weißer Schwäne kann nicht ausschließen, dass es auch schwarze Schwäne gibt.


    Wenn Sie einen Stein vom Boden heben und loslassen, fällt er wieder zu Boden. Aber gilt das immer und ausnahmslos? Was passiert in der internationalen Raumstation ISS, wenn dort ein Stein aufgehoben und dann losgelassen wird? Was ist dort anders als auf der Erde? (Lösung 2)

    Jeden Morgen geht die Sonne auf und abends geht sie unter? Gilt dies auch am Nord- und Südpol? Was ist dort anders als in Deutschland? (Lösung 3)


    Häufig hängen Wahrheiten, die auf induktiven Weg gewonnen werden, von Bedingungen ab, die nicht immer und überall gelten. Deshalb sollten Sie immer damit rechnen, dass etwas plötzlich anders sein könnte als bisher, weil sich Bedingungen geändert haben bzw. verschwunden sind.


    Rationalismus

    Wie weiter vorn erwähnt, sagte Locke: »Es ist nichts im Verstande, was nicht vorher in den Sinnen war.« Leibniz ergänzte: »Mit Ausnahme des Verstandes selbst.«

    Rationalismus (von lat. »ratio« = Verstand, Vernunft) ist die philosophische Auffassung, die nur oder in allererster Linie in der Benutzung des Verstandes bzw. der Vernunft ein verlässliches menschliches Erkenntnisverfahren sieht. Der Rationalismus wurde über die Jahrhunderte hinweg besonders stark in Frankreich und Deutschland vertreten, was bis in die Gegenwart nachwirkt.

    Die Grundaussage des Rationalismus:

    Wahr ist, was uns unser Verstand vermittelt.


    Die Benutzung des Verstandes bzw. der Vernunft nennt man Denken.

    »Denken ist die Arbeit des Intellekts,
    Träumen sein Vergnügen.«
    Victor Hugo


    Denken

    Umgangssprachlich ist Denken ein sehr umfangreicher und damit unbestimmter Begriff, der alle intellektuellen, geistigen Tätigkeiten umfasst und mit Verstand und Vernunft synonym verwendet wird.

    Philosophisch betrachtet ist Denken im Bewusstsein vorgenommenes Trennen, Verbinden, Unterscheiden, Vergleichen und Beurteilen von Bewusstseinsinhalten und damit verbunden das ständige Hervorbringen neuer Bewusstseinsinhalte.



    Das Ganze ist mehr als ein Teil des Ganzen.
    Zwei ist mehr als eins.
    Wenn A = B ist und B = C, dann ist auch A = C.
    (Weitere Beispiele im Kapitel Logik.)


    »Lernen, ohne zu denken, ist eitel.
    Denken, ohne zu lernen, ist gefährlich.«
    Konfuzius


    Die Logik ist in der Philosophie das Teilgebiet, das sich mit den Grundlagen, Gesetzen und Strukturen des Denkens beschäftigt. Der Logik und dem Denken ist das nächste Kapitel gewidmet.

    »Viele Menschen würden eher
    sterben als zu denken.
    Und in der Tat: Sie tun es.«
    Bertrand Russell


    Vernunft

    Vernunft bedeutet die Fähigkeit, richtig zu denken. Der Begriff Verstand ist in der Umgangssprache häufig deckungsgleich, in der Philosophie aber zum Teil verschieden. Gelegentlich wird von »geistigen Fähigkeiten« gesprochen, wenn Vernunft gemeint ist. Vernunft heißt zwischen verschiedenen Gedanken, Möglichkeiten etc. abzuwägen und den richtigen zu wählen.

    »Vernunft hat einen ganz klaren Sinn.
    Vernunft ist die Wahl der richtigen Mittel
    zu einem bestimmten Zweck.
    Die Wahl des Zwecks hat damit nichts zu tun.«
    Bertrand Russell


    Verstand

    »Nichts auf der Welt ist so gerecht verteilt wie der Verstand. Jeder, der gefragt wird, ist überzeugt, genug davon zu haben.« Frei nach René Descartes

    Verstand bedeutet umgangssprachlich die Fähigkeit zu denken. Wörter wie Verstand, Vernunft und Denken werden synonym verwendet. Für den Alltagsgebrauch reicht das.

    In der Philosophie wird zwischen Wahrnehmung (Empirismus, Perzeption), Verstand (Rationalismus, Apperzeption) und Vernunft als verschiedene sich (notwendig) ergänzende menschliche Erkenntnisformen unterschieden.

    »Natürlicher Verstand kann fast
    jeden Grad von Bildung ersetzen,
    aber keine Bildung
    den natürlichen Verstand.«
    Arthur Schopenhauer


    Intelligenz

    Mit Verstand, Vernunft und Denken gleichgesetzt wird häufig die Intelligenz. (Von lat. »intellectus« = Wahrnehmen, Empfinden, Verständnis, Einsicht, Idee u. Ä.) Umgangssprachlich wird dieser Begriff mit Klugheit gleichgestellt.

    Lieber heimlich klug als unheimlich dumm.


    So bedeutet Intellekt ganz allgemein die geistige Erkenntnisfähigkeit, also Vernunft und Verstand. Gefühl und Wahrnehmung wird in der Regel nicht als Teil des Intellekts angesehen.

    »Der Intellekt hat ein scharfes Auge
    für Methoden und Werkzeuge,
    aber er ist blind gegen Ziele und Werte.«
    Albert Einstein


    Es gibt verschiedene Arten von Intelligenz und einzelne Individuen können an den verschiedenen Arten von Intelligenz ganz unterschiedlichen Anteil haben. Das heißt konkret, dass Dummheit und Klugheit in einem Menschen dicht beieinander liegen können. So kommt es vor, dass religiöse, politische und/oder philosophische Dogmatiker bzw. Fanatiker in bestimmten Bereichen Hervorragendes leisten, eine große intellektuelle Kraft demonstrieren, wenn es aber um ihren Glauben geht, plötzlich blind werden wie Maulwürfe.

    Der Anführer der Irren, die im September 2001 ins World Trade Center geflogen sind, hatte ein Einser-Diplom in Städteplanung.


    Sowohl gutes Gedächtnis als auch Kreativität kann in einem Menschen vorhanden sein, es kommt aber auch vor, dass Menschen nur eine dieser beiden Gaben besitzen. Man spricht auch von »Sozialer Intelligenz«, in der nicht nur Verstandeskraft, sondern auch Ethik eine Rolle spielt, und von »Emotionaler Intelligenz«, wo zur Verstandeskraft das Gefühl hinzutritt.

    »Der Klügere gibt nach?« Deshalb regiert die Dummheit die Welt. Man kann so lange der Klügere sein, bis man der Dumme ist.


    Deduktion

    Eng mit dem Rationalismus hängt das wissenschaftlich-philosophische Verfahren der Deduktion (von lat. »deducere« = herabführen) zusammen. Diese geht vom Allgemeinen zum Besondern. Von der Regel und dem Fall wird das Resultat abgeleitet.

    Alle Kinder in Deutschland müssen in die Schule gehen. (Regel)

    Leon ist ein Kind und lebt in Deutschland. (Fall)

    Leon muss in die Schule gehen. (Resultat)


    Nach Aristoteles verfügen wir mit unserer Vernunft über das Vermögen zur unmittelbaren und irrtumsfreien Erfassung allgemeiner Wahrheiten, aus denen wir deduktiv konkrete wahre Sätze ableiten können. (Dazu Näheres im nächsten Kapitel über Logik.) In der Regel werden wir aber nach Aristoteles den umgekehrten Weg gehen und aus vielen einzelnen Sätzen induktiv eine Regel ableiten.


    Synthetische Positionen

    Viele Philosophen haben versucht, aus Empirismus und Rationalismus eine Synthese zu ziehen bzw. beides zu seinem Recht kommen zu lassen. Den für die weitere Philosophie-Geschichte bedeutendsten Versuch hat Kant unternommen.

    Empirismus und Rationalismus hätten beide eine eingeschränkte Gültigkeit. »Erfahrung« ist nach Kant etwas Zusammengesetztes: 1. Von außen kommende Eindrücke, 2. Was unser Verstand hinzutut. Die von außen kommenden Reize würden von uns in einer bestimmten Weise verarbeitet und erst in diesem Prozess entstehe die Welt, so wie sie für uns da sei. Das ist bis hierhin exakt die heutige naturwissenschaftliche Auffassung über den Erkenntnisvorgang! (Im weiteren Verlauf stellt Kant dann allerdings Behauptungen auf, die die moderne Naturwissenschaft zurückweist, wie im vorherigen Kapitel bereits näher ausgeführt.) Eine kritische Analyse müsse beide Faktoren auseinanderhalten.

    Eine zentrale Aussage Kants in diesem Zusammenhang:

    Begriffe ohne (sinnliche) Anschauungen sind leer,
    Anschauungen ohne (rationale) Begriffe sind blind.

    Für Kant sind Sinneswahrnehmungen Auslöser für Erkenntnis, aber das war es dann auch. Er sagt:

    Wir erkennen an den Dingen nur das, was wir selbst in sie hineingelegt haben.

    Eine synthetische Position ist auch der Logische Empirismus, wo neben der Empirie die Logik als zweite Erkenntnisquelle angesehen wird. Diese philosophische Strömung wird weiter hinten noch näher erläutert.


    Intuition

    Intuition (von lat. »intueri« = betrachten, erwägen) bedeutet unmittelbares Erfassen eines Sachverhalts ohne vorheriges Nachdenken, ohne vorherige Diskussion. Die Intuition wird in der Philosophie häufig dem Denken vorgezogen. So sagte zum Beispiel Platon, den innersten Kern seiner Philosophie könne man nicht lehren. Er entstehe plötzlich – intuitiv – wie ein von einem springenden Funken entzündetes Licht, das sich nun von selbst erhält.

    »Das Träumen und Philosophieren hat seine
    Schattenseiten; wer das zweite Gesicht hat,
    dem fehlt mitunter das erste.«
    August Julius Langbehn (1851–1907)
    Deutscher Schriftsteller


    Intuition und Denken können sich ergänzen. Im Laufe der Ansammlung philosophischer Kenntnisse und des selbstständigen Denkens kann es dazu kommen, dass plötzlich intuitiv eine Erkenntnis in einem entsteht, ein Geistesblitz, der nicht auf das reduzierbar ist, was man bisher gehört, gelesen und gedacht hat, der aber nur auf Basis von vielem, was man bisher gehört, gelesen und gedacht hat, möglich ist!


    Dieser Vorgang ist eng verwandt mit dem dialektischen Gesetz des »Umschlagens quantitativer in qualitative Veränderungen«, das im Kapitel Dialektik noch näher erläutert wird.

    An seinem quantitativen Wissen kann man andere teilhaben lassen. Lehrer, Professoren, Sachbuchautoren usw. machen im Prinzip nichts anderes. Sie vermitteln anderen Menschen häppchenweise Wissen, das sie besitzen. Das qualitative Niveau, das ein Mensch hat, kann er anderen Menschen, die sich auf einem niedrigeren Niveau befinden, nicht unmittelbar vermitteln. Das qualitative Niveau kann sich nur im einzelnen Individuum auf Basis von quantitativem Wissen entwickeln.

    »Höhe kann nicht geschenkt,
    sondern will erklommen werden.«
    Paul Richard Luck (1880–1940)
    Deutscher Schriftsteller


    Intuitionismus

    Intuitionismus ist die philosophische Lehre, nach der bestimmte Sachverhalte unmittelbar erkannt werden. Es gibt den ethischen und den mathematischen Intuitionismus.


    Gefühl

    Gefühl ist ein unklarer Begriff, der für verschiedene körperliche und seelische Erscheinungen benutzt wird: Sinnesempfindungen, Gemütsbewegungen und -verfassungen, Selbstgefühl und Weiteres.

    Was alles Gefühl genannt wird

    Gruppe von Bewusstseinsinhalten

    Die Gefühle sind wie die Wahrnehmungen, die Gedanken, die Vorstellungen, der Wille und die Bedürfnisse eine wichtige Gruppe von Bewusstseinsinhalten.

    Lust und Unlust

    Gefühle sind die verschiedenen als negativ oder positiv empfundenen subjektiven Zustände, die Sie grob unter die Oberbegriffe »Lust und Unlust« ordnen können.

    Positive Gefühlen sind zum Beispiel:

    • Freude
    • Triebbefriedigung bzw. das Ausleben von Trieben, wozu auch der Aufbau
      von Triebspannungen gehören kann (zum Beispiel beim Sexualtrieb)
    • das Gefühl, Erfolg zu haben
    • von anderen anerkannt zu werden
    • das Erringen neuer Erkenntnisse

    Negative Gefühle sind zum Beispiel:

    • Schmerz
    • Trauer
    • Angst
    • Peinlichkeit
    • Schuldgefühle
    • Triebunterdrückung
    • Langeweile

    »Alles, was das Leben lebenswert macht,
    hat etwas mit Gefühlen zu tun.
    Der Verstand soll aber in keinem
    Lebensbereich völlig fehlen.«
    Karl Popper


    Gefühl als Wissen

    Gefühl als Ahnung. (Das Gefühl haben, dass etwas Bestimmtes passiert.)

    »Überall geht ein früheres Ahnen
    dem späteren Wissen voraus.«
    Alexander von Humboldt


    Gefühl als vage, unklare Erkenntnis.

    »Man kann vieles unbewusst wissen,
    indem man es nur fühlt, aber nicht weiß.«
    Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821–1881)
    Russischer Schriftsteller


    Gefühl als unmittelbares klares Wissen. Ein Gefühl, das so stark, so intensiv ist, dass man überzeugt ist, durch dieses Gefühl objektives Wissen zu haben. (Ähnlichkeit zur Intuition.)

    »Das Gefühl findet,
    der Scharfsinn weiß die Gründe.«
    Jean Paul


    Gefühl als Kompetenz (Ein Gefühl, ein Geschick haben, für eine bestimmte Sache oder Tätigkeit.)

    Gefühl als Tastsinn. (Mit den Fingern oder anderen Körperstellen etwas fühlen.)

    Gefühle als Grundlage von Ethik

    Viele Menschen glauben, auf Grund von Gefühlen mit Sicherheit oder abgemildert mit Wahrscheinlichkeit ein Urteil darüber abgeben zu können, ob bestimmte Dinge oder Handlungen richtig, andere falsch sind. Gefühle sind so Grundlagen für Ethik, Moral und Sittlichkeit. (Wird weiter hinten als Gefühlsethik näher ausgeführt.)

    Gefühl als Gegensatz zum Denken oder zumindest als eine andere Art von Bewusstseinsinhalten. Die nicht kognitiv (erkenntnismäßig) und nicht volitional (durch den Willen bestimmt) sind, besonders ethische und ästhetische Gefühle.

    Gefühl in der Philosophie

    Das Gefühl spielte in der Philosophie meist eine untergeordnete Rolle, da die meisten Philosophen dem Denken den Vorzug vor dem Gefühl gaben. Aber eine Minderheit unter den Philosophen zieht das gefühlsmäßige Erfassen dem denkerischen Erfassen vor. (Eine wichtige Rolle spielt dort häufig die Intuition.) Besonders gilt das für an die Philosophie angrenzende menschliche Aktivitäten, wie Kunst und Religion.

    In der philosophischen Tradition unterschied man zwischen Denken, Fühlen und Wollen. Während denkerische und willentliche Akte immer einen Bezug auf etwas außerhalb des Bewusstseins hatten, galten Gefühle als rein subjektive Zustände.

    Inwieweit Gefühle uns objektive Tatsachen erkennen lassen, ist umstritten. Im praktischen Leben spielt das Gefühl bei unseren Entscheidungen aber häufig eine große Rolle. Wer alles immer nur mit dem Verstand entscheiden will, der wird schnell Probleme bekommen.

    »Der Mann hatte so viel Verstand, dass er fast zu nichts mehr in der Welt zu gebrauchen war.« Georg Christoph Lichtenberg


    Es gibt Philosophen, die Vernunft, Verstand, Denken etc. für völlig untauglich halten, irgendeine Erkenntnis zu vermitteln, die diese geistigen Aktivitäten schroff ablehnen oder zumindest stark abwerten. Zwei besonders exponierte Vertreter dieser Auffassung waren der schweizerisch-französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) und der deutsche Philosoph Ludwig Klages (1872–1956).

    »Wenn die Natur uns dazu bestimmt hat, gesund zu sein, so wage ich fast zu behaupten, dass der Zustand der Reflexion ein Stand gegen die Natur, dass ein Mensch, der denkt, ein entartetes Wesen ist.« Jean-Jacques Rousseau

    Diesen Leuten wird von anderen Philosophen Inkonsequenz vorgeworfen. Mit folgender Begründung: In dem Moment, wo jemand argumentiere, setze er voraus bzw. ziehe zumindest in Erwägung, dass der menschliche Verstand in der Lage sei, zwischen verschiedenen Argumenten zu wählen, das Richtigere, Plausiblere oder Wahrscheinlichere auszuwählen. Wer dem menschlichen Verstand von vornherein diese Fähigkeit abspreche, der brauche nicht mehr zu argumentieren bzw. seine Verhaltensweise sei paradox.

    Wären diese Leute konsequent, würden sie den Mund halten.



    Glaube

    Das Wort »glauben« hat verschiedene Bedeutungen. Unterschiedliche Verwendungen dieses Wortes sind oft Ursache von Missverständnissen.

    Umgangssprachlich bedeutet »glauben« gewöhnlich »für wahrscheinlich halten«. »Ich glaube, es regnet heute noch.« Die Bewölkung nimmt Formen an, die in der Vergangenheit meist zu Regen geführt haben oder die Wettervoraussage war entsprechend.

    Beim »Glauben« kann aber auch das Gefühl hinzutreten. »Ich glaube dir.« »Ich glaube an dich.« Man vertraut einem Menschen.

    »Glaube ist Gewissheit ohne Beweise.«
    Henri-Frédéric Amiel (1821–1881)
    Schweizer Schriftsteller


    Dieses Vertrauen geht über das durch den Verstand Begründbare hinaus.

    »Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.« Bibel, Johannes 20, 29

    Und diese Form von »Glauben« leitet über zur religiösen Bedeutung dieses Begriffes. Wenn ein Mensch sagt: »Ich glaube an Gott«, dann meint er in der Regel nicht, dass er die Existenz Gottes für wahrscheinlich hält. Wer diesen Satz benutzt, ist meistens überzeugt, dass Gott existiert. Glauben ist hier gleich sicheres Wissen.

    Koran:
    »Es soll kein Zwang sein im Glauben.« – Sure 2, 256
    »[Muslim ...] lass den gläubig sein, der will, und den ungläubig sein, der will.« – Sure 18, 29
    »Euch euer Glaube, und mir mein Glaube.« – Sure 109, 6

    Unser Glaube lenkt unsere Wahrnehmungen, unsere Vorstellungen, unsere Gefühle, unser Denken und die Interpretation unserer Erlebnisse. Das führt dazu, dass Menschen, die den gleichen Umwelteinflüssen ausgesetzt sind, in verschiedenen Welten leben. Das kann so weit gehen, dass der Glaube eine Änderung des körperlichen Zustandes eines Menschen herbeiführt.

    Ob der Glaube über den körperlichen Zustand des Glaubenden hinaus weitere objektive Tatbestände der Welt verändern kann, ist umstritten und geht in den Bereich der Religion und der Esoterik.

    Religiöse Menschen sprechen oft pathetisch davon, dass der Glaube Berge versetzen könne. Im übertragenen Sinne stimmt das, da der Glaube den Menschen große Kräfte verleihen kann.


    Dogmatiker sind oft bereit, für ihren Glauben zu sterben. Leider auch andere dafür sterben zu lassen! Schlimmstes Beispiel in der Gegenwart sind die Selbstmordattentäter. Über die Richtigkeit der Glaubenssätze sagt das allerdings überhaupt nichts, da die Menschen für ganz unterschiedliche Glaubenssätze bereit sind, zu sterben und sterben zu lassen.

    »Gefährlich ist's, den Leu zu wecken,
    Verderblich ist des Tigers Zahn,
    Jedoch der schrecklichste der Schrecken,
    Das ist der Mensch in seinem Wahn.«
    Friedrich von Schiller (1759–1805)
    Deutscher Dichter und Philosoph


    Die Bewertung des Glaubens in der Philosophie

    Seit Platon, aber besonders für die Aufklärung, galt Glaube in der Philosophie als eine unvollkommene und bedenkliche Vorform des Wissens und etwas, das die Menschen ab einem bestimmten Entwicklungspunkt hinter sich lassen müssten. Marx ging davon aus, dass der Glaube in der Zukunft, im Kommunismus absterben würde. Für die Rationalisten ist die Vernunft das letztlich alles Begründende.

    »Der Glaube schwindet,
    und es entsteht die Philosophie.«
    Francesco de Sanctis (1817–1883)
    Italienischer Literaturwissenschaftler


    Andere Philosophen bewerteten den Glauben positiver. (Wenn auch nicht immer im religiösen Sinne.) Aristoteles sprach davon, dass an die ersten Prinzipien geglaubt werden müsse, und Popper sagte, am Anfang aller Erkenntnis stehe der irrationale Glaube an die Vernunft. Bei dem bedeutenden dänischen Philosophen Sören Kierkegaard (1813–1855) und bei den Existentialisten, wie Heidegger und dem deutschen Philosophen Karl Jaspers (1883–1969), spielte der Glaube eine große Rolle.

    »Aller Glaube ist unwillkürliche
    Hingebung des Geistes
    an eine Vorstellung von Wahrheit.«
    Friedrich Heinrich Jacobi


    Die christlichen Geistlichen, Theologen und Philosophen und viele Vertreter anderer Religionen haben sich seit der Antike bemüht, den Glauben als einen selbstständigen Bewusstseinsbereich neben und über dem Wissen zu etablieren. In der mittelalterlichen Philosophie der Scholastik wurde über das Verhältnis von Glauben und Wissen bzw. von Glauben und Vernunft diskutiert. Zwei gegensätzliche Positionen waren:

    Credo ut intelligam (lat. ich glaube, damit ich erkenne).

    Intelligo ut credam (lat. ich erkenne, auf dass ich glaube).

    Glaubenskritik

    Gegen den Glauben wird von vielen Philosophen eingewendet, dass gerade in den verschiedenen Religionen an Verschiedenes geglaubt wird. Zum Beispiel was die konkrete Beschaffenheit Gottes anbetrifft und welches Verhalten er von den Menschen erwartet.

    Es gibt keine verlässlichen Kriterien, nach denen der eine Glauben als richtig, der andere als falsch bezeichnet werden könnte.


    Auf die Glaubenskritik komme ich im Kapitel über die Religion noch einmal zurück.


    Meinen, Glauben und Wissen

    Kant und im Anschluss an ihn viele weitere Philosophen unterscheiden zwischen meinen, glauben und wissen.

    »Meinen« bzw. »Meinung« ist eine Weise des »Für-wahr-Haltens« wie »glauben« und »wissen« und steht wertmäßig unter diesen beiden. Die Grenzen zwischen diesen drei Begriffen sind allerdings besonders in der Umgangssprache fließend. Meinung ist unbegründete Auffassung ohne restloses Überzeugtsein. Sie gibt lediglich eine gewisse Plausibilität wieder. (Das hindert allerdings nicht, dass viele Menschen ihre Meinung mit Wissen verwechseln und häufig aus ihrer Meinung gleich ein Dogma machen.)

    »Wer seine Meinung nie zurückzieht,
    liebt sich selbst mehr als die Wahrheit.«
    Joseph Joubert


    Meinung:
    »Mein Nachbar klaut mir die Zeitung aus dem Briefkasten!« Ich trau ihm das zu.


    Glauben ist eine Weise des »Für-wahr-Haltens« wie »meinen« und »wissen« und steht wertmäßig zwischen diesen beiden. Glauben bedeutet nicht nur Plausibilität, sondern subjektive Überzeugung. Diese Überzeugung ist aber anderen nicht unbedingt vermittelbar. Andere Menschen glauben etwas anderes.

    Glauben:
    »Ich glaube fest daran, dass mein Nachbar meine Zeitungen geklaut hat.« Er hat schon früher gestohlen und gerade habe ich ihn auf dem Balkon, die Zeitung lesen sehen, die ich abonniert habe.


    Wissen ist eine Weise des »Für-wahr-Haltens« wie »meinen« und »glauben« und steht wertmäßig über diesen beiden. Für »Wissen« können Sie auch die Begriffe »Erkenntnis« oder »Wahrheit« benutzen. Wissen ist begründbare Erkenntnis.

    Wissen:
    »Ich habe gesehen, dass mein Nachbar mir die Zeitung geklaut hat.« Ich habe es mit meiner Handy-Kamera gefilmt.


    Und die Begründung des Wissens muss intersubjektiv sein, sie muss von Menschen gleichen Bildungsgrades nachvollziehbar sein. Was überzeugende Gründe sind, darüber wird in der Philosophie allerdings gestritten.

    Wissenschaft

    Wissenschaft ist die systematische, methodische, ordnende, erklärende und begründende Untersuchung von allem, was Menschen geistig zugänglich ist, in welcher Form auch immer. Ziel ist, Erscheinungen im materiell-natürlichen, geistigen und kulturellen Bereich zu beschreiben und Gesetze, Zusammenhänge etc. aufzudecken. Und Wissenschaft bedeutet auch die Summe dessen, was auf diesen Wegen von den Menschen an Wissen hervorgebracht wurde.



    Wahrheit und Wahrheitstheorien

    »Sag die Wahrheit!« Das haben Sie seit Ihrer Kindheit bestimmt schon häufig gehört. Im Alltagsleben scheint es noch leicht zu sein, die Wahrheit festzustellen. Wer die Vase zerbrochen hat, über diesen Tatbestand gibt es scheinbar eine eindeutige Wahrheit, auch wenn die nicht immer feststellbar ist. In der Philosophie ist das etwas komplizierter.

    Wahrheit ist ein zentraler Begriff der Philosophie. Das Streben der Philosophen gilt in der Regel der Wahrheit. Was das allerdings ist, »Wahrheit«, ob und wie sie erlangt werden kann, an was sie zu messen sei, darauf werden in der Philosophie ganz unterschiedliche Antworten gegeben.

    Umgangssprachlich bedeutet Wahrheit die Übereinstimmung von einem Gedanken oder einer Aussage mit dem, was tatsächlich vorhanden oder passiert ist.


    Auch in der Philosophie wurde oft genau das unter Wahrheit verstanden. So lautet der klassische Wahrheitsbegriff der abendländischen Philosophie, den der bedeutende mittelalterliche Philosoph Thomas von Aquin (1224–1274) geprägt hat:

    Veritas est adaequatio intellectus et rei.

    Auf Deutsch: »Wahrheit ist Übereinstimmung von Geist und Sache.« Wahrheit bedeutet, dass uns in unserem Bewusstsein ein objektiver Tatbestand gegenwärtig ist, und zwar so, dass jede Täuschung ausgeschlossen ist.

    Sie lesen im Moment gerade diesen Satz. Dessen können Sie sich ohne jede Täuschung gewiss sein. Hiermit haben Sie ein Beispiel für eine unbezweifelbare Wahrheit.


    Korrespondenztheorie

    In neuerer Zeit wird für diese Auffassung auch der Begriff Korrespondenztheorie verwendet. Eine Aussage ist wahr, wenn sie mit dem Sachverhalt, den sie beschreiben will, korrespondiert. In diesem Sinne sind sowohl die philosophischen Materialisten wie auch die Objektiven Idealisten Vertreter der Korrespondenztheorie. Auch die Skeptiker vertreten diese Auffassung, sagen aber, dass wir uns nie sicher sein könnten, ob wir eine Wahrheit im Sinne der Korrespondenztheorie gefunden haben. Keine Anhänger der Korrespondenztheorie sind die Vertreter der diversen Spielarten des Subjektiven Idealismus, da es nach ihren Auffassungen keine vom erkennenden Subjekt unabhängig existierenden Tatbestände, Dinge, Eigenschaften etc. gibt, mit denen das subjektive Bewusstsein korrespondieren könnte.

    »Man sollte dem Anderen die Wahrheit
    wie einen Mantel hinhalten,
    dass er hineinschlüpfen kann,
    und sie ihm nicht wie einen nassen Lappen
    um die Ohren schlagen.«
    Max Frisch (1911–1991)
    Schweizer Schriftsteller


    Prädikativer und attributiver Wahrheitsbegriff

    Unterschieden wird auch zwischen einem prädikativen und einem attributiven Wahrheitsbegriff. In der Regel wird der prädikative Wahrheitsbegriff verwendet. Ein Satz oder ein Gedanke ist wahr, wenn die Aussage (im Sinne der eben erklärten Korrespondenztheorie) richtig ist. Beim attributiven Wahrheitsbegriff ist eine Sache, ein Lebewesen, eine Erscheinung etc. an sich wahr. »Ein wahres Kunstwerk.« »Ein echter Mensch.« »Ein richtiges Bedürfnis.« Dem liegt die Auffassung zu Grunde, dass alles eine Idealform habe, dem es entsprechen müsse, um wahr zu sein. Diese Auffassung findet man unter anderem bei Platon und Hegel. Aber auch völlig unphilosophische Menschen haben (meist unbewusst) diese Einstellung.

    »Es gibt noch etwas anderes als Moden;
    es gibt Werte, es gibt Wahrheiten.«
    Simone de Beauvoir (1908–1986)
    Französische Schriftstellerin


    Evidentialismus

    Der Evidentialismus ist die philosophische Position, nach der es unvernünftig und falsch ist, an etwas zu glauben, das nicht entweder gut bewiesen oder offensichtlich richtig, das heißt evident ist.

    Kritiker wenden ein, hier werde das menschliche Erkenntnisvermögen unkritisch als tauglich angesehen, etwas über das Sein auszusagen.

    Bertrand Russell, der nicht an Gott glaubte, wurde einmal gefragt, was er sagen würde, wenn er nach seinem Tode einem Gott begegnen würde, der ihn fragen würde, warum er nicht an ihn geglaubt habe. Darauf antwortete Russell:

    Zu wenig Evidenz, Gott. Einfach zu wenig Evidenz.

    Kritische Grundhaltung zur objektiven Wahrheit

    Die Mehrheit der Gegenwartsphilosophen sind im Verlaufe ihrer Überlegungen zu dem Schluss gekommen, dass objektive Wahrheit im Sinne der Korrespondenztheorie für den Menschen nicht erreichbar sei oder die Menge der objektiven Wahrheiten, die ein Mensch haben könne, im Vergleich zu dem nicht Erkennbaren und den Vermutungen sehr gering sei. Deshalb gibt es heute in der Philosophie viele verschiedene Wahrheitstheorien, die keinen Bezug zu einer eventuell existierenden objektiven Wahrheit mehr haben.

    »Glaube denen, die die Wahrheit suchen.
    Und zweifle an denen, die sie gefunden haben.«
    André Gide (1869–1951)
    Französischer Schriftsteller und Nobelpreisträger


    Konsenstheorie

    Weitverbreitet ist die Konsenstheorie der Wahrheit (von lat. »consensus« = Übereinstimmung). Wahr sei, worüber in einem freien, offenen Diskurs ein Konsens gefunden werden könne. Die Konsenstheorie gibt es in unterschiedlichen konkreten Ausformungen. Eine der einflussreichsten ist die von dem bedeutenden deutschen Philosophen Jürgen Habermas. (Geb. 1929).

    »Die Idee der Wahrheit lässt sich nur mit
    Bezugnahme auf die diskursive Einlösung
    von Geltungsansprüchen entfalten.«
    Jürgen Habermas


    Kritiker dieser Theorie wenden ein, dass sich auch Milliarden kluge und freie Menschen zusammen irren können, dass das menschliche Erkenntnisvermögen eventuell gar nicht in der Lage ist, das Sein bzw. seine grundsätzlichsten Wesenszüge zu begreifen. Die Anzahl der zustimmenden Subjekte kann kein Gradmesser für die Richtigkeit einer Aussage sein.

    Scheiße riecht gut. Millionen Hunde können sich nicht irren.


    Kohärenztheorie

    Vielfach vertreten wird auch die Kohärenztheorie der Wahrheit (von lat. »cohaerentia« = Zusammenhang). Diese sagt aus, ein Satz sei wahr, wenn er sich widerspruchsfrei in ein System bereits vorhandener wahrer Sätze einordnen lasse. Die Kohärenztheorie vergleicht nur noch Sätze untereinander.

    Kritiker dieser Theorie wenden ein, dass hier die Wahrheit der Logik stillschweigend vorausgesetzt werde. Außerdem könne es nach dieser Theorie mehrere voneinander unabhängige, sich widersprechende Systeme von Wahrheiten geben.

    So ist zum Beispiel festgestellt worden, dass neben der euklidischen Geometrie weitere in sich widerspruchsfreie nichteuklidische Geometrien möglich sind.


    Pragmatischer Wahrheitsbegriff

    Ein weiterer heutzutage weitverbreiteter Wahrheitsbegriff ist der des Pragmatismus. Wahr sei, was sich im praktischen Leben, bei der Bewältigung praktischer Probleme bewähre. Für einige sehr strenge Pragmatiker gibt es einen anderen »objektiven« Maßstab für Wahrheit gar nicht.

    So fragte der amerikanische pragmatische Philosoph William James nach dem »cash-value« (engl. Barwert) einer Vorstellung. Überspitzt ausgedrückt:

    Um wie viel Dollar oder Euro wächst mein Vermögen, wenn ich an eine bestimmte Philosophie glaube?



    Der Sänger Heino, der wegen der Texte seiner Lieder oft angegriffen wurde, sagte sinngemäß: »Wenn du Zweifel daran hast, ob du das Richtige machst, schau auf dein Konto, was da los ist. Und auf meinem Konto war immer einiges los.«


    Kritiker dieser Wahrheitstheorie wenden ein, dass auch Verbrecher, Diebe, Mörder, wenn sie denn mit ihrem Vorgehen Erfolg haben, richtig liegen, Wahrheit vertreten.

    »Eine Vorstellung ist wahr, solange es für
    unser Leben nützlich ist, sie zu glauben!«
    William James


    Utilitaristischer Wahrheitsbegriff

    Weitgehend identisch mit dem pragmatischen Wahrheitsbegriff ist der utilitaristische Wahrheitsbegriff. Für den Utilitarismus (von lat. »utilis« = brauchbar, nützlich) ist Wahrheit gleich Nützlichkeit.

    Wahr ist, was nützt.


    Der englische Philosoph Jeremy Bentham (1748–1832), der Begründer des sozialen Utilitarismus, sagte, das Ziel menschlichen Strebens sei Glück und das individuelle Glücksstreben sei am ehesten erfolgreich in Übereinstimmung mit dem Glücksstreben der Mitmenschen. Wahr ist:

    Das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl.


    Kritiker dieser Wahrheitstheorie wenden ein, dass es vom Boden des Utilitarismus aus gerechtfertigt sei, einzelne Personen bei medizinischen Experimenten leiden und sterben zu lassen, wenn die Ergebnisse dieser Forschungen dann Tausenden von Menschen Schmerzen und frühen Tod ersparen würden.

    »Und so gewohnt, für andere zu leben,
    schien Mühe nur ihm Fröhlichkeit zu geben.«
    Johann Wolfgang von Goethe


    Wahrheit ganz unphilosophisch

    Es gibt auch Menschen, die machen Wahrheit davon abhängig, wer etwas Bestimmtes tut oder vertritt.

    Während der Nazi-Zeit gab es in Deutschland eine Kampagne für regelmäßiges Zähneputzen.


    Ist regelmäßiges Zähneputzen faschistisch?


    Während der Stalin-Zeit gab es in der Sowjetunion eine Kampagne gegen das Alkoholtrinken von Jugendlichen.


    Ist es stalinistisch, Jugendlichen vom Alkohol abzuraten?


    An diesen beiden sehr offensichtlichen Beispielen können Sie sehen, dass die Richtigkeit bestimmter Auffassungen oder Maßnahmen nicht davon abhängig gemacht werden kann, wer diese Auffassungen vertritt.

    Es gibt auch Menschen, die machen die Wahrheit davon abhängig, wo man etwas liest.

    Viele religiöse Menschen glauben, dass in ihrem heiligen Buch, zum Beispiel der Bibel oder dem Koran, die Wahrheit steht. Nun gibt es aber viele Bücher, die von vielen Menschen für heilig gehalten werden, in denen aber Verschiedenes steht.

    In der BILD-Zeitung stehen nur Lügen.


    In den seriösen Tageszeitungen stehen dagegen die Wahrheiten.

    So betrachtet sind Sie von der Aufgabe befreit, selbst zu denken, selbst nach der Wahrheit zu suchen. Sie brauchen nur zwei Zeitungen zu lesen, eine, wo die Lügen drinstehen, und eine, wo die Wahrheiten drinstehen.

    Was aber nun, wenn in beiden Zeitungen das Gleiche steht?

    Ganz so simpel scheint es also nicht zu sein.

    Es gibt auch Menschen, die machen die Wahrheit davon abhängig, wer ihnen etwas sagt.

  • »Der Pfarrer sagt die Wahrheit.«
  • »Der Mullah sagt die Wahrheit.«
  • »Meine Mutter sagt mir, was wahr ist.«
  • »Meine Frau sagt mir, was wahr ist.«
  • »Kleine Kinder und Besoffene sagen die Wahrheit.«


  • »In vinum veritas«, wussten schon die alten Römer.
    Im Wein liegt Wahrheit. (Und mit beidem stößt man an.)



    Skeptizismus und Dogmatismus

    Ein weiterer wichtiger Aspekt der Erkenntnistheorie ist, wie Menschen mit Erkenntnissen, wie sie mit dem, was sie für wahr halten, umgehen. Hier sind besonders zwei Grundrichtungen zu unterscheiden, die sowohl in reiner Form als auch in Mischformen auftreten: Dogmatismus und Skeptizismus.

    Dogmatismus

    Dogmatismus war in der Philosophie über lange Zeit hinweg einfach nur der Gegensatz zu Skeptizismus, das heißt, zur Auffassung, dass es eben keine unbezweifelbaren Auffassungen bzw. Aussagen gibt.

    Ein Dogma (von gr. »doxa« = Meinung) ist ein Glaubenssatz religiöser, philosophischer, politischer oder sonstiger Art, der ausdrücklich oder aber auch unbewusst als unbezweifelbare Wahrheit und Richtschnur gilt.

    »Das Dogma ist nichts anderes als ein
    ausdrückliches Verbot, zu denken.«
    Ludwig Feuerbach


    Für Kant war Dogmatismus eine Philosophie, in der das menschliche Erkenntnisvermögen nicht kritisch überprüft wurde, in der man ohne Zuhilfenahme der Erfahrung bzw. Empirie aus reinen Begriffen sicheres Wissen glaubte herleiten zu können. Rationalismus und Metaphysik sind für Kant dogmatisch.

    Dogmatisches Denken und Verhalten

    Dogmatismus heißt, bestimmte Auffassungen ohne jeden Zweifel für wahr zu halten. Die Vorstellung, diese Auffassungen könnten eventuell falsch sein, wird als absurd zurückgewiesen. Die Falschheit dieser Auffassung gilt als unvorstellbar. Die Behauptung, die Auffassungen seien falsch, wird als lächerlich, absurd, infam, schädlich, konterrevolutionär, gotteslästerlich etc. angesehen.

    »Nicht der liebt schon die Wahrheit,
    der sie anderen sagt.
    Nur der liebt die Wahrheit,
    der sie gegen sich selbst erträgt.«
    Hermann Oeser (1849–1912)
    Deutscher Pädagoge und Schriftsteller


    Ein Dogmatiker ist ein Mensch, der mit absoluter Sicherheit davon ausgeht, bezüglich eines bestimmten Sachverhalts die Wahrheit zu kennen. Der Dogmatiker ist der Überzeugung: »Ich habe recht. Das ist außerhalb jeden Zweifels. Und der Andersdenkende hat unrecht. Und wenn der Andersdenkende sich bemüht und guten Willen hat, dann kann er vielleicht die Wahrheit, die ich bereits besitze, begreifen.«

    »Ich mag unrecht haben und du magst
    recht haben; und wenn wir uns bemühen,
    dann können wir zusammen vielleicht
    der Wahrheit etwas näher kommen.«
    Karl Popper


    Mit dem Dogmatismus ist oft die Vorstellung verbunden, dass die Dogmen nicht beweisbar sind und auch nicht bewiesen werden müssten.

    Der Dogmatismus entzieht sich jeglicher Kritik und hält – was auch immer andere sagen, was auch immer an Entwicklungen ablaufen mögen – unbeirrbar an den vermeintlich richtigen Auffassungen fest.

    Häufig – aber keineswegs immer – sind sich Vertreter von dogmatisierten Auffassungen nicht darüber bewusst, Dogmatiker zu sein. Oft bestreiten sie dies mit aller Entschiedenheit.

    »Ein Beobachter kann nicht sehen,
    was er nicht sehen kann.
    Er kann auch nicht sehen,
    dass er nicht sehen kann,
    was er nicht sehen kann.«
    Niklas Luhmann (1927–1998)
    Bedeutender deutscher Soziologe


    Dogmatismus ist in erster Linie ein psychologischer Begriff. Er bezeichnet eine gewisse psychische Verfassung.


    Wer die Wahrheit, die der Dogmatiker zu haben glaubt – bzw. seine politische, religiöse, kulturelle etc. Gruppe –, nicht teilt, ist entweder dumm oder böse.

    Den Dummen hat man die Wahrheit einfach noch nicht gesagt oder sie sind nicht in der Lage, sie zu verstehen.


    Sie sind durch individuelle Beschränktheit oder ihre Lebensumstände daran gehindert.

    Die Bösen wollen die Wahrheit nicht verstehen, weil sie von niederen Motiven geleitet werden.


    Für politische Dogmatiker sind sie in der Regel Interessenvertreter feindlicher Klassen oder Völker, Rassen etc. oder sie sind nur an ihrem persönlichen Wohlergehen, Karriere etc. interessiert. Oder sie sind einfach nur verbockt, verbiestert. Früher in der DDR, im »Realen Sozialismus« hörte man auch:

    Sie haben dem ideologischen Druck des Klassenfeindes nicht standgehalten.

    Es gibt für den Dogmatiker Menschen, die unter einer spezifischen Form von Dummheit »leiden«. Diejenigen, die psychisch nicht ganz in Ordnung sind. Das fängt mit harmlosen Dingen an:

  • »Er vertritt eine andere Meinung aus Oppositionshobby.«
  • »Er gefällt sich in seiner Märtyrerrolle.«
  • »Er betreibt Selbstbefriedigung.«

  • In schwereren Fällen ist der Mensch geisteskrank und kommt in die Psychiatrie. Das ist in der früheren Sowjetunion tatsächlich passiert.

    »Fanatiker, Leute, die imstande sind,
    ihre Beschränktheit feierlich ernst
    zu nehmen, vertrage ich nicht.«
    Siegmund Freud (1856–1939)
    Österreichischer Psychoanalytiker


    Für religiöse Dogmatiker sind Andersdenkende oder Andersgläubige oft Instrumente des Teufels oder der Teufel selbst. Es gibt für religiöse Dogmatiker Menschen, die durch ihr Karma daran gehindert sind, die Wahrheit bzw. den richtigen Weg zu erkennen. Oder – eine besonders widerwärtige Auffassung – es gibt Menschen, die einfach nicht teilhaben an der göttlichen Gnade. Was auch immer sie tun, sie sind von vornherein für die ewige Verdammnis prädestiniert. So sahen es u. a. der bedeutende Kirchenlehrer und christliche Dogmatiker der Spätantike Augustinus von Hippo und der französisch-schweizerische Reformator Johannes Calvin (1509–1564).

    Kritiker der eigenen Auffassungen werden von Dogmatikern häufig einfach ignoriert. »Die werden es schon noch merken. Die weitere Entwicklung wird uns recht geben.«

    »Zur Abwehr der Zweifel wird die
    bewusste Einstellung fanatisch,
    denn Fanatismus ist nichts anderes
    als überkompensierter Zweifel.«
    Carl Gustav Jung (1875–1961)
    Schweizer Psychologe


    Wenn Dogmatiker mit Andersdenkenden diskutieren, dann um denen die richtigen Auffassungen zu vermitteln, nicht um selbst dabei zu lernen. Denn alles Wichtige hat man ja bereits richtig erkannt. Die Lernfähigkeit und Lernbereitschaft ist bei Dogmatikern extrem herabgesetzt. Lediglich auf Basis der Wahrheiten, die man bereits zu besitzen glaubt, lernt man noch dazu. Bestenfalls quälend langsam trennt man sich von lieb gewordenen, aber nicht mehr haltbaren Auffassungen, aber nicht ohne vorher noch die Kritiker dieser Auffassungen im Rahmen seiner Möglichkeiten (zumindest verbal) fertiggemacht zu haben.

    Dass Tausende von anderen Gruppen und Grüppchen ebenfalls glauben, die alleinige Wahrheit zu besitzen, ist dem Dogmatiker entweder gar nicht bekannt, oder er weiß es zwar, glaubt aber, dass die eigene Gruppe eben die Wahrheit hat und die anderen Gruppen nicht.


    Eine vielfach anzutreffende Vorgehensweise von Dogmatikern ist, von ihnen oder ihren Vorgängern gemachte Aussagen neu zu interpretieren, wenn sie allzu sehr der Logik, der Plausibilität, den Tatsachen bzw. den Entwicklungen (zum Beispiel der Gesellschaft, der Wissenschaften usw.) entgegenstehen. Das kann dazu führen, dass sie sich in noch größere Widersprüche verstricken, die Behauptungen noch absurder werden, nur noch im Rahmen der Verteidigung der Aussagen nachvollziehbar sind bzw. einen Sinn ergeben. Das kann aber auch dazu führen, dass am Ende nur noch Wörter oder Sätze »gerettet« werden, aber nicht die Inhalte, die ursprünglich mal mit diesen Wörtern und Sätzen verbunden waren. Man gibt seine Auffassungen faktisch auf, ohne sich dessen bewusst zu sein, ohne sich das eingestehen zu wollen.

    Lenin versuchte den Materialismus dadurch zu retten, indem er alles (mit Ausnahme des menschlichen Bewusstseins) Materie nannte. Den Glauben an Gott versuchen einige dadurch zu retten, dass sie das Sein als Ganzes mit Gott gleichsetzen. Das heißt, die einen nennen das Ganze Materie, die anderen nennen das Ganze Gott. Auf diese Weise rettet man zwar die Wörter Materie oder Gott, aber nicht die damit ursprünglich verbundenen Auffassungen.



    Da die in einigen Religionen behauptete Allmächtigkeit, Allwissenheit und gleichzeitige Allgüte Gottes mit dem Zustand und der Funktionsweise der Welt offensichtlich nicht vereinbar ist, versuchen einige Menschen diese Behauptungen dadurch zu retten, dass sie die Begriffe Allmächtigkeit, Allwissenheit und Allgüte neu bestimmen. Dadurch, dass diese Wörter eine neue Bedeutung bekommen, retten sie aber eben nur diese Wörter, nicht die ursprünglichen Glaubensinhalte.


    Fanatismus

    »Geistlose kann man nicht begeistern,
    aber fanatisieren kann man sie.«
    Marie von Ebner-Eschenbach (1830–1916)
    Österreichische Erzählerin


    Eine besonders gefährliche Form des Dogmatismus ist der Fanatismus (von lat. »fanaticus« = begeistert, rasend). Zum Dogmatismus tritt hier ein unduldsamer, kompromissloser blinder Eifer hinzu.

    »Bedenkt, dass Fanatiker
    gefährlicher sind als Schurken.
    Einen Besessenen kann man
    niemals zur Vernunft bringen,
    einen Schurken wohl.«
    Voltaire (1694–1778)
    Französischer Philosoph


    Dummheit

    In der Philosophie wird der Mensch meist als ein vernunftbegabtes Wesen angesehen – zum Teil ja sogar die Welt als Produkt einer Weltvernunft –, aber der Mensch ist ja nicht immer vernünftig. Der Mensch ist in einem beträchtlichen Maße ein dummes Wesen.

    »Dummheit ist ansteckend,
    Verstand wächst sich kaum zur Epidemie aus.«
    Kazimierz Bartoszewicz (1852–1930)
    Polnischer Satiriker


    Große Teile der Bevölkerung scheinen weder fähig noch bereit zu sein, ein umfangreiches Wissen zu erwerben, rational zu denken und vernünftig abzuwägen. Dadurch, dass Sie diese Einführung lesen, gehören Sie schon zu einer Minderheit. Zur Minderheit derer, die es für notwendig oder wünschenswert halten, sich Grundkenntnisse in der Philosophie zu verschaffen.

    »Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn!
    Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen.«
    Friedrich von Schiller


    Dummheit ist eine Krankheit, die nicht dem wehtut, der von ihr betroffen ist. Sie tut seinen Mitmenschen weh.


    Das Erstaunliche ist aber, dass auch hochintelligente und hochgebildete Menschen bisweilen Auffassungen vertreten und Verhaltensweisen draufhaben, die erheblich weniger gebildete und intellektuell leistungsfähige Menschen oft als große Dummheiten erkennen können.

    Es gibt eine Dummheit, die ihre Ursachen nicht in mangelnder Bildung oder mangelnden intellektuellen Fähigkeiten hat, sondern in unbewussten psychischen Erkenntnisschranken. Ohne diese Form von Dummheit wären große Teile der Weltgeschichte, der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte überhaupt nicht erklärbar.



    Vor einigen Jahren verfolgte ich im Fernsehen ein Streitgespräch zwischen einer evangelischen Theologie-Professorin und einem anthroposophischen Mathematik-Professor über das Thema »Auferstehung oder Wiedergeburt«. Das lief darauf hinaus, dass diese beiden gebildeten und intelligenten Menschen sich gegenseitig ihren Glauben vortrugen. Aber keiner zog in Erwägung, dass er/sie sich täuschen kann und möglicherweise der Andere recht hat. Oder beide unrecht haben.



    »Nichts ist gefährlicher als
    die Dummheit der Gescheiten.«
    Erwin Chargaff (1905–2002)
    Österreichisch-amerikanischer Schriftsteller



    »Du bist nicht ganz dicht!« Den Satz hat wahrscheinlich jeder schon einmal gehört. Tatsächlich sind die Menschen ein Problem, die dicht sind. Die zu sind. In die nichts Neues mehr reingeht. Die nur noch ihren Glauben vortragen können, die unfähig sind, den eigenen Standpunkt noch kritisch zu hinterfragen.


    Absolutismus

    Eine häufige Bezeichnung für Dogmatismus ist Absolutismus (von lat. »absolutus« = losgelöst; unbedingt). Als philosophisch-erkenntnistheoretischer Begriff bezeichnet er die Auffassung, eine bestimmte Aussage sei unbezweifelbar wahr. Die Vorstellung, die Aussage könnte eventuell falsch sein, wird mit Sicherheit ausgeschlossen.

    Absolutismus kann aber auch eine von Dogmatismus leicht abweichende Bedeutung haben und als Gegensatz zum Relativismus verstanden werden.

    Ein gewisses Maß an Dogmatismus ist unvermeidlich. Das unmittelbare Erleben ist aus der Perspektive des Erlebenden nicht bezweifelbar. Aber häufig werden Auffassungen, die nicht außerhalb des Zweifels sind, verabsolutiert. Und dort wird es problematisch.


    »Es nennt ›Charakter‹ sich so mancher Narr,
    Der in der Blüte schon geworden starr;
    Von dem wird dann als ›Renegat‹ behandelt,
    Wer sich indessen hat zur Frucht gewandelt.«
    Otto von Leixner (1847–1907)
    Deutscher Schriftsteller


    Skeptizismus

    Skeptizismus (von gr. »skepsis« = Zweifel, Zurückhaltung, Untersuchung) bedeutet, dass man die Erkenntnis von letzten Wahrheiten prinzipiell für unmöglich hält. Dem Skeptizismus steht entgegen der Dogmatismus.

    »Skepsis ist der erste Schritt
    auf dem Weg zur Philosophie.«
    Denis Diderot (1713–1784)
    Französischer Schriftsteller und Aufklärer


    Skeptizismus entsteht aus Zweifel, das heißt aus der Unsicherheit eines Subjekts darüber, ob eine bestimmte Auffassung, Behauptung, Lebenseinstellung etc. oder auch ein bestimmtes Vorhaben richtig oder falsch ist. So allgemein betrachtet kann schon ein Tier Zweifel haben. (Zum Beispiel Flucht oder Angriff?) Konsequenter, vorbehaltloser Zweifel kann zum Skeptizismus führen.

    »Es ist ein Jammer,
    dass die Dummköpfe und Fanatiker
    immer so selbstsicher sind
    und die klugen Leute
    so voller Zweifel.«
    Bertrand Russell


    Es gibt in der Philosophie aber auch den »Methodischen Zweifel«. Es wird alles ausgeschaltet, was eventuell falsch sein könnte, um eine Philosophie auf eine absolut sichere, durch keinerlei Einwände mehr zu erschütternde Grundlage zu stellen. Dabei weiß man aber von vornherein, dass bestimmte Aussagen bleiben, die man für unbezweifelbar hält. So war es zum Beispiel bei Augustinus und Descartes.

    De omnibus dubitandum.

    Zu Deutsch: An allem ist zu zweifeln. Diesen Satz gab Marx, der mehrheitlich als Absolutist angesehen wird, als Motto seines Lebens an.

    Skeptizismus ist sowohl eine philosophische Strömung als auch eine Grundhaltung, die in verschiedenen Strömungen auftaucht.

    »Zweifel ist keine angenehme Voraussetzung,
    aber Gewissheit ist eine absurde.«
    Voltaire


    Es gibt ein Paradoxon des Skeptizismus bzw. Antidogmatismus: Wenn man ihn verabsolutiert, hat man ihn damit gleichzeitig aufgehoben. Dieses Paradoxon kann vermieden werden, wenn man auch gegenüber dem Skeptizismus skeptisch bleibt.

    »Immer wenn jemand versucht,
    Zweifel zu unterdrücken,
    ist es eine Tyrannei.«
    Simone Weil (1919–1943)
    Französische Philosophin


    So wie ein gewisses Maß an Dogmatismus unvermeidlich ist, so ist im Umkehrschluss ein Skeptizismus, der keine Aussage unbezweifelt lässt, ebenfalls unmöglich.

    Können Sie im Moment, wo Sie Schmerzen haben, bezweifeln, dass Sie Schmerzen haben?



    »Einzugestehen, dass man etwas
    nicht weiß, ist Wissen.«
    Konfuzius



    Skeptiker führen an, das beste Argument für den Skeptizismus sei die Tatsache, dass sich die Philosophen nach zweieinhalb Jahrtausenden Philosophierens nicht einmal in den Grundpositionen haben annähern können, sondern grundverschiedene sich gegenseitig ausschließende »Wahrheiten« »erkannt« haben (wollen).


    Antiker Skeptizismus

    Die Vielfalt der philosophischen Systeme in der Antike führte zur Entstehung des antiken Skeptizismus. Als Vorläufer dieser Richtung kann man die Sophisten ansehen.

    Timon von Phleios (ca. 320–230 v. Chr.) sagte, Sinne und Verstand seien Betrüger. Deshalb seien alle Erkenntnisse relativ. Wenn wir uns im praktischen Leben für etwas entscheiden müssen, so sollten wir es nach folgenden drei Richtpunkten tun:

  • Wo natürlicher Zwang ist, folgen wir diesem, aber mit dem Wissen, dass dies falsch sein kann.
  • Wir richten uns nach den Sitten und Gebräuchen der jeweiligen Gesellschaft, ebenfalls mit dem Wissen, dass dies falsch sein kann.
  • Wo auch die fehlen, folgen wir nur unserer Willkür. Aber auch dies kann falsch sein.

  • Die Erkenntnis von der Unerkennbarkeit alles Bestehenden und die daraus folgende Enthaltung von Urteilen sei die Voraussetzung für das praktische Ideal einer heiteren und unerschütterlichen Seelenruhe. Wenn wir uns für nichts begeistern, dann könne uns auch nichts enttäuschen.

    Die jüngere (antike) Skepsis stellte die Lehre von den »Tropen« auf: Ein Tropus ist ein Gesichtspunkt, der die Unerkennbarkeit der Wahrheit beweisen soll. Tropen sind zum Beispiel die Verschiedenheit der Menschen oder die Verschiedenheit der Erziehung, Sitte, Religion bzw. der philosophischen Überzeugung.

    Die Unerkennbarkeit der Wahrheit beweisen zu wollen, ist ein Paradoxon. Man beweist, dass man nichts beweisen kann.


    Der neuzeitliche Skeptizismus

    Als Begründer des neuzeitlichen Skeptizismus gilt der französische Philosoph Michel de Montaigne (1533–1592). Repräsentanten waren besonders die französischen und englischen Aufklärer (die weiter hinten noch genannt werden).

    »Derjenige, der sich mit Einsicht
    für beschränkt erklärt,
    ist der Vollkommenheit am nächsten.«
    Johann Wolfgang von Goethe


    Als eine Form des Skeptizismus in der Gegenwartsphilosophie kann man den Kritischen Rationalismus ansehen, mit seiner Theorie des Fallibilismus (von lat. »fallere« = täuschen, zu Fall bringen ), nach der es keine unfehlbare Erkenntnisinstanz gibt.

    »Wir sind alle nur vorläufig.
    Wir müssen unsere Auffassungen
    immer wieder revidieren.«
    Hans Albert (geb. 1921)
    Deutscher Philosoph


    Skeptizismus nicht gleich Unwissenheit

    Stellen sich folgenden Traum vor: Sie stehen vor einen Hof, der zehn mal zehn Meter groß ist. Auf der anderen Seite des Hofes, Ihnen gegenüber zehn Meter entfernt, steht mit großen Buchstaben das Wort WAHRHEIT. Sie betreten den Hof, machen einen großen Schritt, einen Meter weit, auf die gegenüberliegende Wand zu. Aber während Sie diesen Schritt gegangen sind, ist der Hof plötzlich zwölf mal zwölf Meter groß geworden. Anstatt der Aufschrift WAHRHEIT näher gekommen zu sein, hat sie sich von Ihnen entfernt. Sie ist jetzt elf Meter weit weg. Sie machen einen weiteren großen Schritt nach vorn, einen weiteren Meter. Aber während Sie diesen zweiten Schritt gegangen sind, ist der Hof wieder gewachsen. Er ist jetzt 14 mal 14 Meter groß. Nach dem nächsten Schritt ist der Hof 18 mal 18 Meter groß. Sie sind drei Meter gegangen und das Ziel WAHRHEIT ist fünf Meter weiter von Ihnen entfernt als am Beginn Ihres Weges. Mit jedem weiterem Schritt, den Sie machen, vergrößert sich der Hof exponentiell (2, 4, 8, 16, 32 etc.). Gerade weil Sie auf das Ziel zugehen, entfernt es sich immer weiter von Ihnen.


    »Sein und Wissen ist ein uferloses Meer:
    Je weiter wir vordringen, umso unermesslicher
    dehnt sich aus, was noch vor uns liegt;
    jeder Triumph des Wissens schließt hundert
    Bekenntnisse des Nichtwissens in sich.«
    Isaac Newton (1643–1727)
    Englischer Physiker und Philosoph


    Alle bewussten Wesen haben einen geistigen Horizont. Kinder, Katzen, Erwachsene etc. Kleine Kinder denken oft, dass Erwachsene alles wissen. Denn alle Fragen, die sie haben, kann Mama oder Papa, zur Not Opa, beantworten. Die Fragen, die Papa, Mama, Opa usw. nicht beantworten können, befinden sich außerhalb des geistigen Horizonts des Kleinkindes. (Es gibt auch die Kinder, die nach jeder Antwort wieder "Warum?" fragen, bis die Erwachsenen entnervt aufgeben.)

    Stellen Sie sich einen Kreis vor, innerhalb dessen sich alles befindet, was Sie wissen, einschließlich aller Fragen, die Sie haben. Das ist Ihr geistiger Horizont. Jedes Mal, wenn eine Frage beantwortet wird, entstehen mehrere neue Fragen. Ihr geistiger Horizont dehnt sich aus. Ihr Wissen wächst, aber gleichzeitig wächst auch Ihr Nichtwissen, und zwar exponentiell zum Wissen.


    »Wir leben alle unter demselben Himmel,
    aber wir haben nicht alle denselben Horizont.«
    Konrad Adenauer (1876–1967)
    Deutscher Bundeskanzler


    Und das, was Sie wissen, ändert mit dem weiteren Wachsen Ihres Wissens seinen Charakter. Viel für sicher gehaltenes Wissen wird zur Wahrscheinlichkeit, manches zur Möglichkeit, manches zum Zweifelhaften.

    »Eigentlich weiß man nur, wenn man wenig weiß.
    Mit dem Wissen wächst der Zweifel.«
    Johann Wolfgang von Goethe


    Wer sich mit Philosophie beschäftigt und kein Dogmatiker wird, der begibt sich auf eine Reise zu einem Ziel, das er nie erreichen wird. Wir sind nicht nur zur Freiheit verurteilt, wie Sartre sagte.

    Wir sind zum Wissen und zur Unwissenheit verurteilt.


    (Ein weiterer Widerspruch, ein weiteres Paradoxon unserer Existenz.)

    »Was ist zum Schluss der Mensch in der Natur?
    Ein Nichts vor dem Unendlichen,
    ein All gegenüber dem Nichts,
    eine Mitte zwischen Nichts und All.«
    Blaise Pascal



    Relativismus und Historismus

    Es gibt philosophische Positionen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit bzw. eine gewisse Nähe zum Skeptizismus haben, aber keineswegs immer mit diesem deckungsgleich sind.

    Relativismus

    Relativismus (von lat. »relatio« = Beziehung, »relativus« = bezogen auf, bedingt, verhältnismäßig) bezeichnet meistens die Auffassung, dass alles Existierende, Menschen, Dinge, Eigenschaften, Taten, Geschehnisse etc. erst durch ihre Beziehung zu anderem bestimmt werden, erst dadurch ihren Wert, ihre konkrete Bedeutung erhalten. Das geht soweit, dass einige Philosophen die Welt als ein Relationsgeflecht ansehen, indem die einzelnen Dinge oder Menschen keine wirkliche Existenz mehr haben, sondern nur noch die Relationen. Es gebe keine absolute situationsunabhängige Wahrheit. Der Relativismus wird auch im Kapitel Dialektik noch einmal angesprochen werden. Der Gegensatz zum Relativismus ist der Absolutismus.

    Ein Haar in der Suppe ist relativ viel.
    Ein Haar auf dem Kopf ist relativ wenig.


    Der Begriff Relativismus wird aber auch des Öfteren im Sinne von Skeptizismus verwendet. Dann ist der Gegensatz zu ihm der Dogmatismus.

    Historismus

    Historismus (von lat. »historia« = Geschichte) bedeutet, alle Erscheinungen unter dem Gesichtspunkt ihrer historischen, geschichtlichen Entwicklung zu betrachten und zu erklären. Auch alle Erkenntnis sei historisch bedingt und im Fluss.

    »Die Relativität jeder Art von
    menschlicher Auffassung ist das letzte Wort
    der historischen Weltanschauung,
    alles im Prozess fließend, nichts bleibend.«
    Wilhelm Dilthey (1833–1911)
    Deutscher Philosoph


    Viele Erkenntnisse der Physik bis ins späte 19. Jahrhundert gelten heute als falsch bzw. als überholt. Und viele Erkenntnisse der heutigen Physik wären den Physikern früherer Jahrhunderte als offensichtlich absurd und falsch erschienen. Zum Beispiel die Relativität von Raum, Zeit und Bewegung.



    Sprachkritik

    Ein ganz zentraler Punkt der Philosophie des 20. Jahrhunderts ist der »linguistic turn«, die Wende zur Sprachphilosophie. Diese wichtige philosophische Strömung wird weiter hinten im Zusammenhang mit der Analytischen Philosophie noch genauer vorgestellt.

    Ein bedeutender Vertreter der Sprachphilosophie ist Wittgenstein. Er sagt:

    Wir können nur so viel erkennen, wie unsere Sprache zulässt.

    Gedanken machen wir uns mit Wörtern und Sätzen. Ausdrücken und mitteilen tun wir sie mit Wörtern und Sätzen. Was mit Wörtern nicht ausdrückbar ist, kann nicht erkannt werden, so die Sprachphilosophie.

    Am Schluss seines berühmten Buches Tractatus logico-philosophicus schreibt Wittgenstein: »Wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, [sind] unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt [...] Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.«

    Andere Philosophen wenden ein, dass es auch »nichtverbale Erkenntnisse« geben kann, Erkenntnisse, die nicht in Wörter gefasst werden können. Tiere »denken« auf ihrer geistigen Ebene wahrscheinlich in Bildern.

    Wir haben und differenzieren in unserem Bewusstsein Eindrücke bzw. Erinnerungen gustatorischer (durch den Geschmacksinn), auditiver (durch den Hörsinn), visueller (durch den Gesichtssinn), olfaktorischer (durch den Riechsinn) und taktiler (durch den Tastsinn) Art. Wenn wir nun diese verschiedenen nonverbalen Eindrücke bzw. Erinnerungen nach einander im Bewusstsein Revue passieren lassen, vergleichen, bewerten, in Relation zu einander setzen etc., dann ist das eine Art nonverbaler Erkenntnis. Es ist also nicht so, dass ohne Sprache überhaupt keine Erkenntnis möglich ist. (Einige Sprachphilosophen behaupten sogar, ohne Sprache sei gar keine Existenz möglich.) Man könnte aber die Position vertreten, die sprachliche Erkenntnis ist umfangreicher und qualitativ höher.


    Verifikation und Falsifikation

    Wenn man eine bestimmte Wahrheit oder Theorie zu haben meint, gibt es zwei verschiedene Verfahren, diese zu überprüfen.

    Verifikation

    (Von lat. »verus« = wahr und »facere« = machen) Verifikation heißt etwas zu beweisen. Verifikation ist ein wichtiger Begriff in der Erkenntnistheorie des Neopositivismus, einer bedeutenden philosophischen Strömung, die weiter hinten noch näher besprochen wird.

    Eine Aussage sei nur dann sinnvoll, wenn sie anhand der Erfahrung als richtig oder falsch erwiesen werden könne. Sinnlos sei ein Satz, wenn er Wörter enthalte, deren Bedeutung nicht geklärt werden könnten, z. B. »Weltseele«, »Gott« oder, »babig«, ein Kunstwort, mit dem der führende Neo-Positivist Rudolf Carnap (1891–1970) aufzeigen wollte, wie man mit völlig sinnleeren Wörtern formulieren könne. Eine Verifikation müsse intersubjektiv sein. Metaphysische Sätze, da nicht verifizierbar, seien weder wahr noch falsch, sondern sinnlos.

    Die Verifikationsmethode wird besonders von Dogmatikern benutzt, was aber nicht bedeutet, dass jeder, der diese Methode benutzt, ein Dogmatiker ist.

    Die gesellschaftliche Entwicklung der letzten 150 Jahre ist eine andere gewesen, als Marx und Engels vorausgesagt haben. Das hat viele Marxisten nicht daran gehindert, den Verlauf der Geschichte und die Texte von Marx und Engels so zu interpretieren, dass sie zusammenpassten.


    »Wer nichts weiß, ist nicht so beschränkt wie der,
    welcher eingeschlossen in ein Gedankenkorsett,
    keine Erfahrungen mehr macht.«
    Ludwig Marcuse


    Falsifikation

    (Von lat. »falsus« = falsch und »facere« = machen) Widerlegung. Zentraler Begriff der Erkenntnistheorie des Kritischen Rationalismus, einer bedeutenden philosophischen Strömung, die weiter hinten im Zusammenhang mit der Darstellung ihres wichtigsten Vertreters, Karl Popper, noch näher erläutert wird.

    Im Gegensatz zu den Neo-Positivisten fordert Popper dazu auf, Theorien nicht zu verifizieren, sondern zu falsifizieren. Wenn wir eine Theorie beweisen wollen, dann würden wir das erkennen, was diese Theorie stütze, was ihr widerspreche, würden wir ausblenden. Dies führe im Extremfall zum Dogmatismus. Deshalb sollten wir versuchen, unsere Theorien zu widerlegen. Fehlersuche wird zum Prinzip erhoben. Wenn wir eine Theorie widerlegt hätten, verwerfen oder veränderten wir sie. Damit würden wir zwar nie endgültige Wahrheiten erreichen – denn wir würden auch neue bzw. modifizierte Theorien zu widerlegen suchen – aber wir würden uns der Wahrheit annähern. (Ähnliche Auffassungen findet man bereits bei Francis Bacon, Pascal und Hume.)

    »Die Basis jeder gesunden Ordnung
    ist ein großer Papierkorb.«
    Kurt Tucholsky (1890–1935)
    Deutscher Schriftsteller


    Die Falsifikationsmethode wird besonders von Skeptizisten benutzt, was nicht bedeutet, dass jeder, der diese Methode benutzt, ein Skeptizist ist.

    Popper, der die Falsifikationsmethode popularisiert hat, war anfänglich Marxist. Aber im Gegensatz zu anderen Marxisten hat er in der geschichtlichen Entwicklung die Ereignisse wahrgenommen, die dem Marxismus widersprachen.


    »Das sind die Weisen,
    die durch Irrtum zur Wahrheit reisen.
    Die bei dem Irrtum verharren,
    das sind die Narren.«
    Friedrich Rückert



    Es gibt ein Paradoxon der Falsifikation: Sie kommt ohne Verifikation nicht aus. Die Falsifikation muss verifiziert werden.



    Evolutionäre Erkenntnistheorie

    Eine im 20. Jahrhundert besonders einflussreiche Erkenntnistheorie war die Evolutionäre Erkenntnistheorie.

    Diese beruht auf der von dem englischen Biologen Charles Darwin (1809–1882) begründeten Evolutionstheorie. Unser Körper und damit auch unsere Sinnesorgane, unser Nervensystem und unser Gehirn hätten sich aus einfachsten Anfängen zu immer komplexeren Apparaten entwickelt und zwar immer in Bezug auf die Umwelt. Die Vernunft sei im Verlauf der Evolution aus Problemsituationen hervorgegangen, die die (höheren) Tiere zu bewältigen hatten. Unser Gehirn und unsere Sinnesorgane hätten sich entwickelt, um uns das Überleben zu ermöglichen, nicht um objektive Wahrheiten zu erkennen. Für ein das Überleben ermöglichendes Handeln sei aber keine hundertprozentige Übereinstimmung zwischen der objektiven Welt und unserem Bild von dieser Welt nötig. Eine gewisse Nähe zu bestimmten Aspekten dieser objektiven Welt – die für unser Handeln, für unser Überleben von Interesse sind – reiche.

    Die Grundaussage der Evolutionären Erkenntnistheorie: Die Welt, in der wir uns erleben, ist nur ein Bild, das wir uns von der objektiven Welt machen. Die objektive Welt und unser subjektives bzw. inter-subjektives Bild von dieser objektiven Welt seien zwei verschiedene Dinge. Wären diese beiden Welten aber völlig konträr, könnten wir in der objektiven Welt nicht überleben.


    Kategorien wie Zeit, Raum und Kausalität seien angeboren. Nicht das einzelne Individuum habe sie durch Erfahrung erworben, aber unsere tierischen und menschlichen Vorfahren haben sie durch Erfahrung über viele Generationen hinweg erworben. Diese Erfahrungen hätten sich niedergeschlagen in der Arbeitsweise unseres Gehirns.

    Bedeutende Vertreter der Evolutionären Erkenntnistheorie

    Konrad Lorenz

    (1903–1989). Österreichischer Verhaltensforscher und Schriftsteller, dessen Arbeiten von philosophischer Bedeutung sind und bahnbrechend für die Evolutionäre Erkenntnistheorie waren. Er war Mitbegründer der Ethologie, der Wissenschaft vom instinktiven Verhalten der Tiere. Lorenz sah in der Natur ein »Intelligenzanaloges Verhalten«. Er ging weder von der totalen Unerforschbarkeit der realen Welt aus, noch davon, dass unsere Erkenntnisse absolute Wahrheiten seien.

    »Unsere Arbeitshypothese lautet also: Alles ist Arbeitshypothese.« Konrad Lorenz

    Hoimar von Ditfurth

    (1921–1989) Deutscher Professor für Psychiatrie und Neurologie. Er ist besonders als Wissenschaftsjournalist, TV-Moderator und Sachbuchautor über naturwissenschaftliche Themen bedeutend.

    »Die Frage danach, wie getreulich das im Gehirn rekonstruierte Bild der Welt eigentlich der objektiven, außerhalb von uns existierenden realen Welt entspricht, ist das zentrale Thema aller Erkenntnisforschung.« Hoimar von Ditfurth

    Rupert Riedl

    (1925–2005). Österreichischer Zoologe, Evolutionsforscher, Erkenntnis- und Wissenschaftstheoretiker. Ein entschiedener Kritiker des Kausalitätsdenkens.

    Egon Brunswik

    (1903–1955). Österreichischer Biologe. Beschäftigte sich mit dem Gehirn und der Erkenntnistheorie.

    Karl Popper

    Ein weiterer bedeutender Vertreter der Evolutionären Erkenntnistheorie ist Karl Popper, auf den in einem gesonderten Abschnitt näher eingegangen wird.

    Ratiomorpher Apparat

    Das im Verlaufe der Evolution entstandene menschliche Gehirn nennt Egon Brunswik »ratiomorphen Apparat« (von lat. »ratio« = Verstand und gr. »morphe« = Gestalt, Form), was so viel heißt wie »nur der Form nach rational«. Nach Rupert Riedl bildet dieses Gehirn unter anderem folgende Hypothesen: Wir vermuten:

    • Bei gleichen Gegenständen gleiche Eigenschaften – Vergleichshypothese (oder auch Analogieschluss).
    • Ordnungsmuster in der Welt – Dependenzhypothese.
    • Wiederkehr von Strukturen – Normenhypothese.
    • Konstanz in der Kombination gewisser Merkmale – Interdependenzhypothese.
    • Dass jedes Ding an seinem Ort ist – Hierarchie-/Orthypothese.
    • Eine zeitliche Konstanz hat – Tradierungs-/Zeithypothese.
    • Analog zu menschlichen Zwecken objektiv-allgemeine Zwecke – Zweckhypothese.
    • Dass alles eine Ursache hat – Kausalitätshypothese.
    • Dass bei bekannter Ursache eine bekannte Folge eintritt – Exekutivhypothese.


    Was wir im Alltagsleben Wissen, Erkenntnis, Wahrheit nennen, bestehe aus den eben aufgezählten Hypothesen. Auch für einen Großteil der wissenschaftlichen Erkenntnisse treffe dies zu. Als Grundlage des praktischen Lebens und als Grundlage großer Teile der Wissenschaften – aber nicht aller Bereiche! – benötigten wir diese Hypothesen. Aber inwieweit diese Hypothesen etwas über die von uns unabhängige Welt aussagen, wie weit die Übereinstimmung dieser Hypothesen mit der objektiven Realität geht, das ist eine offene Frage.


    Eine Grundaussage der Evolutionären Erkenntnistheorie:

    Vom menschlichen Vorstellungs- und Denkvermögen dürfe man nicht auf das Sein schließen.



    Viele Ergebnisse der modernen Physik stehen konträr zum gesunden Menschenverstand.



    Überwucherung des Mittels über den Zweck

    Im Verlaufe der Evolution des Erkenntnisapparates kommt es dazu, dass Fähigkeiten entstehen, die zum Überleben nicht notwendig sind.

    Der deutsche Philosoph Hans Vaihinger (1852–1933) entdeckte das »allgemeine Gesetz der Überwucherung des Mittels über den Zweck«. Das menschliche Gehirn – ursprünglich nur ein Organ, das uns das Überleben ermöglichen sollte – entwickelte sich so weit, dass es zu höherer Mathematik fähig wurde, etwas, das wir zum Überleben nicht benötigen.

    Der deutsche Philosoph und Psychologe Wilhelm Wundt (1832–1920) nannte diesen Prozess »Heterogonie« (von gr. »hetero« = verschieden und »gignomai« = entstehen). Im Verlaufe der Evolution entstünden andere Wirkungen als die ursprünglich »beabsichtigten«.


    Vergleich Tier – Mensch

    Interessante Hypothesen über die menschliche Erkenntnisfähigkeit können vor dem Hintergrund der Evolutionstheorie aufgestellt werden, wenn man sich das Erkenntnisvermögen von Tieren ansieht.

    William James schrieb in diesem Zusammenhang:

    Ich selbst lehne entschieden den Glauben ab, dass unsere menschliche Erfahrung die höchste Form der Erfahrung, die es im Weltall gibt, sein soll. Eher glaube ich, dass wir zum Ganzen der Welt in fast derselben Beziehung stehen wie unsere Lieblingshunde und -katzen zum Ganzen des menschlichen Lebens. Sie bevölkern unsere Wohnzimmer und Bibliotheken. Sie nehmen teil an Szenen, von deren Bedeutung sie keine Ahnung haben. Sie treten in bloß vorübergehende, tangentenhafte Berührung mit dem gewundenen Lauf der Geschichte ... Ähnlich kommen wir mit dem umfassenderen Leben der Dinge nur tangential in Berührung ...

    Hoimar von Ditfurth sprach von »subhumanen Weltbildern«. Je nach Entwicklungshöhe von Gehirn, Nervensystem und Sinnesorganen hätten die Tiere einen unterschiedlich großen Einblick in die Welt. Wir Menschen als das in dieser Hinsicht höchstentwickelte Lebewesen auf diesem Planeten hätten zwar einen unvergleichlich größeren Einblick in die Welt als die Tiere, aber auch unser Einblick sei beschränkt.

    Woher fragt er, sollten wir im Anbetracht einer über Milliarden Jahre ablaufenden Evolution des Lebens, einer seit zig Millionen Jahren ablaufenden Evolution von Gehirnen, die Sicherheit hernehmen, ausgerechnet zu unseren Lebzeiten und verkörpert durch uns habe das Erkenntnisvermögen seinen höchstmöglichen Stand erreicht? Woher sollten wir die Gewissheit nehmen, wir hätten uns alle qualitativen Seinsschichten erschlossen, so dass es in Zukunft nur noch quantitativen Wissenszuwachs geben kann? Er schreibt:

    Wir sind, um es einmal so zu formulieren, eigentlich nur die Neandertaler von morgen.

    Man könnte noch weitergehen und sagen: Wir sind eventuell nur die Affen von morgen. Nicht in dem Sinne, dass unsere Nachfahren einst so sein werden wie heute die Affen, sondern in dem Sinne, dass unsere Nachfahren einst so weit über uns stehen werden, wie wir heute über den Affen stehen. Wenn die bisherige Evolution des Lebens nicht nur zur Entstehung immer neuer Arten, sondern auch zur Entstehung immer höherer Arten geführt hat, warum sollte dies in der Zukunft nicht auch so sein? Wieso sollte der Mensch und das menschliche Erkenntnisvermögen das Höchste sein, was die Evolution hervorbringen kann?

    Wie plausibel ist es vor dem Hintergrund der Evolutionstheorie, den Menschen als »Krone der Evolution« anzusehen?


    Im Christentum ist der Mensch die »Krone der Schöpfung«. Aber aus biologischer Sicht, aus Sicht der Evolutionstheorie sind wir nicht die »Krone der Evolution«. Da es in der Vergangenheit eine Evolution des Lebens und damit auch eine Entwicklung zu immer höheren Arten gegeben hat, ist es durchaus plausibel, anzunehmen, dass es auch in Zukunft eine Evolution des Lebens und eine Entwicklung zu immer höheren Formen geben wird. Ob es tatsächlich so kommt, das werden wir allerdings nie erfahren, da ein Menschenleben dafür zu kurz ist.

    Der bedeutende englische Physiker Stephen Hawking (geb. 1942) geht davon aus, dass, wenn wir uns keine totalitäre Weltordnung schaffen, irgendwann irgendwer irgendwo gentechnisch optimierte Menschen schaffen wird und dass am Ende dieses Jahrtausends, vorausgesetzt die Menschheit gelang dorthin, die Unterschiede zu heute fundamental sein werden. In den Kapiteln über Dialektik und Gott werde ich auf diesen Gedanken aus anderen Blickwinkeln noch zurückkommen.

    »Wir sind nur eine fortgeschrittene Art von Affen auf einem kleinen Planeten eines durchschnittlichen Sterns. Aber wir können das Universum verstehen. Das macht uns zu etwas ganz Besonderem.« Stephen Hawking

    Auch die Entwicklung künstlicher Intelligenz, Computer, die wie unser Gehirn neuronale Netze sind, ihre Weiterentwicklung zu eigenständigen Subjekten und/oder ihre unmittelbare Verbindung mit dem Menschen ist von kaum überschätzbarer philosophischer Bedeutung. Es könnten eventuell Erkenntnismöglichkeiten entstehen, die eine völlig neue, für uns Menschen nicht begreifbare Qualität haben. Es könnten Entwicklungen ablaufen, die über die menschliche Gattung hinausweisen auf höhere biotische Arten, wie aber auch auf eine nachbiotische Evolution.


    Die buddhistische Lehre von den zwei Wahrheiten

    Der Buddhismus ist eine in Indien entstandene teils religiöse, teils philosophische Weltanschauung. So wie es in Europa viele christliche Philosophen gab, so gab es in Asien viele buddhistische Philosophen.

    Unter den buddhistischen Erkenntnistheorien gibt es eine, die ich für besonders erwähnenswert halte: die Lehre von den zwei Wahrheiten.

    In dieser Lehre wird zwischen einer niederen und einer höheren Wahrheit unterschieden. Eine Behauptung kann aus Sicht des gemeinen Verstandes als wahr erscheinen, aus einem höheren Blickwinkel aber als falsch (A = gemeine Wahrheit, B = höhere Wahrheit). Das Gegensatzpaar AB kann aus einem höheren Blickwinkel aber auch wieder falsch sein, eine falsche Alternative (AB = gemeine Wahrheit, C = höhere Wahrheit). ABC kann nun wiederum auch nur eine gemeine Wahrheit sein usw. usf. So ergibt sich die Möglichkeit eines stufenweisen Aufstiegs zu immer höherer, umfassenderer Wahrheit. Dazu folgendes Beispiel:

    A »Jeden Morgen geht die Sonne auf und abends geht sie unter.« (Aussage A. Gemeine Wahrheit. Empirische Wahrheit. Grundlage praktischen Handelns. An der Richtigkeit dieser Aussage zu zweifeln, ist für viele Menschen einfach nur »dummes Zeug«. – Diese Leute würden allerdings Probleme bekommen, sollte es sie mal nach Nordskandinavien verschlagen. (Sehen Sie hierzu noch einmal die Lösung 3.)

    B »Die Sonne geht weder auf noch unter. Wir leben auf einer Kugel, die sich um ihre eigene Achse dreht. Deshalb erscheint es uns so, als ob die Sonne auf- und untergehe. In Wirklichkeit bewegt sich die Erde.« (Aussage B. Höhere Wahrheit. Rationale, naturwissenschaftliche Wahrheit.)

    C »Es gibt keine absolute Bewegung. Wir haben kein absolutes Bezugssystem, an dem wir eine solche messen könnten. Seit Aristoteles ging man davon aus, mit dem Äther (gr. = »Himmelsluft«) ein solches Bezugssystem zu haben. Einstein verwarf dessen Existenz. Die heutige Physik geht davon aus, dass alle Bewegung relativ ist. Ob sich etwas bewegt oder nicht, ist immer eine Frage der Betrachtung bzw. der Interpretation.« (Aussage C. AB erweist sich als falsche Alternative. Abstraktes Denken, Leibniz, Relativitätstheorie.)

    D »Es gibt überhaupt keine Bewegung. Unsere Sinne spiegeln uns nur eine solche vor. Bewegung ist subjektiver Schein. In Wirklichkeit gibt es nur unveränderliches, statisches Sein.« (Platon und sein »Vorgänger«, der griechische Philosoph Parmenides – ca. 540–475 v. Chr.) (Aussage D. Die Alternative AB oder C ist eine falsche. Beginn des philosophischen Denkens.)

    E »In dem Moment, wo ich Bewegung erlebe, gibt es Bewegung. Mindestens in meinen Erlebnissen. Und da meine Erlebnisse ein Teil des Seins sind, gibt es Bewegung im Sein.« (Aussage E. Die Alternative AB-C oder D erweist sich wieder als falsche.) »Die Frage ist nicht, ob es Bewegung gibt, sondern, ob es unbewegliche Teile des Seins gibt. Gibt es einen unbeweglichen Kern des Seins? Zum Beispiel die Sphäre der platonischen Ideen? Was versteht man überhaupt unter Sein? Was versteht man unter Schein? Was versteht man unter Bewegung?« (Fortschreitendes philosophisches Erkennen.)

    Wenn Sie das nächste Mal in einem Zug sitzen, dann achten Sie einmal auf Folgendes: Wenn der Zug nach dem Halt an einem Bahnhof langsam anfährt, dann können Sie beim Hinaussehen den Eindruck bekommen, dass sich der Bahnsteig bewegt, nicht der Zug. (Mir geht es jedenfalls so.) Die geringe Beschleunigung spüren Sie nicht. Es ist im praktischen Leben aber sinnvoll, davon auszugehen, dass sich der Zug bewegt und nicht der Bahnsteig. Auf der Erde ist die Erde der Bezugspunkt für Bewegung. Die Bewegung der Erde um ihre eigene Achse, die Bewegung der Erde um die Sonne, die Bewegung unseres Sonnensystems um das Zentrum unserer Milchstraße usw. usf. spüren wir nicht. Sehr beängstigend wirkt es dagegen auf die meisten Menschen, wenn sich bei einem Erdbeben der scheinbar so sichere Bezugspunkt für Bewegung selbst plötzlich bewegt und manchmal so stark, dass die Häuser einstürzen.



    Subjektivistische Auffassungen

    Die meisten der bisher vorgestellten Positionen zu Erkenntnis und Wahrheit haben bei all ihrer Verschiedenheit etwas gemeinsam: Sie gehen davon aus, dass es eine von dem nach Erkenntnis strebenden Subjekt unabhängig existierende Wahrheit gibt, oder aber sie halten dies zumindest für möglich. Lediglich der Weg zu diesen Wahrheiten und die Frage, wie sicher das Wissen ist, unterscheidet sie.

    Einen völlig konträren Standpunkt dazu nehmen die philosophischen Positionen ein, die eine vom Subjekt unabhängig existierende objektive Welt gänzlich verneinen. Dazu gehören in der Regel die Vertreter des weiter vorn vorgestellten Subjektiven Idealismus. Erkenntnis sei nicht nur in einem beträchtlichen Maße von den Erkenntnisfähigkeiten und Erkenntniswerkzeugen des erkennenden Subjekts abhängig, wie zum Beispiel bei Kant und in den modernen Naturwissenschaften, sondern Erkenntnis sei ein ausschließlich subjektiver Vorgang. Das Streben des Subjekts nach objektiver Wahrheit sei von vornherein aussichtslos und unnütz, weil es eine vom Subjekt unabhängige Welt nicht gebe, alles subjektiv sei. Somit sei auch jede Wahrheit subjektiv.

    »Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners.«
    Heinz von Förster


    Auch die Vertreter gewisser Spielarten des Pragmatismus und des Utilitarismus – keineswegs alle Vertreter dieser Richtungen – sehen das so. Wahrheit sei, was sich im praktischen Leben bewähre, Wahrheit sei, was nützlich sei. Einen anderen »objektiven« Maßstab für Wahrheit gebe es überhaupt nicht.


    Wertfreie Erkenntnisse?

    Ein bedeutender Streitpunkt innerhalb der Philosophie des 20. Jahrhunderts war, ob es wertfreie Erkenntnis geben kann oder ob Erkenntnisse immer interessengebunden sind.

    Max Webers Wertfreiheitspostulat

    Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es in Philosophie und Gesellschaftswissenschaft üblich, nicht nur eine Beschreibung und Erklärung von sozialen Ereignissen vorzunehmen, sondern auch etwas über deren Wünschbarkeit auszusagen. Seins- und Sollensfragen wurden nur selten getrennt. Der bedeutende deutsche Soziologe und Philosoph Max Weber (1864–1920) sagte zu Wissenschaft und Werten:

    1. Wissenschaftliche Beschreibung und Erklärung ist wertend in dem Sinne, dass aus unendlich vielen möglichen Fragen bestimmte ausgesucht werden. (Wertender Charakter des Entdeckungszusammenhangs.)
    2. Die Beschreibung und Erklärung der ausgesuchten Forschungsgegenstände soll dann aber objektiv sein, darf von subjektiven Werthaltungen nicht beeinflusst, verzerrt, verfälscht werden. Sie muss von anderen Menschen mit gleicher Bildung nachvollziehbar sein. (Wertfreiheit des Begründungszusammenhangs.)
    3. Die Ergebnisse der Forschungen werden zur Erreichung von Zielen verwertet, aber die Ergebnisse der Forschungen sagen nichts darüber aus, wie sie verwertet werden sollten. (Wertender Charakter des Verwertungszusammenhangs.)
    4. Wertungen können selbst Gegenstände wissenschaftlicher Forschungen sein.


    Aus Seins-Aussagen folgen keine Sollens-Aussagen.


    Der Positivismusstreit

    Der Streit um die Wertfreiheit wurde in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Form des Positivismusstreits neu aufgelegt. Dies war eine Kontroverse zwischen den Vertretern der Frankfurter Schule und den Vertretern des Kritischen Rationalismus. (Die Frankfurter Schule wird im 14. Kapitel näher beschrieben, der Kritische Rationalismus im Zusammenhang mit seinem Hauptvertreter Karl Popper im 15. Kapitel.)

    Nach den kritischen Rationalisten Popper und Albert dürfen bei der Wahrnehmung und bei der kritischen Prüfung Wertvorstellungen des Wissenschaftlers keine Rolle spielen, durchaus aber bei der Beurteilung von Fakten und bei Zielvorstellungen. Wissenschaftler dürfen Wertvorstellungen und Interessen haben. Aber diese dürfen nicht zu Erkenntnisschranken werden bzw. sie dürfen nicht erkenntnisleitend sein in dem Sinne, dass die Wünschbarkeit einer Sache mit ihrer Realisierbarkeit gleichgesetzt wird.

    Wenn bei der Beschreibung der Lebenslage aller Menschen dieses Planeten jede Menge Not und Elend konstatiert wird, subjektiv empfundener Leidensdruck – nicht etwa, dass die Menschen nicht so sind, wie man es gerne hätte –, dann ergibt sich aus einer solchen Beschreibung niemals die Forderung nach einer gerechteren, sozialeren oder sozialistischen Weltordnung. Eine solche Forderung ergibt sich aus den Wertvorstellungen eines Menschen. Werte sind aber logisch nicht begründbar. Wenn es meinen Wertvorstellungen entspricht, die kapitalistische Gesellschaft durch eine sozialistische zu ersetzen, dann ergibt sich daraus nicht die Erkenntnis, dass eine sozialistische Gesellschaft realisierbar ist.


    Die Vertreter der Frankfurter Schule, der bedeutende deutsche Philosoph Theodor W. Adorno (1903–1969) und Jürgen Habermas, vertraten die Auffassung, dass Wertfreiheit nicht möglich sei, dass die Wertvorstellungen eines Wissenschaftlers immer ihre Spuren in seinen Erkenntnissen hinterlassen.

    Auch andere Vertreter der Frankfurter Schule oder dieser Richtung nahestehende Philosophen, unter anderem der bedeutende deutsch-amerikanische Philosoph und Psychologe Erich Fromm (1900–1980), bestritten die Möglichkeit wertfreier Erkenntnis. Bei Fromm ist Erkenntnis abhängig vom Charakter. Zu Fromm wird im 11. Kapitel noch weiteres gesagt.


    Lösungen

    Lösung 1

    man2

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    Lösung 2
    Auf der Erde zieht die Schwerkraft den Stein zu Boden. In der Raumstation gibt es keine Schwerkraft, die den Stein nach unten ziehen kann. »Oben« und »unten« sind in der Raumstation relative Begriffe.
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    Lösung 3
    Nördlich bzw. südlich der Polarkreise geht die Sonne im Winter für eine gewisse Zeit nicht auf und im Sommer für eine gewisse Zeit nicht unter.
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    5. Kapitel

    Logik und Denken

    »Mein teurer Freund, ich rat Euch drum
    Zuerst Collegium Logicum.
    Da wird der Geist Euch wohl dressiert
    in spanische Stiefeln eingeschnürt,
    Dass er bedächtiger so fortan
    Hinschleiche die Gedankenbahn,
    Und nicht etwa, die Kreuz und Quer,
    Irrlichteliere hin und her.«
    Johann Wolfgang von Goethe


    In diesem Kapitel wird vermittelt:

    • Was Analytik, Logik und Syllogistik ist.
    • Was moderne symbolische Logik ist.
    • Was Junktoren, Quantoren, Konstanten und Variablen sind.
    • Was Logik außer formaler Logik noch bedeuten kann.
    • Was es für Denkfallen und Denksackgassen gibt.
    • Wie mit Sprache Verwirrung geschaffen wird.
    • Wie Wiederholungen und Täuschungen für Erkenntnisse gehalten werden.
    • Welche sprachlichen Erkenntnishilfen es gibt.


    Logik

    »Moral ein Maulkorb für den Willen,
    Logik ein Steigriemen für den Geist.«
    Franz Grillparzer (1791 –1872)
    Österreichischer Schriftsteller


    In der Umgangssprache und im Alltagsdenken wird unter Logik häufig etwas verstanden, was keine Logik ist.

    »Gewinnt Hertha morgen gegen Wolfsburg?« »Logisch!«


    Hiermit haben Sie ein Beispiel dafür, was Logik nicht ist. (Denn Hertha verliert ja logischerweise ;-) Nein, ob eine Fußballmannschaft gegen eine andere Fußballmannschaft gewinnt, hängt von so vielen Faktoren ab (Güte der Spieler, der Mannschaft, Tagesform, Glück etc.), dass es unmöglich ist, es logisch herzuleiten.

    »Wenn die Erde eine Kugel wäre, dann würde doch logischerweise an den Seiten und unten alles herunterfallen!«


    »Logik ist ein Instrument
    zum Aufpolstern der Vorurteile.«
    Elbert Hubbard (1856–1915)
    Amerikanischer Schriftsteller


    Häufig glauben Menschen, Logik sei, wenn etwas in Übereinstimmung steht mit ihren Vorurteilen oder Wünschen, mit den Auffassungen, die sie mit Selbstverständlichkeit ohne jeden Zweifel für richtig halten. Nein:

    Wenn A = B ist und B = C, dann ist auch A = C. Das ist Logik.



    Wenn Anna in der gleichen Hauptschulklasse ist wie Jonas, und Jonas in der gleichen Hauptschulklasse wie Emma, dann ist auch Anna in der gleichen Hauptschulklasse wie Emma.


    Wenn nun jemand behaupten würde, obwohl Anna in der gleichen Hauptschulklasse ist wie Jonas und Jonas in der gleichen Hauptschulklasse wie Emma, Anna doch nicht in der gleichen Hauptschulklasse ist wie Emma, dann wäre das unlogisch, dann wäre das falsch.

    Aber Vorsicht! Wenn Max der Halbbruder von Thomas und Thomas der Halbbruder von Lukas ist, dann ist Max nicht automatisch auch der Halbbruder von Lukas! Wenn man sich der verwendeten Begriffe nicht im Klaren ist, kann formale Logik auch zu Sophismen, zu Fehlschlüssen führen.

    Schild am Schuleingang: Es ist den Kindern verboten, ihre Fahrräder auf das Schulgelände mitzunehmen. Die Fahrräder müssen in dem dafür vorgesehenen Bereich auf dem Schulhof abgestellt werden.
    Was ist an dieser Aufforderung unlogisch? (Lösung 1)



    Die Formale Logik ist die Lehre vom ordnungsgemäßen Denken, vom richtigen Schlussfolgern. Die Formale Logik untersucht die Geltung von Aussageketten betreffs ihrer Struktur. Losgelöst vom jeweiligen konkreten Inhalt der Aussagen.


    Logik ist ein Teilgebiet der Philosophie, der Mathematik und der Informatik. In dieser Einführung geht es selbstverständlich um die Logik in der Philosophie.

    »Logik ist die Anatomie des Denkens.«
    John Locke


    Ob wir mit dem logischen Denken objektive Strukturen richtig erfassen, oder dies nur unsere subjektive Art zu denken widerspiegelt, ist in der Philosophie umstritten. Dazu zwei Zitate von zwei bedeutenden Philosophen:

    »Die Logik ist keine Lehre, sondern ein Spiegelbild der Welt.« Ludwig Wittgenstein


    »Es kommt in der Wirklichkeit nichts vor, was der Logik streng entspräche.« Friedrich Nietzsche


    Analytik

    Die Anfänge der Logik liegen wie vieles aus dem Bereich der Philosophie im antiken Griechenland.

    Aristoteles hat die Logik (die er selbst »Analytik« nannte – von gr. »analysein« = auflösen, zergliedern) als eigene Wissenschaft geschaffen, als Lehre vom richtigen Denken, das Aussageketten unabhängig vom konkreten Inhalt auf ihre formale Richtigkeit untersucht. Deshalb heißt dieses Verfahren »Formale Logik«.

    Denken tun wir mit Wörter, oder – wie man in der Philosophie sagt – mit Begriffen. Diese bekommen wir durch (bewusste, aber meist unbewusste) Definitionen.

    Eine Definition (von lat. »definitio« = Umgrenzung) hat in der aristotelischen Logik zwei Teile: Einer ordnet den Begriff in eine bestimmte Gruppe von Begriffen ein.

    Der Mensch ist ein »Lebewesen«.


    Der andere sagt aus, worin sich der zu definierende Begriff von anderen zur gleichen Gruppe gehörenden Begriffen unterscheidet.

    Der Mensch ist ein »vernunftbegabtes« Lebewesen.


    Es gibt Begriffe höherer und geringerer Allgemeinheit:

    Kinderfahrrad – Fahrrad – Fortbewegungsmittel – Gegenstand aus Metall – materieller Gegenstand – Substanz.



    Wählen Sie spontan in der Wohnung oder auf der Straße Gegenstände und definieren Sie sie.
    1. Zu welcher Klasse gehört der Gegenstand?
    2. Worin unterscheidet sich der Gegenstand von anderen zur gleichen Klasse gehörenden Gegenständen?


    Eine Kategorie (von gr. »kategoria« = Aussage, Eigenschaft, Klasse) ist ein Begriff, der keinen Oberbegriff mehr hat.

    Jedes Wort, das ohne Verbindung zu anderen Wörter gesagt wird, bezeichnet nach Aristoteles eine der folgenden zehn Kategorien:

    Tafel der Kategorien nach Aristoteles

    Kategorie Frage Beispiel
    Substanz
    (Gegenstand)
    Was ist etwas?
     
    Kind, Hund, Tisch, Fahrrad, Bus.
    Quantität
    (Menge) 
    Wie viel bzw. groß ist etwas? Fünf Stühle, zwei Meter, drei Kilo.
    Qualität
    (Beschaffenheit) 
    Wie beschaffen
    ist etwas? 
    Klug, fleißig, frech.
     
    Relation
    (Beziehung) 
    Welche Beziehung hat etwas zu anderem? Doppelt, halb, kleiner.
     
    Ort
     
    Wo ist etwas?
     
    Schule, Wohnung.
     
    Zeitpunkt
     
    Wann ist etwas?
     
    Gestern, um 14 Uhr, Übermorgen.
    Lage
     
    In welcher Lage ist etwas? Sitzt, liegt, geht.
     
    Haben
     
    Was hat etwas?
     
    Hat Bücher, ist bekleidet.
     
    Wirken
    (aktiv)
    Was tut etwas?
     
    Liest, spricht.
     
    Leiden
    (passiv)
    Was erleidet etwas?
     
    Wird gelobt, getadelt, bewundert.


    Nehmen Sie ein Wörterbuch und schlagen Sie zufällig irgendeine Seite auf. Versuchen Sie, die Wörter, die dort stehen, eine der zehn Kategorien zuzuordnen.

    Bewegen Sie mit geschlossenen Augen den Mauszeiger über einen Text. Versuchen Sie, das Wort, auf dem der Pfeil oder die Einfügemarke steht, eine der zehn Kategorien zuzuordnen.


    Begriffe verknüpfen wir zu Urteilen.

    • Es gibt bejahende Urteile:
      Dieses Fahrrad hat einen roten Rahmen.
    • Und verneinende Urteile.
      Dieses Fahrrad hat keinen Scheinwerfer.
    • Es gibt allgemeine Urteile:
      Alle Kinder in Deutschland müssen zur Schule gehen.
    • Besondere Urteile:
      Einige Kinder haben Probleme mit der Rechtschreibung.
    • Und Einzelurteile:
      Peter ist faul.
    • Urteile, die ein Sein aussagen:
      Es regnet.
    • Urteile, die ein Notwendigsein aussagen:
      Es muss heute noch regnen.
    • Und Urteile, die ein Möglichsein aussagen:
      Es könnte heute noch regnen.

    Syllogistik

    Obersatz, Untersatz, Konklusion

    Das Denken entfaltet sich immer in Schlüssen. Der Schluss ist die Ableitung eines neuen Urteils aus anderen Urteilen.

    Der Schluss besteht aus den Voraussetzungen, den Prämissen (von lat. »praemissum« = das Vorausgeschickte) und der Konklusion (von lat. »conclaudere« = zusammenschließen).

    Im Mittelpunkt der Schlusslehre steht der Syllogismus (von gr. »syllogismos« = zusammenrechnen): Obersatz, Untersatz, Folgerung.

  • Erste Prämisse oder »Obersatz«:
        »Alle Menschen haben ein Gehirn.«
  • Zweite Prämisse oder »Untersatz«:
        »Alle Deutschen sind Menschen.«
  • Konklusion oder »Schlussfolgerung«:
        »Alle Deutschen haben ein Gehirn.«
        (In welchem Umfang sie es nutzen, ist eine andere Frage. ;-)

  • Wie Sie vielleicht noch aus ihrem Deutsch-Unterricht erinnern, ist das Subjekt der Satzgegenstand (Frage: wer oder was?) und das Prädikat die Hauptaussage eines Satzes (Frage: Was macht oder erleidet das Subjekt?). In der Logik ist das in ihren Anfangsformen auch so.

    Lena ist eine Schülerin.
    »Lena« = Subjekt,
    »ist eine Schülerin« = Prädikat

    Ein Syllogismus hat ein syllogistisches Subjekt (S), ein syllogistisches Prädikat (P) und einen Mittelbegriff (M).


    In dem eben als Beispiel angeführten Syllogismus ist (S) grammatisches Subjekt im Untersatz und in der Konklusion (Deutschen), (P) grammatisches Prädikat im Obersatz und in der Konklusion (Gehirn). (M) ist grammatisches Subjekt im Obersatz und grammatisches Prädikat im Untersatz. In der Konklusion fällt (M) raus (Menschen).

    M P
    S M
    S P
    Syllogismen können auch andere Formen haben,
    das heißt (M), (P) und (S) können in anderer Reihenfolge
    angeordnet sein.

    Bilden Sie eigene Syllogismen nach Art des Beispielsyllogismus.

    (M) Hund Rechtecke Erwachsene Babys
    (S) Dackel Quadrate Lehrer Lukas
    (P) bellen keine Kreise waren einst Kinder süß

    Kategorische Urteile

    Obige Aussagen bilden Kategorische Syllogismen, die aus drei kategorischen Urteilen bestehen.

    Kategorische Urteile sind einfache, nicht aus mehreren Urteilen zusammengesetzte Urteile, die eine Aussage machen über die Verbindung von einem Subjekt und einem Prädikat (im grammatischen Sinne).

    In der klassischen Logik gibt es nur vier Arten Kategorischer Urteile. Alle einfachen, nicht zusammengesetzten Urteile entsprächen einer dieser vier Arten. (Die 4. Spalte ist erst verständlich nach dem Lesen des Abschnitts über moderne symbolische Logik.)

    Die vier Kategorischen Urteile:

      Art des Kat.
    Urteils
    Beispiel
     
    Moderne
    symbolische Logik
    A
    Allgemein
    bejahend
    Alle Studenten
    sind faul ;-)
    (∀x) Sx → Fx
    E
    Allgemein
    verneinend
    Alle Studenten
    sind nicht faul.
    (∀x) Sx → ¬Fx
    I
    Besonders
    bejahend
    Einige Studenten
    sind faul.
    (∃x) Sx ∧ Fx
    O
    Besonders
    verneinend
    Einige Studenten
    sind nicht faul.

    (∃x) Sx ∧ ¬Fx



    Traditionell werden diese vier Arten von Urteilen mit den Buchstaben A, E, I und O bezeichnet. Die vier Arten kategorischer Urteile befinden sich untereinander in einem logischen Verhältnis, das man als Logisches Quadrat bezeichnet.

    Logisches Quadrat:



    Beweis

    Schlüsse verknüpfen wir zu Beweisen. Ein Beweis ist die logisch unvermeidliche Ableitung eines Satzes aus anderen Sätzen durch fortwährende Schlüsse. Sätze, aus denen wir Beweise herleiten, müssen ihrerseits aber bewiesen sein. (Ansonsten haben wir eine Petitio Principii, von denen es in der Philosophie leider nur so wimmelt. Was das ist, erfahren Sie weiter hinten in diesem Kapitel.) Zum Schluss kommt man zu allgemeinsten Sätzen, die nicht bewiesen werden können.

    »Der Beweis ist ein Götze,
    vor dem der Mathematiker sich foltert.«
    Arthur Stanley Eddington (1882–1944)
    Britischer Astrophysiker


    Allgemeine Sätze

    Nach Aristoteles verfügen die Menschen mit ihrer Vernunft über die Fähigkeit zur unmittelbaren und irrtumsfreien Erfassung solcher allgemeinen Sätze. Diese sind Bedingung dafür, dass das verstandesmäßige, begriffliche, diskursive Denken überhaupt stattfinden kann, da ihre Richtigkeit aller Beweisführung bereits zu Grunde liegt. Vier solcher Sätze gibt es:

    1. Der Satz vom Widerspruch:
    Etwas, das ist, kann nicht gleichzeitig und in derselben Hinsicht nicht sein.

    Der Text, den Sie gerade lesen, ist ein Teil der von Ihnen unmittelbar erlebten empirischen Welt. Er kann nicht zugleich kein Teil der von Ihnen erlebten Welt sein.


    2. Der Satz der Identität:
    A = A. Die Dinge sind mit sich selbst identisch.

    Sie sind Sie und Ihre Mutter ist Ihre Mutter. Sie sind nicht Ihre Mutter und Ihre Mutter ist nicht Sie.


    3. Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten:
    Zwischen Sein und Nichtsein eines bestimmten Sachverhaltes gibt es kein Drittes.

    Entweder gibt es den Lieben Gott oder es gibt den Lieben Gott nicht. Es kann ihn nicht zugleich geben und nicht geben.


    »In der Quantentheorie muss offenbar dieses Gesetz
    ›tertium non datur‹ (›ein Drittes ist nicht gegeben‹)
    abgeändert werden.«
    Werner Heisenberg


    4. Der Satz vom zureichenden Grunde:
    Alles hat eine Ursache, sonst wäre es nicht.

    Sie können ein Buch nur lesen, weil Sie selbst oder jemand anders es Ihnen verschafft hat. Sie können es nur lesen, weil Sie lesen gelernt haben.



    Wie im nächsten Kapitel über die Dialektik noch deutlich wird, ist es in der Wirklichkeit nicht immer so, wie wir es im logischen Denken voraussetzen (müssen)!


    Unlogisches

    Wie wichtig es ist, auf korrektes logisches Schließen zu achten, möchte ich an zwei Beispielen erläutern.

    Ein christlicher Grundsatz lautet:
    »Seid der Obrigkeit untertan, denn jede Obrigkeit ist von Gott.«

    Meine Großeltern schlossen daraus: »Wenn Gott nicht gewollt hätte, dass Hitler an die Macht kommt, dann wäre er nicht an die Macht gekommen.« Und wenn ich dann fragte: »Ja, und wenn Gott nicht gewollt hätte, dass Hitler Millionen Juden ermorden ließ, dann hätte er das auch nicht gemacht?« Nein! Das geht natürlich nicht. Das ist Gotteslästerung! Dann wäre Gott ja verantwortlich für den Massenmord an den Juden.


    Das hörte sich für mich damals in meiner Kindheit nicht besonders logisch an.

    »An der einen Seite zieht mich die Liebe,
    an der anderen die Logik.«
    Ovid (43 v.u.Z–17 u.Z).
    Römischer Dichter


    Meine Großeltern glaubten, dass alle Menschen sich nach ihrem Tod vor Gott verantworten müssen. Außerdem sagten sie: »Wir wählen CDU. Das ist eine christliche Partei. Die müssen sich später mal vor Gott rechtfertigen.«



    Wo ist hier der logische Bruch? Bilden Sie einen Syllogismus mit »Mensch« (M), »Politiker« (S) und »müssen sich vor Gott rechtfertigen« (P). (Lösung 2)


    Moderne bzw. symbolische Logik

    Wer mit mathematischen und logischen Formeln nichts zu tun haben will oder gar einen Horror davor hat, der kann diesen Abschnitt überspringen und weiterlesen bei  Logik als Instrument technischer Wirklichkeitsbeherrschung bzw. -veränderung

    Die moderne symbolische Logik werden Sie sich ohne fremde Hilfe wahrscheinlich nicht selbst beibringen können, so wenig wie Algebra oder höhere Mathematik. In dieser Einführung wird die symbolische Logik deshalb nur in ihren Anfängen dargestellt, damit Sie eine Vorstellung davon bekommen, was das ist.

    Die moderne Logik, die Mitte des 19. Jahrhunderts entstand, ist eine Weiterentwicklung und Verfeinerung der klassischen Logik. Sie kann komplexe Aussagen und Aussageketten auf ihre logische Gültigkeit untersuchen, die mit der klassischen Logik nicht überprüfbar sind. Die moderne Logik wird mathematische oder symbolische Logik genannt. Auch die Bezeichnung Logistik wird zuweilen verwendet.

    Als Begründer der modernen Logik gilt der deutsche Mathematiker und Philosoph Gottlob Frege (1848–1925).

    Die moderne Logik arbeitet mit:

    Moderne Logik erinnert an mathematische, algebraische Gleichungen, bloß dass die verwendeten Zeichen andere sind. Um die moderne Logik zu verstehen, müssen Sie die dort verwendeten Symbole bzw. Zeichen erlernen.


    [Die Darstellung der Symbole der modernen Logik funktioniert auf Internetseiten nicht immer! Einige Browser, besonders ältere Versionen, stellen die Symbole gar nicht oder falsch dar.]

    Aussagenlogik/Aussagenkalkül – Junktorenlogik

    Wörter wie »und«, »oder«, »wenn«, »dann«, »nicht« etc. nennt man in der modernen Logik Junktoren (von lat. »iungere« = verknüpfen, verbinden).

    Liste der wichtigsten Junktoren

    Negation ¬p
    ∼p
    sprich nicht p
    Konjunktion p&q
    p∧q
    sprich p und q
    Disjunktion p∨q sprich p oder q
    Implikation
    Konditional
    p⊃q
    p→q
    sprich p impliziert q
    wenn p, dann q
    Bikonditional p↔q
    p≡q
    sprich p genau dann, wenn q
    p, wenn und nur wenn q

    Prädikatenlogik/Prädikatenkalkül – Quantorenlogik

    Eine Erweiterung der Aussagenlogik ist die Prädikatenlogik.

    Prädikatenlogik arbeitet mit Quantoren.

    Quantoren (von lat. »quantus« = wie groß), auch Quantifikatoren genannt, ermöglichen es auszusagen, für wie viele Individuen ein Prädikat zutrifft.

    Der Allquantor oder Universalquantifikator sagt aus, dass ein Prädikat auf alle Individuen zutrifft.

    Symbol ist ein umgedrehtes A – ∀

    (x) oder (∀x) – sprich: »Für jedes x ...«

    Alle Menschen sind sterblich.
    ∀x (mensch(x) → sterblich(x))
    Sprich:
    Es gilt für jedes x: Wenn x ein Mensch ist, dann ist x sterblich.


    Der Existenzquantor oder Existenzialquantifikator sagt aus, dass ein Prädikat auf mindestens ein Individuum zutrifft.

    Symbol ist ein umgedrehtes E – ∃

    (∃x) – sprich: »Es gibt mindestens ein x ...«

    Es gibt sterbliche Menschen.
    ∃x (mensch(x) ∧ sterblich(x))
    Sprich:
    Es gibt mindestens ein x, das Mensch und sterblich ist.


    Konstante und Variable

    Eine Konstante (von lat. »constare« = zusammenstehen, unverändert bleiben) ist ein Begriff mit genau bestimmter Bedeutung, die sich im Laufe von Überlegungen nicht verändert. Die Konstante ist somit ein Gegenbegriff zur Variablen.

    Logische Konstanten bestimmen die logische Struktur von Aussagen und Aussageketten. In der Aussagenlogik sind dies die Junktoren, in der Prädikatenlogik zusätzlich die Quantoren.

    Eine Variable (von lat. »variabilis« = veränderlich) ist eine Größe, die unterschiedliche Werte annehmen kann. Eine Variable ist somit ein Gegenbegriff zur Konstanten.

    Logische Variablen sind sprachliche Zeichen, für die beliebige Ausdrücke einer bestimmten Art eingesetzt werden können.

    Prädikatenvariablen werden traditionell symbolisiert durch Großbuchstaben. Am häufigsten wird begonnen mit »A, B, C, ...«. Aber auch der Anfangsbuchstabe des symbolisierten Wortes wird verwendet. Eine einheitliche Vorgehensweise gibt es nicht.

    Wenn Alina in der Englisch-Klausur eine Eins oder eine Zwei schreibt, dann bekommt sie von ihrem Vater fünf Euro. Sie hat eine Zwei geschrieben. Also bekommt sie von ihrem Vater fünf Euro.



    A ∨ B → C, B ∴ C

    Sprich: »A oder B dann C, B daher C.«


    Individuenvariablen (x, y, z) werden symbolisiert durch kleine Buchstaben vom Ende des Alphabets »x, y, z«.

    ∀x
    Sprich: »Es gilt für jedes x ...«

    ∃y
    Sprich: »Es gibt mindestens ein y.«


    Aussagenvariablen stehen für Sätze, Urteile etc. und werden meistens symbolisiert durch kleine Buchstaben aus der Mitte des Alphabets »p, q, r, ...«.

    4. Spalte der vier Kategorischen Urteile

    An dieser Stelle komme ich noch einmal auf die Kategorischen Urteile zurück und erkläre, was die Formeln in der 4. Spalte bedeuten und wie man sie ausspricht: (Die Variablen sind verändert. die logische Struktur ist die gleiche.)

    »Alle Schüler sind fleißig.«
    (∀x) (Sx → Fx)
    Sprich:
    »Es gilt für jedes x: Wenn x ein Schüler ist, (dann) ist x fleißig.«

    »Alle Schüler sind nicht fleißig.« (Keine Schüler sind fleißig.)
    (∀x) (Sx → ¬Fx)
    Sprich:
    »Es gilt für jedes x: Wenn x ein Schüler ist, ist x nicht fleißig.«

    »Einige Schüler sind fleißig.«
    (∃x)(Sx ∧ Fx)
    Sprich:
    »Es gibt mindestens ein x, das Schüler und fleißig ist.«

    »Einige Schüler sind nicht fleißig.«
    (∃x)(Sx ∧ ¬Fx)
    Sprich:
    »Es gibt mindestens ein x, das Schüler und nicht fleißig ist.«


    Logische Kontradiktion

    Logische Kontradiktionen sind immer falsch:
    Es regnet und es regnet nicht.
    a ∧ ¬a
    Sprich: »a und nicht a.«
    Der Satz ist immer falsch.

    Logische Tautologie

    Logische Tautologien sind Aussagen, die immer wahr sind.
    Es regnet oder es regnet nicht.
    a ∨ ¬a
    Sprich: »a oder nicht a.«
    Der Satz ist immer wahr, hat aber auch keinen Erkenntniswert.


    Wie Sie im nächsten Kapitel noch sehen werden, stimmt das mit den Tautologien und Kontradiktionen in der dialektischen Logik nicht!


    Gesetz der doppelten Negation

    p ↔ ¬ ¬ p
    Sprich: »p genau dann, wenn nicht nicht p.«
    In der Mathematik ist minus mal minus = plus.
    In der Logik heißt das: »Duplex negatio est affirmatio.«
    Zu Deutsch: »Doppelte Verneinung ist Bejahung.«

    Als ich während meines Philosophiestudiums Logik als Pflichtfach absolvierte, drehte ich den lateinischen Satz um: »Duplex affirmatio est negatio.« Mein Professor wandte natürlich sofort ein, dass man diesen Satz nicht umdrehen dürfe, dass er dann nicht mehr stimme. Aber auf meine Frage, was »Ja, ja!« bedeutet, konnte auch er nur antworten: »Leck mich am A...« In der Stadt Berlin hatten wir 10 Jahre lang eine – wie es genannt wurde – »rot-rote« Regierungskoalition. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass das auch nur eine Art »Duplex affirmatio« war, zum Beispiel als die Lehrmittelfreiheit abgeschafft wurde.


    Komplexe Formeln

    Um Ihnen einen kleinen Eindruck davon zu vermitteln, wie kompliziert es im weiteren Verlauf wird, ein kleines Beispiel für einen Sachverhalt, den die klassische Logik nicht behandeln konnte:

    Alle Deutschen sind Menschen. Ergo: Alle Hände von Deutschen sind Menschenhände. In der Prädikatenlogik sieht das so aus:

    (x)((∃y)(Dy ∧ Hxy) → (∃z)(Mz ∧ Hxz))


    Dy heißt: y ist ein Deutscher.
    Hxy heißt: x ist eine Hand von y.
    Mz heißt: z ist ein Mensch.

    Ab einer bestimmten Komplexität der Formeln lohnt es sich nicht mehr bzw. ist es auch nur noch sehr schwer möglich, die Formeln in die Umgangssprache zu übersetzen.

    Logik als Instrument technischer Wirklichkeitsbeherrschung
    bzw. -veränderung

    Wenn Sie nun abwinken und sagen: »Wozu soll ich das denn überhaupt lernen? Was soll dieses abstrakte Zeug, dieser Formelkram, wenn man ohne Zuhilfenahme der Erfahrung mit ihnen sowieso nichts erkennen kann?«, dann sollten Sie wissen:

    Der Computer ist eine logische Maschine!


    Durch aneinandergehängte Schalter, durch Schaltkreise führt der Computer logische Operationen aus. Diese für den Computernutzer unsichtbaren (mikroskopisch kleinen elektronischen) Basisoperationen sind Voraussetzung dafür, dass Sie im Moment gerade diesen Text auf Ihrem Computer-Bildschirm lesen können, dass Sie Computerspiele spielen können, dass Sie auf dem Computer Musikstücke und Videos ablaufen lassen können, dass Sie einen MP3-Player, ein Handy usw. haben.

    Der Computer wurde von Menschen erfunden und weiterentwickelt, die sich gut mit moderner symbolischer Logik auskannten!


    Wer im Bereich der Elektronik oder der Informatik – also der Hardware oder der Software – eine Ausbildung machen will, der wird die symbolische Logik erlernen müssen und zwar in einem viel umfangreicheren Maße als hier angedeutet.

    »Die Logik ist zwar unerschütterlich,
    aber einem Menschen, der leben will,
    widersteht sie nicht.«
    Franz Kafka (1884–1924)
    Österreichischer Schriftsteller


    Weitergehende Vorstellungen von Logik

    Der Begriff Logik wird in der Philosophie auch in weitergehendem Sinne gebraucht, nicht nur im Sinne der formalen Logik.

    Die materiale oder reale Logik Kants beschäftigt sich nicht nur mit dem richtigen Denken – im Sinne der formalen Logik –, sondern auch mit der Frage des richtigen Erkennens. Kants »Transzendentale Logik« untersucht das Verhältnis von Sein und Denken, von Seiendem und Gedachtem. Logik wird bei Kant zur Untersuchung des menschlichen Erkenntnisvermögens.

    Formale wie materiale Logik beschäftigt sich mit den endlichen Dingen. Anders die metaphysische Logik Hegels. Die Wissenschaft der Logik (Titel eines seiner Werke) beschäftigt sich mit dem Unendlichen, mit dem Weltgeist. Sie ist Ontologie. Denken bzw. Vernunft und Sein werden gleichgesetzt. Logik ist die Entwicklung des Begriffs. Hegel vertritt eine dialektische Logik, von der er (und viele seiner Anhänger) annehmen, dass sie der herkömmlichen Logik überlegen sei.

    »Die Logik sind die Gedanken Gottes
    vor der Schöpfung.«
    Georg Wilhelm Friedrich Hegel


    Logik der Sache bedeutet alle Gesetze, Prinzipien etc., die für die betreffende Sache wichtig sind. In diesem Sinne spricht Popper von der Logik der Forschung (Titel eines seiner Werke) und Pascal von der »Logik des Herzens«.


    Denkfallen, Denksackgassen und Denkhilfen

    Es gibt nicht nur Aussagen und Aussageketten, die unlogisch sind. Auch einzelne Begriffe können in sich unlogisch sein, ohne dass Sie dies auf den ersten Blick bemerken.

    Denkfallen und -sackgassen,
    widersprüchliche Begriffe und Aussagen

    Kann Gott allmächtig sein?

    Mönche im Mittelalter diskutierten die Frage:

    »Kann Gott einen Gegenstand herstellen, den er nicht wieder zerstören kann?«


    Kann er einen solchen Gegenstand nicht herstellen, ist er nicht allmächtig. Kann er aber einen solchen Gegenstand herstellen, ist er auch nicht allmächtig, weil er ihn nicht wieder zerstören kann. Egal, wie man diese Frage beantwortet, mit der Allmächtigkeit Gottes ist es vorbei.

    Einige Menschen versuchen, dieses Problem so zu lösen, dass sie sagen: »Gottes Allmächtigkeit zeigt sich darin, dass er alles bewirken kann, was möglich ist.« Mit anderen Worten: Es gibt vieles, was selbst ein Gott (sollte es einen geben) nicht bewirken kann: zum Beispiel gegen die Logik zu verstoßen. Und das heißt, selbst wenn es einen Gott geben sollte, gäbe es etwas, das über ihm steht. Bestimmte Ordnungs- und Funktionsweisen des Seins, die seine Allmacht einschränken.

    Dass der Begriff der Allmächtigkeit in sich unschlüssig ist, wird religiöse Menschen aber nicht davon anhalten, weiterhin an die Allmächtigkeit Gottes zu glauben.

    »Wenn ich weiß, dass es Gottes Wort ist und Gott also geredet hat, so frage ich danach nicht weiter, wie es könne wahr sein, und lasse mir allein an dem Worte Gottes genügen, es reime sich mit der Vernunft, wie es wolle.« Martin Luther (1483–1546) Deutscher christlicher Reformator

    Antinomie

    Der Begriff »Allmächtigkeit« ist in sich unlogisch. Oder, wie man in der Philosophie sagt, er stellt eine Antinomie dar. (Von gr. »anti« = gegen und »nomoi« = Gesetze.) Eine Antinomie ist eine widersprüchliche Aussage oder es ist ein Widerspruch zwischen zwei Aussagen, die beide Gültigkeit beanspruchen (können).

    Ich lüge immer!


    Was stimmt an diesem Satz nicht? (Lösung 3)


    »Alle Organe des Menschen
    sind doppelt angelegt –
    vor allem die Zunge.«
    Gerhard Uhlenbruck (geb. 1929)
    Deutscher Mediziner und Aphoristiker



    Ich bin nicht eingebildet. Obwohl ich es sein könnte.


    Was stimmt an diesem Satz nicht? (Lösung 4)


    Paradoxon

    Verwandt mit der Antinomie ist das Paradoxon (von gr. »para« = über, wider, neben und »doxa« = Meinung.) Eigentlich das Unerwartete. Widersprüchlichkeit, scheinbar falsche, in sich widersprüchliche Aussage, die aber eventuell auf eine höhere Wahrheit hinweist. Sie haben weiter vorn im Text schon einige solcher Paradoxa kennen gelernt – zum Beispiel das Paradoxon des Empirismus und des Skeptizismus.

    Ähnlich dem Paradoxon ist die Paralogie (von gr. »para« = gegen, wider, über und »logie« = Vernunft). Sie ist die Widervernünftigkeit oder Vernunftwidrigkeit. Der Paralogismus ist ein Fehlschluss.

    »Lesen Sie nicht diesen Satz!«


    Was ist das Paradoxe an dieser Aufforderung? (Lösung 5)


    Der antike griechische Sophist Gorgias behauptete:

    »Es existiert nichts!«


    Was ist das Paradoxe an diesem Satz? (Lösung 6)


    Aporie

    Mit der Antinomie und dem Paradoxon verwandt ist die Aporie (von gr. »aporia« = Weglosigkeit). Der Begriff bedeutet Unentschlossenheit, Unentschiedenheit, Aussichtslosigkeit. Eine philosophische Frage scheint unbeantwortbar zu sein, wegen eines in der Sache selbst liegenden Widerspruchs. So enden die frühen Dialoge Platons alle in der Aporie, da die Fragen, die beantwortet werden sollen (Was ist Tapferkeit, Besonnenheit, Frömmigkeit, Gerechtigkeit u. w.), nicht eindeutig klärbar scheinen. Für Aristoteles besteht eine Aporie, wenn zwei gleichermaßen überzeugende Argumente zwei unvereinbare Folgerungen haben.

    »Ein Geist, der nur Logik ist,
    gleicht einem Messer,
    das nichts ist als Klinge.
    Die Hand wird blutig beim Gebrauch.«
    Rabindranath Tagore (1861–1941)
    Indisch-Bengalischer Philosoph


    Das Schiff des Theseus

    Eine klassische Aporie ist die Geschichte vom Schiff des Theseus.

    Der antike griechische Held Theseus bringt sein Schiff, mit dem er viele Abenteuer erlebt hat, auf die Werft, wo ein paar Planken durch neue ersetzt werden. Dann befährt Theseus mit dem Schiff wieder die Meere. Bei der nächsten Reparatur werden wieder einige der alten Teile durch neue ersetzt. Wieder geht das Schiff auf Reisen. Nach und nach werden so bei Reparaturen alle alten Teile durch neue ersetzt.

    Der Werfteigner hat nun alle alten Teile aufgehoben. Eines Tages beschließt er, aus allen alten Teilen ein Schiff zusammenzusetzen. Das gelingt. Nun gibt es zwei Schiffe:

    1. Das Schiff, das Theseus benutzt, das nach und nach aus den neuen Teilen entstanden ist.

    2. Das Schiff, das aus den alten Originalteilen von Theseus' ursprünglichem Schiff besteht.


    Welches Schiff ist das echte Schiff des Theseus? (Lösung 7)


    Dilemma

    Zur Gruppe der widersprüchlichen Begriffe gehört auch das Dilemma (von gr. »di-lemma« = zweiteilige Annahme). Ein Dilemma ist eine Zwangslage, die nur die Wahl zwischen gleichermaßen schlechten Alternativen lässt. Oder es gibt zwei mögliche Lösungen, die sich aber gegenseitig ausschließen.

    Krokodilschluss

    Aus der Antike ist der Krokodilschluss überliefert, ein Trugschluss, ein Paradoxon bzw. ein trügerisches Dilemma.

    Ein Krokodil hat ein Kind geraubt und verspricht der Mutter, ihr das Kind zurückzugeben, wenn sie errät, was das Krokodil tun wird. Die Mutter sagt daraufhin: »Du wirst mir das Kind nicht zurückgeben.«

    Das Krokodil argumentiert nun: »Du wirst das Kind nicht zurückbekommen. Wenn Deine Aussage falsch ist, auf Grund unserer Vereinbarung. Wenn deine Aussage richtig ist, dann, weil es stimmt, dass du das Kind nicht zurückbekommst.«

    Die Mutter argumentiert dagegen: »Ich muss mein Kind auf jeden Fall zurückbekommen. Denn wenn meine Aussage wahr ist, dann erhalte ich das Kind auf Grund unserer Vereinbarung zurück. Sollte die Aussage falsch sein, dann erhalte ich mein Kind zurück, weil die Aussage ja falsch ist, dass ich es nicht zurückbekomme.«


    Muss das Krokodil der Mutter das Kind zurückgeben oder nicht? (Lösung 8)



    Ein Dilemma des menschlichen Wünschens:

    Jeder will alt werden, aber keiner will alt sein!

    Verwirrung durch Sprache

    Mit der Sprache kann man nicht nur in Denkfallen geraten, man kann auch ganz gezielt andere (oder sogar sich selbst) verwirren.

    Eine Contradictio in adjecto ist in Deutsch ein Widerspruch in der Beifügung.

    »Hölzernes Eisen«, »Aufrichtige Lüge«, »Seriöser Astrologe«

    Politiker sprechen vom »Minuswachstum«, um das Wort Rückgang zu vermeiden. Genauso könnten sie Wachstum »Plusrückgang« nennen.


    Ich könnte die etwas boshafte Frage stellen, ob die Formulierung »ehrlicher Politiker« nicht bereits eine Contradictio in adjecto darstellt.

    Es gibt Menschen, die hatten in ihrer Kindheit zwei Berufswünsche: Schauspieler oder Gangster. Und die werden dann später Politiker.


    Allerdings könnten Politiker zur Entschuldigung anführen: Menschen wollen belogen sein.

    Mundus vult decipi.


    Wussten schon die alten Römer. Die Welt will betrogen sein.

    »Die Wahrheit hat ein schönes Angesicht, aber zerrissene Kleider.«



    Was soll dieses Sprichwort ausdrücken? (Lösung 9)



    »Tell me lies, tell me sweet little lies!« (Moderner Schlager)

    (Erzähle mir Lügen. Erzähle mir süße kleine Lügen!)

    Schon Voltaire wusste:

    Alles, was zu dumm ist, um gesprochen zu werden, das wird gesungen.

    »Du bist das schönste Mädchen der Welt!« Das will sie von ihrem Freund hören. »Du bist das fünftschönste Mädchen der Welt?« (Das wäre ja auch nicht schlecht bei Hunderten Millionen von Mädchen.) »Vor dir kommen nur Laura, Marie, Charlotte und Paula?« Dann kriegt er eine gescheuert.

    Eine geplante Müllkippe wird von ihren Betreibern »Entsorgungspark« genannt, um sie den Anwohnern besser verkaufen zu können. Einen Park wollten die doch schon lange. Die Strompreise werden nicht etwa schon wieder erhöht, nein, sie werden »angepasst«. (An was eigentlich? An die Geldgier der Strombosse?) Unternehmen sprechen von »Freisetzung«, wenn sie Mitarbeiter entlassen. Frei sein, ist doch eine tolle Sache! Von ALG II leben weniger.


    Bei Begriffen wie Freisetzung oder Entsorgungspark spricht man von Euphemismen (von gr. »eu« = Freude, »euphemi« = schönreden). Ein Euphemismus ist eine Schönfärberei.

    »Friendly fire«, zu Deutsch »freundliches Feuer«, bedeutet, dass man in Kämpfen von den eigenen Leuten beschossen wird. Und wenn einer dabei draufgeht? Halb so wild. Waren ja die eigenen Kameraden, die einen erschossen haben. Außerdem wird ein Soldat ja nicht getötet, schon gar nicht ermordet, zerfetzt oder abgeschlachtet. Auch dann nicht, wenn man beim Anblick der Leiche bzw. der Leichenteile genau das vermuten würde. Ein solcher Soldat ist »gefallen«. Das passiert doch jedem mal, das man mal fällt. (Es gibt auch gefallene Mädchen ;-)

    Es kommt auch vor, dass man das, was man für wahr hält, falsch formuliert. Man weiß zwar selbst, was gemeint ist, bei dem anderen kommt es aber falsch an.

    »Um das aufzutischen, müssen sie sich einen Blöderen suchen als mich. Aber den werden sie kaum finden.«

    »Lachen sie etwa über mich? Ich wüsste nicht, was es hier sonst Lächerliches geben sollte.«


    »Sich über die Philosophie lustig machen,
    das heißt in Wahrheit philosophieren.«
    Blaise Pascal


    Wiederholung statt Erkenntnis

    Es wird etwas als Erkenntnis angesehen oder ausgegeben, was keine ist.

    Tautologie

    Eine Tautologie (von gr. »tautologia« = dasselbe sagen) erklärt nichts, sondern gibt einen Sachverhalt doppelt wieder und hat somit keinen Erkenntniswert.

    Runder Kreis, eckiges Quadrat, alter Greis


    Pleonasmus

    Sehr ähnlich der Tautologie ist der Pleonasmus (von = gr. »pleonasmos« = Überfluss, Übermaß), der sinngleiche oder sinnähnliche Wörter häuft.

    Brennendes Feuer, kaltes Eis, »wahre Wirklichkeit«, finsteres, dunkles Schwarz.


    Der Begriff Pleonasmus wird häufig synonym mit Tautologie verwendet. Ob Pleonasmen Erkenntnisse sind oder nur Wiederholungen, ist umstritten. Pleonasmen sind aber häufig gebrauchte Stilmittel in der Literatur.

    Täuschung statt Erkenntnis

    Petitio Principii

    In der Philosophie leider oft anzutreffen ist die Petitio Principii (von lat. »petitio« = Bitte, Forderung und »principia« = Anfang, Grundlage). Eigentlich »die Bitte, es zu beweisen«. Ein Beweisfehler: Man benutzt als Beweis etwas, das selbst erst zu beweisen wäre. Oft sind diese Beweisfehler in einem längeren Text verborgen und man muss einige Denkarbeit leisten, um sie aufzudecken. Oft merken die Philosophen es gar nicht, dass in ihren Texten diese Beweisfehler vorhanden sind.

    »Oft ist das Denken schwer, indes
    das Schreiben geht auch ohne es.«
    Wilhelm Busch


    Platon sagt, Wissen an sich sei nicht per se (lat. durch sich, von selbst, von vornherein) gut, weil auch der Lügner und der Dieb Wissen habe. Bei dieser Argumentation hat Platon bereits eine Ethik, gemessen an der Lügner und Diebe böse sind. Dass Sklaven ihr Leben lang unfrei und ohne Bezahlung für das Wohlergehen der Sklavenhalter arbeiten, während diese dann Zeit haben, zu philosophieren, ist für Platon nicht böse.


    Circulus vitiosus

    Ein Spezialfall der Petitio Principii ist der Circulus vitiosus, lat. eigentlich »fehlerhafter Kreis«. Ein Beweisfehler, bei dem eine Behauptung (bzw. Teile von ihr meist versteckt) zu ihrem eigenen Beweis angeführt werden.

    Anna sagt: »Morgen fällt die Schule aus.« Das wisse sie sicher. Emma habe ihr das gesagt. Woher weiß Emma das? Von Josefine. Woher weiß Josefine es? Von Anna.


    Die Bibel wird als Beweis für die Existenz Gottes angegeben. Die Glaubwürdigkeit der Bibel aber daraus, dass sie Gottes Wort enthält.


    Idem per idem

    Ein weiterer Beweisfehler bzw. Zirkelschluss ist Idem per idem (lat. dasselbe durch dasselbe). Ein Gegenstand wird (häufig verdeckt) durch sich selbst definiert.

    Frage: Was ist ein Hund?
    Antwort: Ein Tier, das bellt.
    Frage: Was ist ein bellendes Tier?
    Antwort: Ein Hund.

    Frage: Was ist ein Apfel?
    Antwort: Eine Frucht, die auf einem Apfelbaum wächst.
    Frage: Was ist ein Apfelbaum?
    Antwort: Ein Baum, auf dem Äpfel wachsen.


    Cum hoc, ergo propter hoc

    Falsche Schlussfolgerungen können dadurch entstehen, dass Menschen etwas, das zusammen auftritt, gedanklich miteinander verbinden, obwohl es nichts miteinander zu tun hat. Cum hoc, ergo propter hoc (lat.: Es tritt zusammen auf, also hat es etwas miteinander zu tun). Post hoc, ergo propter hoc (lat.: Das eine folgt dem anderen, also ist das eine durch das andere bedingt).

    Da hat jemand in seiner Küche mehrere Kartons voll Bananen. Alle paar Minuten pellt er eine ab und wirft sie anschließend aus dem Fenster. Auf die Frage, warum es dies tut, antwortet er: »Das ist gut gegen Elefanten.« Auf den Einwand: »Aber es gibt hier doch gar keine Elefanten«, antwortet er: »Ja, sehen Sie, es wirkt.« Cum hoc, ergo propter hoc.


    Offensichtlich ist diese Geschichte ein Witz. Aber es gibt Verhaltensweisen, die im Prinzip nichts anderes sind, bei denen viele Menschen aber mit Vehemenz zurückweisen werden, dass es sich um einen Witz handelt.

    »Uns geht es gut, weil wir regelmäßig beten.«


    Nun gibt es auch Leute, denen es gut geht, obwohl sie nicht regelmäßig beten, und es gibt Leute, denen es schlecht geht, obwohl sie regelmäßig beten. Dieses Faktum wird aber überzeugte Anhänger einer bestimmten Religion nicht davon abhalten, weiterhin zu beten.

    Wenn sich jemand mit einer Person unterhält, die nicht existiert bzw. nicht anwesend ist, dann bezeichnet man einen solchen Menschen als »verrückt«. Nennt er diese Person aber »Gott«, dann ist er nicht mehr »verrückt«, dann ist er »religiös«.


    Sie müssten etwas unterlassen, um herauszufinden, ob dann auch etwas anderes nicht mehr stattfindet. Aber selbst, wenn Sie das täten, gäbe es keine Sicherheit. Unser Leben ist so vielfältig, dass wir selten (streng genommen nie) mit Sicherheit einen Tatbestand auf einen anderen zurückführen können.

    Ein ähnlicher Fehlschluss:

    Mein Großvater hat auch geraucht und der ist über achtzig geworden. Ergo: Rauchen ist ungefährlich.

    Dieses Argument ist so schlüssig wie folgendes:

    Mein Großvater hat den 2. Weltkrieg überlebt. Können Sie mal sehen, wie ungefährlich der war.


    Treffendere Daten gewinnen Sie, wenn Sie die Lebenserwartung aller Raucher und aller Nichtraucher miteinander vergleichen. Es ist statistisch nachweisbar, dass Raucher ein 17-mal höheres Risiko haben, Lungenkrebs zu bekommen, als Nichtraucher.

    Falsche Schlussfolgerungen können entstehen, indem man einen wahren Tatbestand feststellt, aber andere wichtige Tatbestände außer Acht lässt:

    Es sterben mehr Menschen im Bett als auf der Autobahn.

    Ergo: Auf der Autobahn ist es sicherer als im Bett.


    Der Trugschluss ist schnell erkennbar. Sterbenskranke Menschen liegen für gewöhnlich im Bett und sitzen nicht im Auto. Es gibt andere Beispiele, wo der Trugschluss nicht so leicht erkennbar ist.

    Kinder von Akademikern und finanziell gut gestellten Leuten sind häufiger auf dem Gymnasium als Kinder von Arbeitern.

    Ergo: Arbeiterkinder sind häufig dümmer als andere Kinder.

    Unter Jugendlichen ausländischer Abstammung gibt es einen höheren Prozentsatz von Straftätern, als unter Jugendlichen deutscher Abstammung.

    Ergo: Deutsche sind in der Regel anständiger als Ausländer.


    Was hierbei übersehen wird, ist, dass Kinder aus Arbeiterfamilien und Kinder ausländischer Abstammung häufiger unter sozial ungünstigeren Verhältnissen aufwachsen als Kinder aus gebildeten oder finanziell gut gestellten Familien.

    Warum sollte das Kind eines Milliardärs eine Bank überfallen?

    Kleine Verbrecher gehen im Gefängnis ein. Große Verbrecher gehen in die Geschichte ein.


    Oder um mit Bertolt Brecht zu fragen:

    Was ist schon der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?

    Weiter hinten im Kapitel über die Willensfreiheit komme ich noch einmal darauf zurück.

    Mathematik

    Wie unser Denken uns täuschen kann, lässt sich auch an diversen mathematischen Beispielen erläutern, von denen ich hier zwei anführe.

    Eine Wochenendausgabe einer Tageszeitung hat in etwa die Dicke von einem Zentimeter. Wenn Sie sie falten, eine Dicke von zwei Zentimetern.


    Wenn Sie die Zeitung nun zehnmal übereinander falten würden, wie dick wäre sie dann? Ganz spontan schätzen und erst dann ausrechnen. (Lösung 10)


    Machen wir folgendes Gedankenspiel: Einer Ihrer Vorfahren hat im Jahre Eins unserer Zeitrechnung einen Cent zur Bank gebracht, dieser wurde mit vier Prozent verzinst und der Betrag mit Zins und Zinseszins wäre über Generationen hinweg vererbt, jetzt bei Ihnen angekommen.


    Da die Währungen im Laufe der Zeit gewechselt haben, schätzen Sie, wie viel Gold Sie heute besitzen würden. (Lösung 11)


    Denkhilfen

    Man kann auch Wortverbindungen und Sätze formen, die wörtlich genommen falsch, aber dennoch erkenntnisfördernd sind.

    Metapher

    Eine Metapher (von gr. »metaphora« = Übertragung) ist die symbolhafte Übertragung eines Wortes oder einer Wortgruppe in einen anderen Zusammenhang.

    »Das Haupt der Familie«, »Der Zahn der Zeit«, »Am Fuße des Berges«, »Das Rad der Geschichte«


    Metaphern sind wörtlich genommen falsch, erklären aber trotzdem etwas.

    Etwas metaphorisch auszudrücken, bedeutet, es sinnbildlich, im übertragenen Sinne darzustellen, zum Beispiel in Metaphern. Hier besteht eine Ähnlichkeit zur Allegorie.

    »Stark wie ein Ochse«, »Blind wie ein Maulwurf«



    Während meiner Studentenzeit habe ich des Öfteren auf dem Bau gejobbt. Einmal hatten wir einen sehr grantigen Vorarbeiter, der die studentischen Hilfskräfte ständig anschrie. Über den sagten wir: »Der hat die Lautstärke und die Intelligenz eines Presslufthammers.«


    Oxymoron

    Eine spezifische Form des Paradoxons und das Gegenteil einer Tautologie ist das Oxymoron (von gr. »oxis« = scharf und »moros« = dumm). Es werden zwei sich gegenseitig ausschließende Begriffe zusammengebracht.

    Rundes Quadrat, eckiger Kreis, wüster Wald, buntes Schwarz, humaner Folterknecht, ehrlicher Steuerhinterzieher, gesundheitsbewusster Raucher.


    Oxymora werden aber auch als bewusstes Stilmittel genutzt.

    Ein stummer Schrei. Ein offenes Geheimnis. Hassliebe.


    Sind das Oxymora oder Metaphern? Der Übergang vom Oxymoron zur Metapher ist fließend. Diese beiden Dinge sind zwar in der Regel klar abgrenzbar, aber es gibt Zwischenstufen.

    Es gibt Oxymora, die sind in den Sprachgebrauch eingegangen und so gut wie keiner stört sich mehr daran.

    »Unkosten«





    Lösungen 5. Kapitel

    Lösung 1: Der Schulhof ist ein Teil des Schulgeländes. Zurück zum Text

    Lösung 2: Sollten sich alle Menschen nach ihrem Tode vor Gott rechtfertigen müssen, dann auch alle Politiker. Nicht nur die Politiker einer Partei. Zurück zum Text

    Lösung 3: Wenn ich immer lüge, ist auch dieser Satz entweder eine Lüge oder ein Verstoß gegen seine Aussage. Mit diesem Satz habe ich entweder zumindest einmal die Wahrheit gesagt oder es stimmt überhaupt nicht, dass ich immer lüge. Zurück zum Text

    Lösung 4: Ist wohl offensichtlich. Wenn jemand glaubt, Grund zu haben, eingebildet zu sein, ist er bereits eingebildet. Einstein und Russell – um nur zwei mögliche Genies des 20. Jahrhunderts zu nennen – waren jedenfalls nicht eingebildet. Zurück zum Text

    Lösung 5: Sie können die Aufforderung nicht erfahren, ohne gegen sie zu verstoßen. Zurück zum Text

    Lösung 6: In dem Moment, wo dieser Satz gedacht, gesprochen oder gelesen wird, gibt es zumindest diesen Satz. Damit existiert etwas und die Aussage des Satzes ist falsch. Zurück zum Text

    Lösung 7: Eine eindeutig richtige Antwort darauf, welches das Schiff des Theseus ist, scheint nicht zu bestehen. Es gibt mindestens fünf Möglichkeiten, die Frage zu beantworten.

    1. Das neue (dafür spricht die Kontinuität).
    2. Das alte (dafür spricht die Identität der Teile).
    3. Keines (wenn man meint, dass die Frage nicht entscheidbar ist).
    4. Beide (wenn man kein Problem damit hat, zwei Gegenstände als identisch mit einem zu betrachten).
    5. Die dialektische Antwort, nach der beide Schiffe das Schiff des Theseus sind, und es doch nicht sind, je nachdem wie man es gerade »sieht«. Die fünfte Antwort ist erst verständlich nach dem Lesen des Kapitels über die Dialektik.
    Zurück zum Text

    Lösung 8: Krokodilschluss: Es gibt keine allein gültige Antwort. Das Dilemma kommt folgendermaßen zustande: Dass es zwischen der Vorhersage der Mutter und dem folgenden Handeln des Krokodils Übereinstimmung gibt, hängt ab von der an dem Handeln geknüpften Folge. Die Folge wird aber wiederum abhängig gemacht von der Übereinstimmung. Es handelt sich um einen paradoxen Zirkel, der verwandt ist mit dem Circulus vitiosus. Zurück zum Text

    Lösung 9: Wahrheit zahlt sich in der Regel nicht aus. Mit Lügen und Schmeicheleien kommt man im Leben häufig besser zurecht. Wer die Suche nach Wahrheit und deren Verbreitung zu seinem Lebensinhalt macht, darf keine großen materiellen Ansprüche haben. Oder man hält sich zuweilen an das Motto des deutschen humoristischen Dichters und Zeichners Wilhelm Busch (1832–1908): »Der Beste muss mitunter lügen. Zuweilen tut er's mit Vergnügen.« Zurück zum Text

    Lösung 10: Die Zeitung wäre über zehn Meter dick. Genau 10 Meter und 24 Zentimeter. Nach zwanzigmaligem Übereinanderfalten wäre sie über 10.000 Meter dick. Zurück zum Text

    Lösung 11: Sie besäßen einen Goldklumpen ungefähr in der Größe der Sonne. (Ach, doch so wenig!) Und zwar nicht in der Größe, wie Sie die Sonne sehen, sondern wie sie tatsächlich ist, ca. 300.000-mal die Größe der Erde. Bei vier Prozent Zins verdoppelt sich der Betrag in 18 Jahren. Nach 2000 Jahren – das sind ca. 80 Generationen – hätte er sich bereits 111-mal verdoppelt. Wer gut in Mathe ist, kann sich jetzt ausrechnen, wie viele Jahre das Geld noch liegen bleiben muss, damit einer der Nachfahren einen Goldklumpen mit dem Durchmesser unserer Milchstraße besitzt. Das geht schneller, als Sie glauben. Zurück zum Text


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    6. Kapitel

    Dialektik

    »In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht,
    wir sind es und wir sind es nicht.«
    Heraklit (6./5. Jahrhundert v. Chr.)
    Griechischer Philosoph


    In diesem Kapitel wird vermittelt:

    • Was Dialektik ist
    • Was verschiedene Philosophen darunter verstanden
    • Was Widersprüche und Gegensätze sind und welche Bedeutung sie haben
    • Wie es sein kann, dass etwas ist und gleichzeitig doch nicht ist
    • Wie das dialektische Verhältnis ist von
      • Geist und Materie
      • Objektiven und Subjektiven
      • Ich und Du
    • Was verschiedene Wirklichkeiten sind
    • Was in der Dialektik »Aufheben« bedeutet
    • Etwas über die Einheit und den Kampf der Gegensätze
    • Etwas über das Umschlagen quantitativer in qualitative Veränderungen
    • Was die Entwicklung vom Niederen zum Höheren bedeutet


    Die klassische wie die moderne Logik ging davon aus, dass jeder richtig formulierte Satz entweder wahr oder falsch ist.


    Weiter vorn im Kapitel über die Erkenntnistheorie im Zusammenhang mit dem Relativismus hatte ich schon angedeutet, dass dies in der Realität gar nicht immer der Fall ist.

    Dialektisch kann der gleiche Satz sowohl wahr wie falsch sein.


    Es bewegt sich und es bewegt sich nicht

    Der zweiwertigen Logik nach bewegt sich ein Gegenstand entweder, oder er bewegt sich nicht. Die zweiwertige Logik kennt nichts Drittes. Aber die Wirklichkeit kennt es.

    Körper A und Körper B bleiben zueinander in der gleichen Entfernung. Beide zusammen bewegen sich aber von Körper C weg. Körper A ist bezogen auf Körper B unbewegt, bezogen auf Körper C aber bewegt. Da wir kein absolutes Bezugssystem für Bewegung haben, können wir feststellen:



    Körper A bewegt sich und Körper A bewegt sich nicht. Keine Aussage ist wahrer als die andere.


    Der zweiwertigen Logik nach ist obiger Satz eine Kontradiktion, die immer falsch ist.

    »Das Leben ist voll von Widersprüchen,
    und von jeder Wahrheit ist
    auch das Gegenteil wahr.«
    Ricarda Huch (1864–1947)
    Deutsche Schriftstellerin


    Wenn Sie das nächste Mal in einem Auto sitzen, machen Sie Folgendes (Es sei denn, Sie fahren selbst!): Lassen Sie Ihre linke Hand bewegungslos auf Ihrem linken Oberschenkel liegen. Heben Sie die rechte Hand hoch und bewegen Sie sie kreisförmig. Bezogen auf Ihren Körper und das Innere des Autos ist Ihre linke Hand unbewegt, Ihre rechte Hand bewegt. Bezogen auf die Straße, auf der das Auto fährt, sind aber beide Hände bewegt. Und wenn das Auto an einer Ampel hält, während andere Autos, zum Beispiel Rechtsabbieger, an Ihnen vorbeifahren, ist Ihr Auto bezogen auf die Umgebung unbewegt, die anderen Autos bewegt. Würden Sie hier keinen Unterschied machen (können) – da sich ja nun mal alle Autos auf der Erde mit dieser um die Sonne bewegen –, könnten Sie viele Tatbestände in der Welt nicht mehr beschreiben und nicht mehr sachgerecht handeln.


    »Wer eine Sache in ein treffendes Gleichnis
    bringen kann, hat sie verstanden.
    Ernst von Feuchtersleben


    Hiermit haben Sie ein Beispiel, womit Dialektik sich unter anderem beschäftigt.


    Entstehung und unterschiedliche Bedeutung der Dialektik

    Die Dialektik ist in der philosophischen Welt sehr umstritten. Es gibt unter den berühmten Philosophen sowohl solche, die die Dialektik hoch schätzen – zum Beispiel Adorno –, wie solche, die die Dialektik schroff ablehnen – zum Beispiel Popper.


    Unter dem Begriff »Dialektik« (von gr. »dialektike« = Unterredungskunst) hat man in der Geschichte der Philosophie schon Unterschiedliches verstanden. Der Begriff hat oft seinen Sinn gewechselt und auch heute noch werden Sie in verschiedenen philosophischen Lexika und Einführungen in die Philosophie bei der Darstellung der Dialektik zumindest andere Schwerpunktsetzungen finden.

    Ganz generell kann man sagen, dass Dialektik etwas mit Widersprüchen und Gegensätzen zu tun hat.


    Damit ist aber auch schon der erste Streitpunkt gegeben: Ob es sich um Widersprüche in unserem menschlichen Denken oder um Widersprüche handelt, die im Sein selbst vorhanden sind.

    Der Begriff Dialektik taucht erstmals bei Platon auf. Bei ihm und bei seinem Lehrer Sokrates war Dialektik – im damaligen Wortsinne – »Gesprächskunst«. Durch Rede und Gegenrede – also Widerspruch! – wollte man der Wahrheit auf die Spur kommen.

    Platon wollte aber nicht bei den Widersprüchen stehen bleiben wie die Sophisten, die glaubten, jede auch die widersprechendsten Auffassungen beweisen zu können. Ein solches Vorgehen nannte Platon Eristik. (Redestreit und negativ aufgefasst: Wortspielerei. Der Name ist abgeleitet von Eris, der griechischen Göttin der Zwietracht.)

    Bei Aristoteles hat die Dialektik mit den Fragen zu tun, bei denen es widersprüchliche Positionen gibt. Durch Einbeziehung allgemeiner Gesichtspunkte (»topoi«) und der Meinung von Autoritäten werden diese zu beantworten versucht. Diese Topik stand im Gegensatz zur Analytik, also Logik.

    Bei Kant bekommt Dialektik eine negative Bedeutung. Für ihn ist sie »Logik des Scheins«. Wenn die Vernunft ohne Zuhilfenahme der Anschauungen versucht, Fragen zu klären, gerate sie in Antinomien.

    Der bedeutendste dialektische Philosoph ist Hegel. Sein Anliegen ist es, diese Antinomien dialektisch aufzuheben, die Widersprüche in einer höheren Ganzheit zu vereinen. Bei ihm wird die Dialektik darüber hinaus zu der universellen Art, wie der Weltgeist und damit die Welt und das menschliche Denken sich entfaltet. Dialektik ist nicht nur eine Sache des Denkens, sondern des Seins, das mit dem Denken bzw. der Vernunft gleichgesetzt wird.

    »Das, was ist zu begreifen, ist Aufgabe der Philosophie, denn das, was ist, ist die Vernunft.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel

    Marx und Engels waren ursprünglich Hegelianer und stark durch dessen dialektisches Denken beeinflusst. Sie erheben den Anspruch, Hegel »vom Kopf auf die Füße gestellt zu haben«. Nicht der Geist sei das Primäre, sondern die Materie, die materielle Welt. Diese bewege und entfalte sich dialektisch (Dialektischer Materialismus). Und im Anschluss daran bzw. dadurch verursacht unser Denken.

    Gegensätze werden bei Marx nicht wie bei Hegel in einer höheren Einheit versöhnt, sondern sie werden zur Triebkraft der Entwicklung, zur Durchsetzung von Neuem, Höherem in der materiellen Welt.

    Im 20. Jahrhundert hat Adorno eine »Negative Dialektik« entwickelt, in der nicht mehr wie bei Hegel die Widersprüche auf höherer Ebene versöhnt werden, sondern wo sie unversöhnlich bestehen bleiben.

    Wenn heutzutage in der Philosophie von Dialektik die Rede ist, dann ist damit fast immer die auf Hegel, Marx und Engels – und damit letztlich auf Heraklit – zurückgehende Dialektik gemeint.



    Einige Grundsätze der Dialektik

    Der erste große dialektische Denker war der antike griechische Philosoph Heraklit, der noch vor Platon und Aristoteles wirkte. Obwohl nur Fragmente seiner Schriften erhalten sind, ist in dem wenigen, was wir von ihm kennen, der Kern dessen enthalten, was heutzutage mehrheitlich unter Dialektik verstanden wird. Folgende vier Punkte sind grundlegend:

    1. Die starren Gegensätze zwischen Ja und Nein, zwischen Sein und Nichtsein, zwischen entweder so oder so etc. sind Täuschungen einer nur logischen Denkweise. Es kommt immer darauf an, von welcher Basis aus bzw. innerhalb welchen Bezugsrahmens man ein Urteil fällt. Die zweiwertige Logik wird in der Regel zwar als im praktischen Leben unverzichtbar angesehen, aber sie allein reiche nicht aus, um die Welt zu verstehen.

    2. Alle Gegensatzpaare sind untrennbar. Jeder Pol eines Gegensatzes hat nur einen Sinn oder nur eine Existenz, weil es den entgegengesetzten Pol gibt.

    »Das Sein hat sein Sein im Nichtsein seines Gegensatzes.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel

    3. Alles in der Welt – zumindest in der Welt unserer Erscheinungen – bewegt bzw. verändert sich. Jede Ruhe ist relativ, vorübergehend. Alles entsteht und vergeht. In dieser Bewegung schlagen die Gegensätze ständig ineinander um.

    »Dasselbe ist: lebendig und tot und wach und schlafend und jung und alt. Denn dieses ist umschlagend in jenes und jenes umschlagend in dieses.« Heraklit

    4. Es bewegt sich nur dort etwas, wo ein Gegensatz, ein Widerspruch vorhanden ist.

    Dialektik ist die Vereinigung der Gegensätze im Prozess.


    Dialektik in China

    Unabhängig von der europäischen Entwicklung kam es auch in anderen Kulturkreisen zu dialektischem Denken.

    Die Yin-Yang-Lehre

    Schon bei Konfuzius war keimhaft der Gedanke vorhanden, dass in allem Bestehenden zwei entgegengesetzte Prinzipien wirksam seien, das männliche aktive Yang und das weibliche passive Yin. Später wurde diese Auffassung zur zentralen Idee der chinesischen Philosophie. Nicht nur, dass eine eigene philosophische Richtung entstand, auch die Vertreter anderer philosophischer Strömungen machten es zum Mittelpunkt ihrer Weltanschauung. Es ist eine dualistische Position bezogen auf die Grundfrage der Philosophie und es entspricht im Kern den Gedanken Heraklits.

    Li und Qi

    In Anlehnung an die Yin-Yang-Lehre entwickelte der chinesische Philosoph Zhu Xi (1130–1200) die Lehre von Li und Qi. Li ist die Weltvernunft oder das universelle Naturgesetz und Qi ist eine Kraft, Materie oder Energie. Der Gegensatz von Li und Qi ist der von Yin und Yang. Beide sind unauflösbar miteinander verbunden. Die Vernunft ist das Obere, die Materie ist das Untere. Zeitlich ist keines von beiden früher oder später, die Vernunft nichtsdestotrotz das Primäre. Sie ist aber keine gesonderte für sich seiende Wesenheit. Vernunft ist nie von der Materie getrennt. Ohne Materie hätte die Vernunft keinen Ansatzpunkt. Neben dem dialektischen Aspekt dieser Auffassung hat diese auch einen dualistischen Aspekt im Sinne der Grundfrage der Philosophie.


    Wie Dinge und Eigenschaften sind
    und gleichzeitig nicht sind

    Die Relativität von Eigenschaften

    Alle materiellen Dinge (und im übertragenen Sinne auch alle anderen Erscheinungen) sind groß und klein auf einmal. Es kommt nur darauf an, innerhalb welchen Bezugsrahmens Sie es betrachten.

    Ein Stuhl ist im Vergleich zu einem Haus klein, im Vergleich zu einem Filzstift aber groß.


    Es ist sinnlos zu sagen, »Aber letztlich ist der Stuhl eben doch groß«, oder »Der Stuhl ist doch eher groß als klein.«

    »Der Stuhl ist groß« und »Der Stuhl ist klein.« Keine der beiden Aussagen ist wahrer als die andere.


    Wir haben es hier mit einem Widerspruch zu tun, der nicht das Ergebnis ungenügenden Denkens ist. Im Gegenteil: Es scheint so zu sein, dass unser Verstand Widersprüche nicht mag, dass er versucht, Widersprüche zu beseitigen, die Welt aber widersprüchlich ist, ob es unserem Verstand nun passt oder nicht.

    Die Begriffe »klein« und »groß« haben nur einen Sinn, wenn sie beide vorhanden sind.


    Es ist etwas nur groß im Vergleich zu etwas, das klein ist, und es ist etwas nur klein im Vergleich zu etwas, das groß ist. Der Begriff »klein« ist für sich allein so sinnlos wie der Begriff »groß«. Auch wenn in einem Satz oder einer ganzen Geschichte nur einer dieser beiden Begriffe vorkommt, ist der andere immer stillschweigend mit vorhanden.

    Genauso wie bei den Begriffen »klein« und »groß« ist es bei sehr vielen Gegensatzpaaren.

    Blinde kennen keine Dunkelheit

    Es gibt Menschen, die von Geburt an blind sind. Als sehender Mensch glauben Sie wahrscheinlich – wie die meisten anderen auch –, diese Menschen würden in Dunkelheit leben. Sie würden ihren Zustand so erleben, wie Sie es erleben, wenn es stockfinstere Nacht ist oder Sie sich fest die Augen zuhalten. Das ist aber falsch! Wenn Geburtsblinde darauf angesprochen werden, dann verneinen sie, in Dunkelheit zu leben. Es ist in ihrer Welt nicht dunkel! Sie haben nie Helligkeit kennen gelernt und haben deshalb keine Vorstellung davon, was Dunkelheit ist. Einem Geburtsblinden erklären zu wollen, was Dunkelheit ist, ist genauso aussichtslos, wie ihm erklären zu wollen, was Rot, Grün, Blau und Gelb ist.


    Sie werden jetzt vielleicht einwenden: »Tatsächlich lebt der aber in Dunkelheit. Er weiß es nur nicht. Denn es ist nun mal entweder hell oder dunkel. Etwas Drittes gibt es ja gar nicht.« Aber wenn Sie das denken, dann schließen Sie von Ihrem subjektiven Erleben auf das subjektive Erleben anderer. Dunkelheit und Helligkeit sind keine physikalischen Zustände.

    Fledermäuse »sehen« mit den Ohren. Für sie haben Schallwellen eine ähnliche Bedeutung wie für uns Menschen elektromagnetische Wellen bestimmter Frequenzen. Versuchen Sie einmal, sich vorzustellen, wir Menschen würden von Fledermäusen abstammen. Dann würde sehen und hören die gleiche Wahrnehmung sein. Wie könnten wir dann noch Stille und Dunkelheit, Licht und Lärm voneinander unterscheiden?


    Gleich und ungleich zu gleich

    Alle Menschen sind gleich und doch sind alle Menschen ungleich. Man wird nie zwei Menschen finden, an denen nicht irgendetwas gleich und irgendetwas ungleich ist. Jeder Mensch hat einen Kopf und ein Gehirn darin. Dies ist allen Menschen gleich. Aber auch jeder Mensch hat seine ganz spezifischen Erbanlagen. Seine Chromosomen sind in ihrer spezifischen Struktur einzigartig.


    Wenn Sie nun daraus, dass es nicht zwei Menschen gibt, die überhaupt nichts Trennendes haben, den Schluss ziehen, zu sagen, »In letzter Instanz sind eben alle Menschen ungleich«, dann könnten Sie das Wort »gleich« aus unserer Sprache streichen, denn Sie werden nie zwei Dinge finden, die überhaupt nichts Trennendes haben.

    Ohne den Begriff »gleich« verliert auch der Begriff »ungleich« seinen Sinn.



    Wählen Sie in Ihrer Wohnung oder auf der Straße spontan immer zwei Gegenstände, Erscheinungen etc. und bestimmen Sie, was bei beiden gleich und was ungleich ist.


    Gegensätzliche Gefühle wechseln

    Die Relativität hat allerdings ihre Grenzen dort, wo es um unmittelbar erlebte subjektive Eigenschaften geht. Wenn Sie hungrig sind, dann sind Sie nicht gleichzeitig nichthungrig, wenn Ihnen eine Wunde schmerzt, dann schmerzt sie Ihnen nicht gleichzeitig nicht.

    Aber auch hier gilt, dass die Gegensatzpaare nur gemeinsam einen Sinn haben. Sie können nur Hunger empfinden, weil Sie wissen, wie es ist, nicht hungrig zu sein.

    »Jedes Wesen kann nur in
    seinem Gegenteil offenbar werden,
    Liebe nur in Hass, Einheit in Streit.«
    Schelling


    Außerdem verändern Sie sich ständig und schwanken zwischen Hunger und Nicht-Hunger. Wenn Sie die Bewegung hinzuziehen, dann stimmt es wieder, dann sind Sie das Eine wie das Andere.

    »Das dialektische Moment ist das eigene Sichaufheben solcher [..] Bestimmungen und ihr Übergehen in ihre entgegengesetzten.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel

    »Denn Sein und Nichtsein erzeugen einander.
    Schwer und Leicht vollenden einander.
    Lang und Kurz gestalten einander.
    Stimme und Ton vermählen einander.
    Vorher und Nachher folgen einander.«
    Laozi


    Vergangenheit und Zukunft

    So ist es denn auch mit der weiter vorn angesprochenen Vergangenheit und Zukunft. Sie existieren und sie existieren nicht. Je nachdem wie man es gerade »sieht«, in welchem Bezugsrahmen darüber ein Urteil gefällt werden soll.

    Die Relativität von Dingen

    Was für die Eigenschaften der Dinge und Erscheinungen gilt, gilt das auch für die Dinge und Erscheinungen selbst? Besteht ein Ding überhaupt aus mehr als seinen Eigenschaften?

    Nach Hume ist es ein in allen Menschen wohnender innerer Zwang, hinter den Eigenschaften – nur die können wir wahrnehmen – eine Substanz anzunehmen. Die Substanz sei letztlich eine Vermutung.


    Nehmen wir einen Wald. Wälder gibt es (noch). Ich gehe des Öfteren durch welche spazieren. Aber der Wald besteht aus Bäumen. Eigentlich sind es doch die Bäume, die existieren, nicht der Wald (den man ja bekanntlich manchmal vor lauter Bäumen nicht sieht). Der Wald ist eine Abstraktion oder eine Zusammenfassung meines Geistes. Aber der Baum besteht wiederum aus Laub, Ästen, Rinde, Wurzeln usw. Dieses alles wieder aus Zellen, diese aus Molekülen, diese aus Atomen usw. usf. Wenn ich nun immer weiter ins Kleine vorstieße, bliebe dann zum Schluss überhaupt noch etwas, wovon ich sagen könnte, es existiere nicht als meine Zusammenfassung?

    Es ist immer nur eine Frage der Betrachtung, des Bezugsrahmens oder der praktischen Absicht, ob ein Ding oder eine Erscheinung existiert oder nicht existiert.


    Weiter vorn im Kapitel Erkenntnistheorie hatte ich bereits das rote Kissen auf Ihrem Bett angesprochen. (Vielleicht liegt da auch ein blaues, gelbes oder orange, das spielt keine Rolle.) Für alle Kissen – egal welche Farbe – gilt:

    Das Kissen existiert und das Kissen existiert nicht!


    Je nachdem aus welchem Blickwinkel man es gerade betrachtet. Mit der zweiwertigen Logik ist das allerdings nicht vereinbar.

    Das ist dialektische Logik.


    Das Schiff des Theseus

    An dieser Stelle komme ich noch einmal auf das Schiff des Theseus zurück. Dialektisch gesehen sind beide Schiffe das Schiff des Theseus und beide sind es nicht. Keine Aussage ist wahrer als die andere. Es kommt immer darauf an, wie man es gerade »sieht«.

    Materie und Geist

    Ist das Sein primär materiell oder primär geistig? Das ist die Grundfrage der Philosophie. Beide Standpunkte haben gute Argumente. Der naturwissenschaftliche Betrachter mag sagen, Geist gibt es nur, wo eine physiologische Grundlage für ihn existiert, und der philosophische Betrachter mag sagen, Materie gibt es nur als Vorstellung des Geistes. Beide mögen recht haben, je nachdem, wie man es gerade »sieht«, mit welchem praktischen Ziel man es gerade beurteilt.

    »Wer über gewisse Dinge
    den Verstand nicht verliert,
    der hat keinen zu verlieren.«
    Gotthold Ephraim Lessing


    Und möglicherweise ist es sogar unabhängig von unserem menschlichen Dafürhalten im Sein tatsächlich so, dass Materie und Geist so zusammenhängen, sich gegenseitig bedingen, dass das Eine ohne das Andere nicht existieren kann, und dass es unmöglich ist, zu sagen, das Eine sei primär, das Andere sekundär. Weiter vorn wurde eine solche Auffassung bereits als Dualismus bezeichnet.

    »Ton knetend formt man Gefäße.
    Doch erst ihr Hohlraum, das Nichts,
    ermöglicht die Füllung. [...]
    Das Sichtbare, das Seiende,
    gibt dem Werk die Form.
    Das Unsichtbare, das Nichts,
    gibt ihm Wesen und Sinn.«
    Laozi


    Wenn es so ist, dass Materie und Energie, also Bewegung, untrennbar sind, das Eine ohne das Andere nicht existieren kann, ja beides sogar identisch ist bzw. ineinander umschlägt (E = mc²), warum sollte das Gleiche dann nicht auch für Materie und Geist gelten?

    Subjektives und Objektives

    Und so mag es auch mit dem Subjekt-Objekt-Problem sein. In meinem unmittelbaren Erleben unterscheide ich zwischen Subjekt und Objekt. Durch kritisches Denken komme ich dann zu dem Ergebnis, dass alles Objektive ein subjektives Erlebnis ist, und es folgt die Frage, ob es denn überhaupt etwas Objektives gibt. Aber durch weiteres Nachdenken komme ich zu dem Ergebnis, dass ich alles, was ich als subjektiv betrachte, objektivieren kann, zum Objekt meiner Betrachtung und meines Nachdenkens machen kann, einschließlich des Betrachtens und Denkens selbst. Ist es da nicht sinnvoll, zu sagen:

    Alles ist subjektiv und alles ist objektiv. Es kommt nur darauf an, wie man es gerade »sieht«.


    Wer bin ich?

    Und wenn ich hier erst einmal angekommen bin, wird auch das »Ich« problematisch. Wer oder was bin »Ich« eigentlich? Oder: Wer oder was sind Sie?

    Sie sind ein erlebendes Wesen. Wenn Sie alle Erlebnisse streichen würden (was gar nicht möglich ist), dann bliebe gar kein »Ich« mehr übrig. (Das ist Psychologischer Aktualismus. Dieser wird im 11. Kapitel näher erklärt.) Sie sind identisch mit Ihren Erlebnissen. Diese Erlebnisse ändern sich aber ständig. Neue kommen, alte verschwinden. Einige dieser Erlebnisse, die besonders stabil sind, die sich im Vergleich zu anderen nur sehr langsam ändern, die sind es, die Sie mit den Namen »Ich« bezeichnen.

    Sind Sie noch der gleiche Mensch, der Sie als Kind waren? Überlegen Sie, was Sie mit diesem Kind gemeinsam haben. Überlegen Sie, was Sie von diesem Kind unterscheidet. (Lösung 1)


    Nachdem Sie alles aufgeschrieben und darüber nachgedacht haben, kommen Sie vielleicht zu dem Ergebnis:

    Ich bin es und ich bin es nicht!


    Keine der beiden Aussagen ist wahrer als die andere! Die Frage, ob Sie als (z. B.) 18-Jährige(r) oder 30-Jährige(r) heute noch der sind, der Sie als 10-Jährige(r) waren, ist nicht eindeutig beantwortbar. Sie geraten in eine Aporie, es sei denn, Sie sind bereit, zwei sich widersprechende, sich gegenseitig ausschließende Sätze gleichermaßen als wahr anzuerkennen.

    »Das Wunderbare am Menschen ist,
    dass er wohl derselbe bleibt,
    aber nicht der gleiche.«
    Wilhelm Raabe
    Deutscher Schriftsteller (1831–1910)


    An dieser Stelle können Sie jetzt wohl auch verstehen, wie Heraklit dazu kam, zu sagen, wir würde in dieselben Flüsse steigen und doch nicht in dieselben Flüsse, wir seien es und wir seien es nicht. Wenn wir in einen Fluss steigen, in den wir Tage oder gar Jahre vorher gestiegen sind, dann hat er sich mehr oder weniger verändert, es ist der gleiche Fluss, aber doch nicht der gleiche Fluss. Auch wir selbst haben uns verändert. Wir sind es und wir sind es nicht.

    Sie sind nach dem Lesen dieses Textes nicht mehr der, der Sie vor dem Lesen dieses Textes waren.


    Die buddhistische Dharma-Lehre

    Dass sich alles ständig ändert, in jedem Moment schon wieder anders ist als in dem Moment davor, haben auch andere Philosophen in anderen Kulturkreisen erkannt, zum Beispiel der ungefähr zeitgleich mit dem Griechen Heraklit lebende Inder Siddhartha Gautama, der später den Ehrentitel »Buddha« erhielt, zu Deutsch »der Erleuchtete«. (Heraklit und Buddha haben voneinander nichts gewusst. Es gibt jedenfalls keinerlei Hinweise darauf.)

    Im Buddhismus werden die letzten Bestandteile allen Seins, aus denen alles zusammengesetzt ist, »Dharmas« genannt. Diese Dharmas sind aber nicht mit Atomen vergleichbar. Dharmas sind weder Materiepartikel noch Bewusstseinspartikel. Ein Dharma ist auch nicht etwas unablässig Daseiendes, sondern etwas, das kurz aufblitzt und sofort wieder verschwindet. Dauerhaftes, fortwährendes Sein gibt es gar nicht. Nur der Augenblick ist real. Das Universum ist ein ununterbrochener Strom einzelner Seinsmomente, ein Kontinuum der Vergänglichkeit.

    Deshalb gibt es auch kein dauerhaftes Ich (Psychologischer Aktualismus), kein dauerhaftes Bewusstsein. Auch Ich und Bewusstsein vergehen und entstehen in jedem Augenblick neu. Nur die Geschwindigkeit, mit der dieser Prozess abläuft, und die Vernetzung der einzelnen Seinsmomente erzeugt die Täuschung, es gäbe ein dauerhaftes Ich und ein dauerhaftes Sein. Die Zeit ist ein Aufeinanderfolgen lauter Einzelmomente und nicht ein kontinuierliches Fließen. Zur Dialektik Heraklits, nach der die Dinge sind und gleichzeitig nicht sind, scheint Buddha gedanklich nicht vorgedrungen zu sein.

    Seelenwanderung

    Nehmen wir einmal an – als Arbeitshypothese –, die in vielen Religionen und philosophischen Strömungen geglaubte Seelenwanderung oder Wiedergeburt würde tatsächlich stattfinden. Waren Sie in den früheren Leben das Ich, das Sie heute sind? Werden Sie in zukünftigen Leben das Ich sein, das Sie heute sind? Wenn Sie vor dem Hintergrund des in diesem Kapitel Vorgetragenen über diese Frage nachdenken, dann kommen Sie vielleicht zu dem Ergebnis:

    Ich war es und ich war es nicht. Ich werde es sein und ich werde es nicht sein.


    Weltbewusstsein

    Wenn die Welt – wie in vielen Religionen und philosophischen Strömungen angenommen – nur im Geist existiert, wenn es ein alles umfassendes Weltbewusstsein gibt, das sich in viele individuelle Einzelbewusstseins aufgespaltet hat, dann sind Sie auch das fremde Bewusstsein, dann sind Sie auch das andere Sie und wären es doch nicht. Es gäbe nur ein Bewusstsein und gäbe doch viele. Sie wären der ganze Weltgeist und doch nur ein Teil von ihm.

    Auch hier werden viele Vertreter der Naturwissenschaften oder des »Praktischen Lebens« abwinken. Für diese Menschen hier eine Äußerung eines der bedeutendsten Physiker des 20. Jahrhunderts, des Österreichers Erwin Schrödinger (1887–1961), dem Begründer der Wellenmechanik:

    Der Grund dafür, dass unser fühlendes wahrnehmendes und denkendes Ich in unserem naturwissenschaftlichen Weltbild nirgends auftritt, kann leicht in fünf Worten ausgedrückt werden: Es ist selbst dieses Weltbild. Es ist mit dem Ganzen identisch und kann deshalb nicht als ein Teil darin enthalten sein. [...] Bewusstsein gibt es seiner Natur nach nur in der Einzahl. Ich möchte sagen: Die Gesamtzahl aller »Bewusstheiten« ist immer bloß »eins«.


    Haben Sie schon einmal den Eindruck gehabt, die Gedanken eines anderen plötzlich in Ihrem Kopf zu haben?


    Ich hatte diesen Eindruck schon häufig. Viel zu oft, als es als Täuschung, als Einbildung abzutun.

    Das Sein und das Nichts

    Gibt es etwas, das bei all der Veränderung, bei aller dialektischen Bewegung und Widersprüchlichkeit, bei aller Relativität bleibt? Ein Kern des Seins, auf den die Dialektik der Identität von Sein und Nichtsein nicht anwendbar ist? Oder ist es so, wie Hegel und Heidegger meinen:

    Das Sein und das Nichts sind das Gleiche. (Und gleichzeitig doch nicht das Gleiche!)


    Das sprengt wahrscheinlich Ihr Vorstellungs- und Denkvermögen. Meins auch! Aber vielleicht werden Sie diese dialektische Aussage nach dem Lesen dieses Kapitels nicht mehr für so völlig absurd halten, sondern zumindest für überlegenswert. Es wäre schon viel erreicht, wenn Sie verstehen können, warum Leute eine solche Auffassung vertreten, auch wenn Sie diese Auffassung nicht teilen. Es waren immerhin zwei sehr berühmte, vielfach verehrte – allerdings auch vielfach schroff abgelehnte – Philosophen, die eine solche Auffassung vertraten.

    »Wäre der Tod nicht, es würde
    keiner das Leben schätzen.
    Man hätte vielleicht nicht
    einmal einen Namen dafür.«
    Jakob Bosshart (1862–1924)
    Schweizer Schriftsteller


    Verschiedene Wirklichkeiten

    Das Sein mag aus verschiedenen, einander ausschließenden Wirklichkeiten bestehen. Verständlich machen möchte ich diese Hypothese, indem ich sie mit einer Aussage der Relativitätstheorie vergleiche.

    Die Krümmung des Universums, die Existenz eines grenzenlosen und trotzdem endlichen Raumes können Sie sich wohl nicht vorstellen. Die in populärwissenschaftlichen Fernsehsendungen aufgeblasenen Luftballons – auf die Galaxien aufgemalt sind –, die das expandierende, in sich gekrümmte Weltall demonstrieren sollen, sind eher eine Irreführung als eine Erkenntnishilfe. Wir sehen ein kugelförmiges Weltall und fragen uns unwillkürlich, was denn nun außerhalb dieses Weltalls ist. Aber der Relativitätstheorie nach gibt es kein Außerhalb, denn das Universum ist nicht kugelförmig. Ein gekrümmter Raum widerspricht unserem Raumempfinden und ist deshalb unvorstellbar.



    »Vorstellen« bedeutet, vom Wortursprung her, etwas »vor sich stellen«, es damit anschaulich machen. Aber einen gekrümmten Raum können Sie sich nicht anschaulich machen. Sie können nur gedanklich auf ihn schließen. Die Relativitätstheorie können Sie erst verstehen, wenn Sie darauf verzichten, sie sich anschaulich machen zu wollen.


    Ähnlich verhält es sich mit verschiedenen Wirklichkeiten. Wenn Sie ausgehen von einem naiven oder auch kritischen Realismus bzw. Materialismus und die uns umgebende raum-zeitliche Wirklichkeit »und« alles, was in ihr ist (dialektisch gesehen ist die Wirklichkeit identisch und gleichzeitig nicht identisch mit ihren Inhalten), als ein auch unabhängig vom denkenden Betrachter existierendes objektives Faktum ansehen und versuchen, neben diese Wirklichkeit noch eine andere, diese Wirklichkeit ausschließende Wirklichkeit zu stellen, dann ist dies unmöglich. Zwei sich gegenseitig ausschließende, unabhängig von Ihnen existierende Wirklichkeiten können Sie sich nicht gleichzeitig existierend vorstellen. Sie können nur gedanklich darauf schließen, dass es aus verschiedenen geistigen Blickwinkeln verschiedene, einander ausschließende Wirklichkeiten gibt, die gleichzeitig, oder zeitlos, vorhanden sind. Mehr nicht.

    Und wer das alles für realitätsferne Fantastereien hält, der sollte Folgendes wissen:

    Die Quantenphysik geht davon aus, dass Quanten verschiedene Zustände gleichzeitig einnehmen und scheinbar erst durch unsere Beobachtung auf eine bestimmte Wirklichkeit festgelegt werden! Auch in diesem unvorstellbar kleinen Bereich scheinen wir, sobald wir erkennend in ihn vordringen, Wirklichkeit zu schaffen.


    Aber irgendwie muss es doch schließlich sein!?

    Wenn nun jemand sagt, wir Menschen könnten zwar nicht überall entscheiden, ob es so oder so ist, aber einen wie auch immer gearteten tatsächlichen eindeutigen Zustand müsse das Sein und seine einzelnen Bestandteile ja nun mal haben, dann schließt er von seinem Denken auf das Sein! Wir Menschen denken so.

    Unser Verstand funktioniert so, dass es überall und immer einen eindeutigen Zustand geben muss, ob wir ihn nun kennen oder nicht. Wahrscheinlich denken wir so, weil wir in unserem praktischen Leben eindeutige Tatsachen als Handlungsgrundlage brauchen.


    Wir können schlecht planen, wenn wir sagen würden: »Eventuell gibt es den Supermarkt am Ende der Straße, eventuell gibt es den aber auch nicht.« Aber was unser aus dem praktischen Leben hervorgegangener Verstand noch wert ist, wenn wir über das Sein schlechthin nachdenken, das wissen wir nicht.

    Einige könnten eine solche Einsicht als Rechtfertigung für irrationale Glaubenssätze ansehen. Aber über den Alltagsverstand, über die zweiwertige Logik hinaus gedanklich zur Dialektik vorstoßen, bedeutet nicht, seinen Verstand aufzugeben.

    Über die Vernunft hinaus! Aber nicht hinter die Vernunft zurück!


    »Es gibt zwei gefährliche Abwege:
    die Vernunft schlechthin abzulegen und
    außer der Vernunft nichts anzuerkennen.«
    Blaise Pascal



    Einige weitere Aspekte der Dialektik

    Aufheben

    Interessant im Zusammenhang mit der These von der Existenz und gleichzeitigen Nichtexistenz von Gegenständen und Eigenschaften ist Hegels Vorstellung vom Prozess des Aufhebens.

    Das Wort Aufheben hat in der hegelschen Dialektik die dreifache Bedeutung, die es auch in der deutschen Sprache hat:

    Aufheben im Sinne von »Beseitigen«

    Ein Gesetz aufheben.


    Aufheben im Sinne von »Bewahren«

    Ein Foto aufheben.


    Aufheben im Sinne von »Hinaufheben« auf eine höhere Stufe bringen.

    Ein Kind aufheben.



    Bei der Beurteilung eines Menschen, eines Dinges oder eines Ereignisses schlagen wir oft von einem Extrem ins andere, um dann am Ende zu einer »goldenen Mitte« zu gelangen, die aber mehr ist als einfach nur ein Kompromiss zwischen den anfänglichen Extrempositionen. These und Antithese werden »aufgehoben«. Es entsteht die Synthese.


    Die Einheit und der Kampf der Gegensätze

    In der dialektischen Sicht des Seins ist dieses von Gegensätzen, von Widersprüchen durchzogen. Die Widersprüche sind die Triebkraft der Bewegung und Bewegung ist die Voraussetzung von Existenz.

    Natur: Nach dem heutigen Erkenntnisstand sind Atome Energiebündel. Diese bestehen aus gegensätzlichen positiv und negativ geladenen Teilchen, die die Bewegung hervorrufen. Die Materie existiert nur, weil sich etwas durch Gegensätze hervorgerufen bewegt.

    Individuum: Das Wesen des Menschen (soweit mein Erkenntnisvermögen reicht) ist seine Bedürftigkeit. (Das wird im Kapitel über den Menschen noch näher erklärt.) Ein Bedürfnis ist ein Widerspruch zwischen einem vorhandenen Zustand und einem gewünschten Zustand. (Ich habe Hunger und will nichthungrig sein.) Aus diesem Widerspruch entsteht menschliches Handeln. Das Streben, Bedürfnisse zu befriedigen, ist der Wille, der im 7. Kapitel noch näher erläutert wird. Ohne Widersprüche kein Bedürfnis, kein Wille, keine Handlung, sprich: keine Bewegung.

    Gesellschaft: Gesellschaftliche Institutionen wie Staat und Familie haben keine materielle Existenz wie zum Beispiel ein Haus oder ein Baum. Sie existieren dadurch, dass Menschen sich in einer gewissen Weise verhalten und in diesem Verhalten, sprich »Bewegen«, Regelmäßigkeiten sind. Im Falle des Staates und der Familie geht dieses Verhalten daraus hervor, dass der Mensch sich viele Bedürfnisse nur in einer geregelten Gemeinschaft befriedigen kann, er aber andererseits gegenüber der Gemeinschaft ein Individuum ist. Der Staat hat deshalb das Gewaltmonopol, weil fast alle Bürger das so wollen. Der Staat wird im Kapitel Staatsphilosophie und Gesellschaftsphilosophie noch näher erläutert.


    »Das Gleiche lässt uns in Ruhe,
    aber der Widerspruch ist es,
    der uns produktiv macht.«
    Johann Wolfgang von Goethe


    Das Umschlagen quantitativer in qualitative Veränderungen

    Quantitative Veränderungen schlagen ab einer bestimmten Stufe in qualitative Veränderungen um.

    Natur: Wasser verändert seinen flüssigen Zustand nicht, solange es eine Temperatur zwischen (je nach Luftdruck) 0 und 100 Grad hat. Darunter aber wird es fest, darüber gasförmig.

    Individuum: Das quantitative Anhäufen von Wissen kann nach einer gewissen Zeit zu einer qualitativen Veränderung des Bewusstseins, des intellektuellen Niveaus eines Menschen führen. Diese Entwicklung geht normalerweise bei jedem Menschen bei der Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen vor sich. Diese qualitativen Sprünge können auch mehrfach stattfinden. (Ich kenne das aus eigenem Erleben! Das ist für mich nicht nur Theorie.)

    Gesellschaft: Kleine Reformen auf politischem und sozialem Gebiet verändern eine Gesellschaft noch nicht grundlegend. Hält eine solche Entwicklung aber über einen längeren Zeitraum an, entsteht eine neue Qualität von Gesellschaft, eine Entwicklung, die in den letzten 100 Jahren in Westeuropa vor sich gegangen ist.



    Die Entstehung neuer Bewusstseins-Qualitäten ist das wirklich Wichtige und Erstaunliche am intellektuellen Fortschritt.


    Es ist darüber hinaus nach meiner Auffassung der einzige erkennbare Sinn und die einzige Rechtfertigung für die gesamte Evolution des Lebens zu höheren Formen und der Qualen, die diese Höherentwicklung mit sich bringt.

    »Wissen und Erkennen sind die Freude
    und die Berechtigung der Menschheit.«
    Alexander von Humboldt


    Vom Niederen zum Höheren

    Der Dialektik nach gibt es eine gesetzmäßige Entwicklung vom Niederen zum Höheren, von einfachen zu komplexeren Strukturen. Der heutige Erkenntnisstand der Naturwissenschaften stützt im Kern diese Auffassung.

    »Die Entstehung des Lebens auf der Erde
    mit dem Zufall erklären heißt, von der
    Explosion einer Druckerei das
    Zustandekommen eines Lexikons
    zu erwarten.«
    Edwin Conklin (1863–1952)
    Amerikanischer Biologe


    Höherentwicklung der Materie

    Nach dem Urknall entstanden Wasserstoffatome. Diese ballten sich zu Sonnen, in deren Zentren und bei deren Explosionen (Supernovae) alle höheren Atome bzw. chemischen Elemente zusammengebacken bzw. zusammengepresst wurden. Als Nächstes entstanden Atomverbindungen, sprich Moleküle. Wo es die Umweltbedingungen zuließen, immer komplexere Moleküle bis hin zu Zellen und den sich selbst replizierenden Großmolekülen, der DNS, als Träger von Erbinformationen.

    »Ganz gleich, wie beschwerlich das Gestern war,
    stets kannst Du im Heute von Neuem beginnen.«
    Buddha


    Höherentwicklung des Lebens

    In der Evolution des Lebens auf diesem Planeten ist eine Entwicklung von einfachen zu komplexeren Lebewesen feststellbar. Von der Zelle ohne Zellkern zu der mit Zellkern. Vom Einzeller zum Mehrzeller. Von der Nervenzelle zur Zusammenballung vieler Nervenzellen, daraus die Entstehung der Gehirne und ihre Vergrößerung.

    »Per aspera ad astra.«
    Lateinisches Sprichwort
    (»Durch das Raue zu den Sternen«)


    Höherentwicklung des Bewusstseins

    Damit dann – wie viele Naturwissenschaftler und die philosophischen Materialisten annehmen – die Entstehung des Bewusstseins. Die quantitative und qualitative Weiterentwicklung des Bewusstseins bzw. seiner Inhalte bis zu der heute in den gebildeten Menschen in Form von Wissenschaft und Philosophie realisierten Form.

    »Wenn man das Dasein als eine Aufgabe betrachtet,
    dann vermag man es immer zu ertragen.«
    Marie von Ebner-Eschenbach


    Objektives Wissen

    Dadurch wird die Entstehung »Objektiven Wissens« ermöglicht, wie Popper es nennt, dem Wissen, das in Bibliotheken, Archiven, Dokumentationen, Computern gespeichert und oft in keinem Gehirn präsent ist.

    Höherentwicklung der Ethik

    Es gibt eine ethische Höherentwicklung in der Geschichte, aber leider nicht im Sinne eines Automatismus, nicht im Sinne einer Unumkehrbarkeit, nicht in dem Sinne, dass es etwa heute keine Verbrechen mehr gäbe. Aber je größer der allgemeine Zivilisierungsgrad eines Menschen bzw. einer Menschengruppe, desto höher ist tendenziell ihre Ethik. Es gab in der Antike keine Haager Landkriegsordnung, keine Genfer Konvention, keine Menschenrechtskataloge. Aber es gab die Anfänge. Die Stoiker forderten bereits eine allgemeine Menschenliebe, als es noch üblich war, feindliche Völker zu versklaven oder zu vernichten. Im Mittelalter waren Folter und Krieg nicht problematisiert. Lediglich einzelne Personen kritisierten solche Dinge. In ihnen kündigten sich zukünftige Entwicklungsphasen der Menschheit an.

    Wenn der Massenmord an den Juden in der Antike stattgefunden hätte, dann hätte so gut wie keiner ein großes Aufheben davon gemacht. Die Pogrome an Juden im Mittelalter wurden von der großen Mehrheit der Menschen in keiner Weise problematisiert.


    Die Zahl der Menschen, die Folter, Krieg, Morde etc. ablehnen, ist in den fortgeschritteneren, freieren Ländern größer, als es im Mittelalter der Fall war und wie es noch heute in rückschrittlichen, unterentwickelten Ländern der Fall ist. In den gebildeteren Schichten ist sie größer als in den weniger gebildeten Schichten.

    Wenn nach dem Bekanntwerden eines scheußlichen Sexualverbrechens eine Umfrage in der Bevölkerung stattfindet, dann wollen die meisten Angehörigen der weniger gebildeten Schichten den Täter, aus berechtigtem Zorn, auf mittelalterliche Weise totmachen. Die Angehörigen der gebildeteren Schichten plädieren eher für Sicherheitsverwahrung und psychotherapeutische Behandlung.


    Ontologischer Mehrwert

    Im Verlaufe der Entwicklung vom Niederen zum Höheren kommt es zu »Dialektischen Sprüngen«, es entsteht dann etwas Neues, das vorher nicht da war. In Anlehnung an einen Begriff aus der marxistischen Ökonomie nennt man es auch etwas ironisch den »ontologischen Mehrwert«. Da es sowohl idealistische wie materialistische Dialektiker gibt, gibt es unterschiedliche Vorstellungen darüber, was im Einzelnen neu entsteht.

    Die Marxisten, als materialistische Dialektiker sehen das Bewusstsein als Ergebnis eines dialektischen Sprunges. Ab einem bestimmten Entwicklungspunkt des Gehirns entstehe etwas, das vorher nicht war: Bewusstsein. Dieses habe zwar zur Voraussetzung physiologische Prozesse, sei aber selbst etwas nicht Physiologisches, sondern etwas gänzlich anderes. Nach Lenin ist es das einzig Immaterielle überhaupt.

    Kategoriales Novum

    Der deutsche Philosoph Nicolai Hartmann (1882–1950) sieht das ähnlich. Im Verlauf der Entstehung höherer Schichten würden neuartige Kategorien auftauchen, die in den niederen Schichten noch nicht waren. Hartmann nennt dies »Kategoriales Novum«.

    Einen dialektischer Sprung hat es gegeben bei der Entwicklung vom Affen zum Menschen.


    Wir Menschen haben ein dreimal so großes Großhirn wie unsere nächsten Verwandten im Tierreich, die Schimpansen. Wir sind deshalb aber nicht einfach dreimal so klug wie die Schimpansen. Es ist nicht so, dass wir Menschen alles, was die Schimpansen können und wissen, dreimal so gut können und wissen. Nein, wir sind ein qualitativer Sprung. Wir haben Zugang zu Seinsbereichen, von deren Existenz die Affen keinen blassen Schimmer haben. Wir Menschen haben diese höheren Seinsbereiche zum Teil überhaupt erst geschaffen: Wissenschaft, Philosophie, Bücher, Internet etc. Diese Bereiche befinden sich außerhalb des geistigen Horizonts aller anderen Lebewesen auf diesem Planeten.

    Warum sollten qualitative Sprünge wie vom Affen zum Menschen nicht auch in der zukünftigen Evolution auftreten?



    »Es ist der Menschheit eigen, dass sie sich über die Menschheit erheben muss.« Friedrich Schlegel


    »Echte Lebensweisheit ist der Bewegung hold,
    nicht dem Stillstande.
    Ernst von Feuchtersleben




    Lösungen 6. Kapitel

    Lösung 1:
    Gemeinsam: Name, Eltern, Geschwister, bestimmte Körpermerkmale, bestimmte Dinge, die Ihnen schon als Kind gehörten. Erinnerungen an frühere Erlebnisse. Eventuell dieselbe Wohnung, dasselbe Zimmer.
    Unterschied: Größe in cm, Schuhgröße, mehr Wissen, verändertes Aussehen, Veränderungen des Körpers in der Pubertät, Interesse an Sex. (Die Veränderungen, die ein Mensch in den 50ern (wie der Autor) gegenüber seinem Zustand als Kind registrieren kann, sind noch viel größer, als bei Teenies und Twens!)
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    7. Kapitel

    Wille, Freiheit und Determinismus

    In diesem Kapitel wird vermittelt:

    • Was Willensfreiheit bedeutet.
    • Was Kausalität, Determination und Präferierung bedeuten.
    • Was man unter Zufall, Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit versteht.


    Determinismus

    Kausalität und Determinismus

    Mach doch, was du willst!?
    Geht das überhaupt?
    Gibt es überhaupt einen freien Willen?


    Im Kapitel über die grundsätzlichen Tatbestände des Seins haben Sie schon die Kausalität kennen gelernt, nach der die Welt von Ursache-Wirkungs-Ketten durchzogen ist.

    Eng damit zusammen hängt der Determinismus (von lat. »determinare« = abgrenzen, bestimmen). Das ist die philosophische Lehre von der gesetzmäßigen, kausalen Vorherbestimmtheit aller Ereignisse. Die Existenz von Zufall und Willensfreiheit wird verneint. Ein Tatbestand determiniert bzw. bestimmt mit Notwendigkeit einen anderen Tatbestand. Es kann aus dem Einen nichts anderes hervorgehen, als hervorgeht.

    Jedes Ereignis ist durch ein anderes Ereignis verursacht. Es gibt eine seit Beginn der Welt oder, falls die Welt keinen Anfang haben sollte, seit Ewigkeit eine ununterbrochene, freilich wahnsinnig komplizierte, vielfältige und von niemandem überschaubare Kausalkette, innerhalb derer alles notwendig und nichts zufällig geschieht. Dazu Spinoza:

    Es gibt nur Eine, alle Determination und Negation von sich ausschließende, unendliche Substanz, welche Gott genannt wird und das Eine Sein in allem Dasein ist.


    Nach der gegenwärtig vorherrschenden astrophysikalischen Theorie ist unser Universum in einem Urknall entstanden. Sollte der Determinismus stimmen, dann würde dies bedeuten, dass im Moment des Urknalls das weitere Schicksal des Universums und aller seiner Inhalte bereits feststand. Auch die Tatsache, dass Sie ca. 13 Milliarden Jahre später geboren werden und dass Sie gerade in diesem Moment diesen Absatz lesen.



    Dass einem dies absurd und unvorstellbar erscheint, ist aber kein Argument! Sie haben in den bisherigen Kapiteln ja schon vieles kennen gelernt, was wir uns nicht vorstellen können.


    Mit Kausalität und Determinismus hängt auch das weiter vorn bereits angesprochene Induktionsprinzip zusammen. Aus der (angenommenen, vorausgesetzten) Tatsache, dass bestimmte Ereignisse immer auf andere bestimmte Ereignisse folgten, wurde geschlossen, dass dies auch in der Zukunft so sein wird.

    Dem widersprach Hume:

    Es ist [..] unmöglich, dass irgendein Erfahrungsbeweis die Ähnlichkeit der Vergangenheit mit der Zukunft erweisen könnte. Mag der Gang der Dinge bislang auch noch so regelmäßig gewesen sein, so kann das allein nicht beweisen, dass es auch in Zukunft so bleiben werde.

    »Das lineare Kausalitätsdenken
    liefert schon lange keine
    Erklärungen mehr:
    Auf A muß nicht B folgen.«
    Paul Watzlawick (1921–2007)
    Österreichisch-Amerikanischer Philosoph


    Möglichkeit und Unmöglichkeit

    Nur in einer Welt ohne totale Determination gibt es so etwas wie echte Möglichkeit.

    Möglichkeit bedeutet, dass etwas, das war, ist oder sein wird, auch anders sein könnte, als es war, ist oder sein wird.


    Der Gegenbegriff zur Möglichkeit ist die Unmöglichkeit.

    Unmöglichkeit bedeutet, dass etwas das war, ist oder sein wird, nicht anders sein kann, als es war, ist oder sein wird.


    Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit

    Nur in einer Welt ohne totale Determination gibt es so etwa wie echte Wahrscheinlichkeit.

    Wahrscheinlichkeit bedeutet, dass etwas nicht nur möglich ist, sondern viele Gründe, Gedanken, Annahmen etc. dafür sprechen, dass etwas wahr zu sein scheint. Eventuell ist es aber auch nicht wahr.


    Der Gegenbegriff zur Wahrscheinlichkeit ist die Unwahrscheinlichkeit.

    Unwahrscheinlichkeit bedeutet, dass etwas unwahr zu sein scheint. Es spricht jedenfalls viel dafür, dass es unwahr ist. Eventuell stimmt es aber doch.


    Zufall

    Zufall kann zweierlei und zwar Grundverschiedenes bedeuten.

    1. Zufall nennt man ein Ereignis, das nicht vorhersehbar, beabsichtigt, wahrscheinlich oder notwendig ist. Solche Zufälle sind relativ. Innerhalb eines bestimmten Bezugsrahmens bzw. aus einem bestimmten Blickwinkel erscheint etwas als Zufall, das innerhalb eines anderen Bezugsrahmens notwendig ist. Zufall ist hier abhängig von der Erkenntnisabsicht oder dem Erkenntnisvermögen.

    »Der Zufall ist die in Schleier gehüllte Notwendigkeit.«
    Marie von Ebner-Eschenbach


    2. Zufall kann man auch ein Ereignis nennen, das ohne Grund, ohne Ursache stattfindet. Das wäre dann ein absoluter oder ein echter Zufall. Ob es absolute Zufälle gibt, ist in der Philosophie und der Naturwissenschaft umstritten. Einige Philosophen gehen aus von der durchgängigen Determinierung aller Ereignisse und bestreiten damit die Existenz von absoluten Zufällen. Zu diesen Philosophen gehören u. a. Spinoza, Schopenhauer und Nietzsche.

    »Auch das Zufälligste ist nur ein auf entfernterem
    Wege herangekommenes Notwendiges.«
    Arthur Schopenhauer


    Andere Philosophen halten absolute Zufälle für möglich, zum Beispiel Popper und Weizsäcker. Sie verweisen auf die Erkenntnisse der Quantenphysik. (Näheres weiter hinten in diesem Kapitel.)

    3. Zufällig werden auch Eigenschaften einer bestimmten Sache genannt, die dieser nicht unbedingt zukommen müssen (um die bestimmte Sache zu dieser bestimmten Sache zu machen), sondern auch anders sein könnten.

    Zum Menschen gehört notwendigerweise ein Gehirn. Die Hautfarbe, Länge der Beine etc. sind zufällig. (Wenn man die Erbanlagen eines Menschen betrachtet, sind diese Eigenschaften allerdings nicht mehr zufällig.)



    Wenn alles durchgehend determiniert ist, dann ist auch die Tatsache, dass der eine an die Willensfreiheit und echte Zufälle glaubt und der andere daran nicht glaubt, determiniert.


    Wahrscheinlichkeit, Möglichkeit und Zukunft

    Auf die Zukunft bezogen, bedeutet Wahrscheinlichkeit, dass vieles dafür spricht, dass bestimmte Entwicklungen stattfinden, bestimmte Ereignisse eintreten. Eventuell aber auch nicht.

    Möglichkeit bedeutet auf die Zukunft bezogen, dass diese offen, nicht vorherbestimmt ist.

    Im Rahmen eines deterministischen Weltbildes gibt es keine echte Möglichkeit und keine echte Wahrscheinlichkeit, sondern nur Wirklichkeit und Notwendigkeit. Echte Möglichkeit und echte Wahrscheinlichkeit anzunehmen, ist in diesem Rahmen subjektive Täuschung. Da das erkennende Subjekt nicht in der Lage ist, alle im Sein vorhandenen Kausalketten zu überblicken und in die Zukunft weiterzudenken, gibt es aus seiner beschränkten Sicht Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit, die aber aus der »Makroperspektive« keine sind. Es gibt auch keinen absoluten Zufall und keine Willensfreiheit.

    Dialektik

    Notwendigkeit und Zufall sind im Rahmen des dialektischen Denkens relative Begriffe. Ob etwas notwendig oder zufällig ist, ist immer eine Frage der Betrachtung, des Bezugsrahmens.

    Innerhalb eines deterministischen Weltbildes ist aus der Makroperspektive alles notwendig. Wenn aber alles notwendig ist, so sagt die Dialektik, dann ist auch wiederum alles zufällig.

    Zufälligkeit und Notwendigkeit sind Gegensätze, die einander bedingen, die einander brauchen, weil jeder Pol zu seiner Existenz den entgegengesetzten Pol braucht.



    Präferierung

    Eine abgeschwächte und damit aber auch fundamental andere Theorie als die des Determinismus ist die Theorie der Präferenz (von lat. »praefere« = vorziehen). Präferenz bedeutet Vorrang, Vorzug, Vergünstigung.

    Dass ein bestimmter Tatbestand einen anderen bestimmten Tatbestand präferiert, heißt, dass es eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür gibt, dass der eine Tatbestand einen bestimmten anderen Tatbestand hervorruft, aber keine Unabwendbarkeit besteht. Es kann sich auch etwas anderes entwickeln.

    World of propensities

    Popper sprach in diesem Zusammenhang von der »world of propensities« (von englisch »propensity« = Hang, Neigung).

    Für Popper ist die Welt weder ein ungeordnetes Chaos, noch ein bis ins Letzte hinein determiniertes Gebilde. Deshalb habe der Mensch die Möglichkeit zu verantwortungsvollem und gestaltendem Handeln.

    Popper stellt die Frage:

    Sind alle Wolken Uhren oder sind alle Uhren Wolken?

    Für den Deterministen sind alle Wolken letztendlich Uhren, weil alle Vorgänge, so wenig wir auch in der Lage wären, es vorauszusagen, in ihrer Entwicklung bis ins Letzte vorherbestimmt seien. Für Popper als Indeterministen sind alle Uhren in letzter Instanz Wolken, weil selbst ihr Verhalten nicht mit letzter Notwendigkeit vorausbestimmt sei.

    Gene und Lebensumstände

    Es vergeht fast kein Tag mehr, an denen nicht in Zeitungen oder Fernsehen berichtet wird, Genforscher hätten festgestellt, dass bestimmt Genkonstellationen nicht nur bestimmte körperliche Merkmale, sondern auch bestimmte Verhaltensweisen bewirken. Was aber bei solchen Berichten zu beachten ist:

    Bestimmte Genkonstellationen können einen Menschen zu einem bestimmten Verhalten präferieren, was aber nicht unbedingt bedeuten muss, dass sie ihn zu diesem Verhalten determinieren.


    Auch die Lebensumstände von Menschen präferieren sie zu einem bestimmten Verhalten.

    Männliche Jugendliche, die in ihrer Familie viel Gewalt erleben und erlebt haben, sind häufiger gewalttätig als solche, die in ihren Familien keine oder wenig Gewalt erleben.


    Aber: Nicht jeder Jugendliche, der viel Gewalt erlebt, begeht schwere Körperverletzung.

    Bestimmte Lebensumstände präferieren Menschen zu einem bestimmten Verhalten, was aber nicht unbedingt bedeuten muss, dass sie sie zu diesem Verhalten determinieren.



    Warum sollte ein gut aussehender Mann, der sich vor Verehrerinnen nicht retten kann, eine Frau mit Gewalt nehmen? Der kann genug Sex bekommen, einschließlich aller ausgefallenen Vorlieben. Ein nicht gut aussehender Mann hat nicht das Glück, dass ihm der Sex sozusagen nachgeschmissen wird. Aber deshalb vergewaltigen unattraktive Männer nicht automatisch Frauen.



    Willensfreiheit

    Der Begriff »Willensfreiheit« wird von verschiedenen Philosophen und in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen unterschiedlich benutzt. In der Regel geht es um die Frage, ob der Mensch die echte Möglichkeit hat, zwischen verschiedenen Handlungen frei zu entscheiden, oder ob seine Entscheidung – eventuell auch ohne dass er dies bemerkt oder erkennen kann – vorherbestimmt bzw. determiniert ist.

    »Der Mensch hat freien Willen – das heißt,
    er kann einwilligen ins Notwendige.«
    Christian Friedrich Hebbel (1813–1863)
    Deutscher Schriftsteller


    Es ist in der Philosophiegeschichte sehr häufig behauptet worden, die menschliche Willensfreiheit existiere in Wirklichkeit gar nicht, da jeder Mensch in Kausalketten eingebunden sei und zwangsweise so handeln muss, wie er handele. Freiheit sei nur subjektiver Schein, da wir die Kausalketten nicht kennen, uns ihrer nicht bewusst seien.

    »Freiheit kann gar nichts anderes heißen als seiner
    innersten Natur sklavisch folgen zu dürfen.«
    Rahel Varnhagen von Ense (1771–1833)
    Deutsche Schriftstellerin


    Zu den Philosophen, die dies behaupten, gehören u. a. Spinoza, Schopenhauer und Nietzsche. Was wir wollen, sei determiniert.

    Die Existenz eines freien Willens und die Existenz echter Zufälle wird in der Philosophie mehrheitlich verneint.


    »Der Mensch kann wohl tun, was er will,
    aber er kann nicht wollen, was er will.«
    Arthur Schopenhauer


    Kritiker dieser Mehrheitsmeinung wenden ein, die Verneiner von Willensfreiheit und Zufall würden vom Denken auf das Sein schließen. Durch ein solches Schließen würde man kein sicheres Wissen über das Sein erlangen. Zum Beispiel Hume und Kant argumentieren so oder ähnlich.

    Auf dem Boden eines konsequenten Skeptizismus ist die Frage unbeantwortbar, ob der Mensch Willensfreiheit hat oder in seinem Verhalten total determiniert ist.


    Beides ist denkmöglich. Wenn man als Ausgangspunkt für Philosophieren das unmittelbare Erleben nimmt, wie Subjektphilosophen es machen, verschwindet die Selbstverständlichkeit der durchgehenden Determinierung. Im unmittelbaren Erleben gibt es ein Miteinander. Wahrnehmung und Erinnerung zusammen ergeben ein Nacheinander. Ein »Durcheinanderbedingt«, eine Kausalität ist auf dieser Ebene eine Vermutung.

    Auch wenn der Geist physiologische Grundlagen haben sollte, dann ist damit nicht ausgeschlossen, dass er eine Autonomie entwickeln kann. Der Geist ist nicht identisch mit den physiologischen Grundlagen. Nicht alle Entscheidungen des Geistes müssen durch Kausalketten im physiologischen Bereich bedingt sein.



    Schuld und Verantwortung

    Ist ein Stein verantwortlich dafür, dass er Ihnen auf den Fuß fällt? Hat er die Schuld daran, dass Ihnen der Fuß wehtut?


    Die Begriffe »Ursache« und »Bedingung« haben keine ethische Bedeutung. »Verantwortung« und »Schuld« haben dagegen eine ethische Bedeutung.

    »Wie kann denn überhaupt jemand schuldig sein?
    Wir sind Gottes Geschöpfe. Wenn wir schuldig sind,
    was ist er dann?«
    Franz Kafka


    Es gibt die Auffassung, Verantwortung und Schuld setze voraus, dass jemand die Freiheit haben müsse, sich für das Eine oder das Andere zu entscheiden.

    Angeklagter: »Herr Richter, bevor Sie Ihr Urteil sprechen, bitte ich Sie zu bedenken, dass bereits im Moment des Urknalls feststand, dass ich diesen Mord begehen werde. Wollen Sie ein Handeln bestrafen, das Teil einer unabänderlichen Kausalkette ist?«



    Kann ein Mensch Schuld auf sich laden, wenn er überhaupt keine Willensfreiheit hat?



    Richter: »Es stand im Moment des Urknalls auch bereits fest, dass ich Sie für diesen Mord aufhängen lasse. Dies wird wiederum Ursache dafür sein, dass andere potentielle Mörder aus Angst vor der Todesstrafe nicht zu Mördern werden.«


    Strafe wird innerhalb eines deterministischen Weltbildes nicht überflüssig. Aber »Strafe« als ethische Größe setzt voraus, dass es die ethischen Größen »Verantwortung« und »Schuld« gibt.

    Eine wirkliche Schuld, eine wirkliche Verantwortung gibt es nur, wenn es auch eine wirkliche Willensfreiheit gibt, ansonsten ist Schuld und Verantwortung ebenso subjektiver bzw. intersubjektiver Schein wie Freiheit und Zufall.


    Unser Rechtssystem beruht auf der Annahme, dass erwachsene, geistig gesunde Menschen sich frei entscheiden können, eine bestimmte Straftat zu begehen oder zu lassen. Man spricht in diesem Falle von »Schuldfähigkeit«. Lediglich Kindern, geistig Behinderten und Menschen in bestimmten seelischen Ausnahmesituationen, Trunkenheit etc. gesteht man zu, dass sie für ihr Handeln nicht verantwortlich sind. Dem steht entgegen, dass unser Kausalitäts-Denken die Existenz echter Freiheit, Verantwortung und Schuld ausschließt.

    Freiheit, Verantwortung und Schuld sind Antinomien bzw. Paralogismen.



    Wird durch eine solche Auffassung nicht jeder auch der allergrößte Verbrecher entschuldigt? Kann man Despoten wie Hitler und Stalin und die Zehntausende, die für sie gemordet haben, überhaupt noch für ihre Taten verantwortlich machen? Ist bei mangelnder Willensfreiheit ein Massenmörder nicht vergleichbar mit einem Erdbeben oder Vulkanausbruch?


    »Niemand ist für seine Taten verantwortlich,
    Niemand für sein Wesen ...«
    Friedrich Nietzsche



    Naturwissenschaftliche Positionen

    Die Bestreiter der Willensfreiheit berufen sich häufig auf die Naturwissenschaft, besonders in früheren Jahrhunderten war dies so.

    Zu Beginn des Aufschwungs der Naturwissenschaften zu ihrer heutigen Bedeutung herrschte der mechanische Materialismus vor. Alles galt als determiniert. Seit Ende des 19. Jahrhunderts, besonders mit der Entstehung der Quantenmechanik, ist eine solche Auffassung in der Naturwissenschaft nicht mehr unumstritten.

    Heisenberg

    Der deutsche Physiker und Mitbegründer der Quantenmechanik, Werner Heisenberg (1901–1976), stellte die »Theorie der Unschärferelation« auf. Diese besagt, dass im subatomaren Bereich keine genauen Messungen möglich seien, da der Beobachtungs- bzw. Messvorgang auf das zu beobachtende Objekt eine Auswirkung habe, zum Beispiel bezüglich seines Ortes, seiner Energie etc. Da Heisenberg gleichzeitig forderte, in der Physik nur beobachtbare Größen zuzulassen (Positivismus, Empirismus), schloss er daraus, dass man für den subatomaren Bereich nur Wahrscheinlichkeitsaussagen machen könne. Vielfach wird dies so gedeutet, dass es im subatomaren Bereich keine durchgängige Kausalität gibt und damit der Determinismus widerlegt sei.

    Nun werden die Vertreter des Determinismus und der Kausalität sagen:

    »Ja, wir können zwar im subatomaren Bereich die Kausalität nicht messen, wir können sie nicht feststellen. Aber wenn ein Elektron zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort ist, dann hat dies auch einen Grund, weil alles einen Grund hat.«


    Bei einer solchen Auffassung handelt es sich um eine typische Petitio Principii, wie sie in der Philosophie und den Wissenschaften immer wieder auftaucht. Es wird etwas als Beweis – oder milder als Argument – angeführt, was ja erst bewiesen werden soll: Das alles einen Grund, eine Ursache hat.

    In unserem täglichen Leben gehen wir davon aus, dass bestimmte Handlungen bestimmte Folgen haben und dass alles eine Ursache hat. Würden wir anderes annehmen, würden wir handlungsunfähig. Aber:

    Ob im subatomaren Bereich jedes Ereignis eine Ursache hat, das können wir nicht wissen. Möglicherweise gibt es in der subatomaren Welt (die Welt unterhalb der Ebene des Atoms) echte Zufälle, echte Spontanität. Diese könnten eine Wirkung auf die supraatomare Welt (die Welt oberhalb der Ebene des Atoms) haben.


    So könnten ständig neue Ursache-Wirkungs-Ketten entstehen, die auf die bestehenden Ursache-Wirkungs-Ketten einwirken, diese ergänzen und Entwicklung eine andere nicht determinierte Richtung geben.

    In der Chaostheorie spricht man vom »Schmetterlingseffekt«.

    »Der Flügelschlag eines Schmetterlings in China kann einen Orkan in Europa auslösen.«


    In komplexen, dynamischen Systemen können kleinste Unterschiede in den Anfangsbedingungen im langfristigen Verlauf zu völlig verschiedenen Entwicklungen führen.

    Da wir Menschen aus subatomaren Teilchen bestehen, ist es möglich, dass unser Verhalten nicht immer determiniert ist.


    Werner Heisenberg schuf zusammen mit dem dänischen Physiker Niels Bohr (1885–1962) beruhend auf den Theorien des deutsch-englischen Physikers Max Born (1882–1970) um 1927 die »Kopenhagener Deutung« der Quantenmechanik. Diese geht aus von der Nicht-Determiniertheit der Naturvorgänge. Ein Vertreter des Indeterminismus war auch der Physiker und Philosoph, Carl Friedrich von Weizsäcker, ein Schüler und Freund Heisenbergs.

    Einstein widersprach dieser Auffassung:

    Gott würfelt nicht!

    (Genau sagte er: »Jedenfalls bin ich überzeugt, dass der Alte nicht würfelt.«) Einstein widersprach also der Auffassung, dass es im Sein echte Zufälle gäbe.

    »Unser Handeln sei getragen
    von dem stets lebendigen Bewusstsein,
    dass die Menschen in ihrem Denken,
    Fühlen und Tun nicht frei sind,
    sondern ebenso kausal gebunden
    wie die Gestirne in ihren Bewegungen.«
    Albert Einstein


    Es ist in der modernen Naturwissenschaft, speziell in der Gegenwartsphysik umstritten, ob alle Ereignisse determiniert sind oder nicht. Die Bestreiter der Willensfreiheit können sich nicht auf den gegenwärtigen Erkenntnisstand der Naturwissenschaften berufen.


    Wann radioaktive Atome zerfallen, darüber lassen sich keine Aussagen machen. Es lässt sich lediglich sagen, dass nach einer gewissen Zeit die Hälfte aller Atome zu anderen zerfallen sind. Man spricht von der »Halbwertzeit«.

    Für Max Planck war die Frage nach der Willensfreiheit ein Scheinproblem:

    Von außen betrachtet ist der Wille kausal determiniert, von innen betrachtet ist der Wille frei. Mit der Feststellung dieses Sachverhalts erledigt sich das Problem der Willensfreiheit. Es ist nur dadurch entstanden, dass man nicht darauf geachtet hat, den Standpunkt der Betrachtung ausdrücklich festzulegen und einzuhalten. Wir haben hier ein Musterbeispiel für ein Scheinproblem.

    Nach Planck haben wir hier zwei Wirklichkeiten, eine äußere und eine innere. In der einen Wirklichkeit ist der Wille bestimmt, in der anderen frei. Ob das Problem damit gelöst ist ???


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    8. Kapitel

    Ethik

    »Moral predigen ist leicht,
    Moral begründen ist schwer.«
    Arthur Schopenhauer


    In diesem Kapitel wird vermittelt:

    • Was man unter Ethik, Moral und Sitte versteht.
    • Nach welchen Kriterien die verschiedenen Ethiken unterschieden werden.
    • Was Verstand, Vernunft und Gefühl mit Ethik zu tun hat.


    Das darfst Du nicht!?
    Das macht man nicht!?
    Das gehört sich nicht!?


    Wer oder was entscheidet eigentlich darüber, »was sich gehört«? Wer entscheidet eigentlich darüber, was der Mensch bzw. der jeweilige einzelne Mensch darf und nicht darf? Die Regierung? Ihr Lehrer oder Ihre Eltern? Die Polizei? Und woher wissen die das? Weil es althergebrachte Sitten und Gebräuche gibt? Und Gesetze? Woher wissen wir, ob die althergebrachten Sitten und Gebräuche nicht etwa schlecht sind? Woher wissen die, die Gesetze machen, welche die richtigen Gesetze sind und was falsche Gesetze wären?

    In England dürfen die Forscher erheblich mehr mit Stammzellen machen als in Deutschland. Der Bundestag hat beschlossen, dass Forschungen an Stammzellen erlaubt sind, die vor dem Stichtag 1. Mai 2007 im Ausland gewonnen wurden. In Deutschland darf man solche Stammzellen gar nicht gewinnen. (Aber andere dürfe die Drecksarbeit machen.) In England hat das Parlament beschlossen, dass Forscher menschliche und tierische Zellen verschmelzen dürfen. (Allerdings nur zu Forschungszwecken, nicht um Mischwesen aus Mensch und Tier zu erzeugen.) In Deutschland ist das verboten. Wer in Deutschland solche Forschungen betreiben würde, müsste mit Gefängnis rechnen.



    Was glauben Sie, welches Parlament macht hier die richtigen Gesetze? Oder hat das eventuell gar nichts mit falsch oder richtig zu tun?



    In Deutschland werden jedes Jahr über 100.000 Schwangerschaften abgebrochen, weltweit ca. 40 Millionen. (Das heißt, es werden Embryonen vernichtet, aus denen man Stammzellen gewinnen könnte.) Viele Menschen bezeichnen das als »Mord im Mutterleib«. Andere Menschen bestehen auf dem Selbstbestimmungsrecht der Frau. Es gibt noch immer viele Länder, in denen die Frau, die abtreibt, und auch die Helfer (Ärzte, Krankenschwestern) dafür ins Gefängnis kommen. In früheren Zeiten gab es dafür die Todesstrafe.



    Was meinen Sie, sollte es erlaubt sein, Schwangerschaften abzubrechen oder nicht?

    Und wenn Schwangerschaftsabbruch erlaubt sein soll, sollten dann die Embryonen restlos vernichtet werden oder sollte man aus ihnen Gewebe für Forschungszwecke entnehmen dürfen? Mit dem Ziel, in Zukunft Krankheiten besser bekämpfen zu können?


    Wer entscheidet darüber, was gut und böse ist?
    Beziehungsweise an Hand welcher Kriterien entscheidet man dies?
    Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Ethik.

    Ethik, Moral, Sitte etc.

    Ethik

    Ethik (von gr. »ethos« = Sitte, Gewohnheit) ist die Lehre vom richtigen Handeln und Wollen.


    Damit verbunden die Klärung der Frage, was gut und böse ist (bzw. der Klärungsversuch). Traditionell ist Ethik eine zentrale Disziplin der Philosophie. (Einige Philosophen – zum Beispiel viele Vertreter der Analytischen Philosophie – sehen die Ethik nicht als einen Teil der Philosophie, sondern als etwas Gesondertes.)

    »Alles Denken, das in die Tiefe geht,
    endet in ethischer Mystik.«
    Albert Schweitzer (1875–1965)
    Elsässischer Arzt, Theologe und Philosoph


    Moral

    Der Begriff Moral wird häufig synonym mit Ethik benutzt. Zuweilen versteht man unter Moral aber auch im Gegensatz zur Ethik nicht nur das geforderte, sondern das tatsächlich praktizierte Verhalten. Umgangssprachlich wird Moral zuweilen reduziert auf das richtige Verhalten im sexuellen Bereich.

    »Erst kommt das Fressen, dann die Moral.«
    Bertolt Brecht


    Sitte und Sittlichkeit

    Die Begriffe Sitte und Sittlichkeit werden häufig im Sinne von Moral und Ethik benutzt. Häufig werden sie aber auch benutzt zur Bezeichnung der allgemeinen Gebräuche einer Menschengruppe, meist Völker, die über gut und böse noch nichts aussagen. Zuweilen wird Sitte reduziert auf das richtige Verhalten im sexuellen Bereich (Sittenpolizei).

    »Gewohnheit, Sitte und Brauch sind
    stärker als die Wahrheit.«
    Voltaire


    Tugend

    Der Begriff Tugend ist eng mit Moral und Ethik verknüpft. Ursprünglich mit »Tauglichkeit« verwandt, bedeutet er besonders in der älteren Literatur bestimmte gute menschliche Eigenschaften, die vom jeweiligen philosophischen oder religiösen Standpunkt aus propagiert oder gefordert werden.

    »Nicht die Tugend fordert man von uns,
    sondern nur ihre Maske.
    Wenn wir uns zu verstellen wissen,
    so ist man zufrieden.«
    Marquis de Sade (1740–1814)
    Französischer Schriftsteller


    Gut und Böse

    Was »das Gute« und »das Böse« ist und welche Verhaltensweise des Menschen sich daraus ergeben sollte, ist eines der meistdiskutierten Themen der Philosophie. Es ist darüber hinaus auch ein Problem praktischen Handelns, was alle Menschen, unabhängig davon, ob sie sich mit Philosophie beschäftigen, betrifft. Auch Sie stehen täglich vor dem Problem, sich zwischen verschiedenen Verhaltensweisen entscheiden zu müssen. Sie haben bestimmt schon erlebt, dass Menschen aus Ihrer Verwandtschaft oder Ihrem Freundeskreis in bestimmten Fragen andere Einstellungen oder ein anderes Verhalten für gut hielten als Sie.

    »Es ist eine alte Erkenntnis,
    dass der Unterschied zwischen gut und böse
    oft vom Längen- und Breitengrad
    der bewohnten Erde abhängt
    und noch mehr von der Ansicht des Handelnden.«
    Max Müller (1823–1900)
    Deutsch-britischer Indologe



    Ideale

    Mit unseren Vorstellungen von Gut und Böse hängen unsere Ideale zusammen (von gr. »idea« = (Ur-)Bild, Idee). Umgangssprachlich sind das ethische oder moralische Werte, die man realisieren oder (bescheidener) an die man sein Handeln orientieren will. In der Philosophie spricht man bei solchen Idealen in der Regel von (ethischen) Werten. Die Ideale eines Menschen gehen aus seiner Natur, seiner Psyche, seinen Gefühlen, auch unterschwelligen, aus seinem Unterbewusstsein, seinen Lebensumständen, seiner Vernunft und eventuell weiteren Ursachen hervor. Hätte der Mensch nur Interessen bzw. würden seine Ideale völlig identisch mit seinen Interessen sein, dann ließe sich nicht erklären, warum Menschen, die satt sind, unglücklich darüber sind, dass andere, weit entfernt lebende Menschen, (ver)hungern, dass freie Menschen sich daran stören, dass andere Menschen unterdrückt werden etc. Während Bedürfnisse auch schon Tiere haben, sind Ideale etwas originär Menschliches. (Wobei es bei Tieren Vorformen geben kann.)

    »Ideale sind wie Sterne.
    Man kann sie nicht erreichen,
    aber man kann sich nach ihnen orientieren.«
    Carl Schurz (1829–1906)
    Deutscher Revolutionär und amerikanischer General



    Handeln

    Gemäß ihren ethischen Vorstellungen, ihren Idealen und ihren Bedürfnissen bzw. ihren Interessen handeln Menschen. Handeln bedeutet eine von einem Subjekt willentlich aus einem Motiv heraus und mit einem Ziel vorgenommene Tätigkeit. Instinktive Aktionen (zum Beispiel Atmen) gelten philosophisch nicht als Handeln. Alles Handeln geht aus den Gefühlen der Lust oder Unlust hervor und hat das Ziel, den Zustand des Handelnden oder dessen Umgebung im Interesse des Handelnden zu verändern.

    »Was jemand denkt,
    merkt man weniger an seinen Ansichten
    als an seinem Verhalten.«
    Isaac Bashevis Singer (1902–1991)
    Jiddischer Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger



    Verschiedene Ethiken

    Die verschiedenen Philosophen halten Verschiedenes für gut und böse. Es wurden die unterschiedlichsten Ethiken entwickelt, die verschieden hergeleitet und begründet wurden bzw. werden.

    Die verschiedenen Ethiken werden von verschiedenen Philosophen und Autoren auf verschiedene Weise voneinander unterschieden und unter Oberbegriffe geordnet. Unter anderem sind folgende Bestimmungskriterien möglich (wobei ethische Aussagen je nach Betrachtung unter verschiedene Oberbegriffe subsumierbar sind):

  • Inhaltliche Aussagen der Ethik
  • Art der Herleitung der Ethik
  • Art der Begründung der Ethik


  • Inhaltliche Aussagen der Ethik

    Humanistische Ethik

    Der Einzelne entscheidet im Rahmen einer humanistischen Gesellschaft und Werteordnung über sein Leben.

    Grundsätze des Humanismus sind unter anderem:

    • Die Würde des Menschen ist unantastbar.
    • Toleranz. Die Grenzen sind dort, wo man es mit Intoleranz und Verletzung der Menschenrechte zu tun hat.
    • Demokratie
    • Solidarität
    • Frieden
    • Gleichberechtigung der Geschlechter
    • Recht und Pflicht des Menschen zur Selbstbestimmung
    • Gegen Dogmatismus und absolute Wahrheiten
    • Friedlicher Austausch von Ideen
    • Anerkennung der Begrenztheit unseres Wissens
    • Bejahung der Wissenschaft, die an ethische Kriterien geknüpft werden muss.
    • Die Welt in ihrer Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit erleben. Die Vielfalt als Bereicherung des Lebens ansehen.
    • Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen
    • Die Freiheit, zwischen verschiedenen Lebensauffassungen wählen zu können.
    • Leid wird nicht als sinnstiftend angesehen. Ziel ist die Minimierung von Leid und die Vermehrung von Glück.

    Faschistische oder autoritäre Ethik

    Nach dieser Ethik muss der Einzelne das machen, was sein Führer bzw. die nächsthöhere Leitungsperson anordnet. Der Starke unterdrückt den Schwachen, beutet ihn für seine Zwecke aus. Vernichtet ihn, wenn dies aus eigener Interessensicht nötig scheint. Für eine solche Ethik steht u. a. der Philosoph Nietzsche. Für eine autoritäre – nicht faschistische! – Ethik steht auch die Praxis im ehemaligen Sowjetsystem, wo der Einzelne tun musste, was die höhere Leitungsperson anordnete; wo die Freiheit, für die der Sozialismus eigentlich stand, faktisch aufgehoben war. Als Ahnherr einer autoritären – nicht faschistischen! – Ethik kann Platon angesehen werden:

    »Niemand [...] soll jemals ohne Führer sein. Auch soll niemandes Seele sich daran gewöhnen, etwas ernsthaft oder auch nur im Scherz auf eigene Hand allein zu tun. Vielmehr soll jeder, im Kriege oder mitten im Frieden, auf seinen Führer blicken und ihm gläubig folgen. [...] Kurz, er soll seine Seele so in Zucht nehmen, dass sie nicht einmal auf den Gedanken kommt, unabhängig zu handeln, und dass sie dazu völlig unfähig wird.«


    »Gehorcht euren Vorstehern, und ordnet euch ihnen unter, denn sie wachen über euch und müssen Rechenschaft darüber ablegen.« Bibel, Hebr. 13,17

    Individualistische oder egoistische Ethik

    Die Vertreter dieser Ethik streben nach dem, was ihnen wertvoll erscheint, ohne Rücksicht darauf, ob das Handeln dann anderen schadet oder passt. Man bestimmt sein Handeln ohne die anderen, zum Teil auch gegen die anderen.

    »Es gibt gar keine moralischen Phänomene,
    sondern nur eine moralische Ausdeutung
    von Phänomenen.«
    Friedrich Nietzsche


    Altruistische und utilitaristische Ethik

    Anhänger dieser Ethik passen ihr Handeln ihren Mitmenschen an. Man strebt mit anderen zusammen nach dem, was einem wertvoll und nützlich erscheint.

    »Das Mitleid ist die Grundlage der Moral.«
    Arthur Schopenhauer



    Art der Herleitung der Ethik

    Objektivistische Wertethik

    Die Anhänger der objektivistischen Wertethik glauben an die Existenz überindividueller, übermenschlicher objektiver Werte, die dem Menschen erkennbar sind und an denen er sein Verhalten orientieren soll, wenn er richtig erkennt, sogar orientieren will bzw. muss (z. B. Platon, Christentum, Islam). Hierher gehört auch der ethische Intuitionismus, nach dem wir diese unabhängig vom Menschen existierenden ethischen Tatsachen unmittelbar erkennen würden bzw. könnten. Zu den Vertretern dieser Auffassung gehören u. a. die Philosophen George Edward Moore, der deutsche Philosoph Max Scheler (1874–1928) und Nicolai Hartmann.

    Subjektivistische Ethik

    Die subjektivistische Ethik hat ihre Ursache im Subjekt bzw. in den Subjekten. Objektive Werte werden als nicht existent, nicht erkennbar oder als nicht bindend angesehen. Zu dieser subjektivistischen Ethik gehört sowohl die Vernunftethik wie Gefühlsethik. Die Ablehnung einer objektivistischen Wertethik bedeutet aber nicht – wie deren Vertreter oft und gern behaupten – Amoralität bzw. die Abwesenheit ethischer Werte. Es bedeutet lediglich, dass Moral bzw. Ethik subjektiv bzw. intersubjektiv ist.

    Güterethik

    In dieser Ethik geht man davon aus, dass es bestimmte Güter gibt, in deren Besitz sich der Mensch bringen sollte, woraus sich dann bestimmte Handlungsweisen ergeben. Diese Güter können ganz verschieden sein, zum Beispiel Glück bzw. das höchstmögliche Glück.

    »Das Glück ist eine Art Existenzberechtigung,
    die sich das Leben selbst verleiht.«
    Simone de Beauvoir


    Glück

    Glück wird hier verstanden nicht als ein außerhalb von uns stattfindendes Ereignis (zum Beispiel sechs Richtige im Lotto), sondern als das innere Gefühl des Wohlbefindens und der Wunschbefriedigung. Glück kann auf verschiedene Weise erreicht werden: durch Luxus, materielle Güter, durch innere Entwicklung, durch Kultur, Wissenschaft, Philosophie etc., Selbsterhaltung und/oder Selbstentfaltung. Vereinigung mit Gott etc.

    »Versuche die Menschen glücklich zu machen,
    und du legst das Fundament für das Elend.
    Versuche die Menschen moralisch zu machen,
    und du legst das Fundament für das Laster.«
    Laozi


    Was glauben Sie? Ist Glück das Ziel des Lebens? Und wenn, mit welchen Gütern bzw. mit welchen äußeren Ereignissen glauben Sie, können Sie für sich das innere Glücksgefühl erreichen? Gilt Ihre Entscheidung nur für Sie oder für alle Menschen? Können verschiedene Menschen mit Verschiedenem glücklich sein?


    »Man weiß selten, was Glück ist,
    aber man weiß meistens, was Glück war.«
    Françoise Sagan (1935–2004)
    Französische Schriftstellerin


    Zielethik

    Verbunden mit der Güterethik kann eine Art Zielethik sein. Bestimmte Lebensumstände, individuelle und/oder gesellschaftliche werden als notwendig angesehen, bestimmte Güter zu erlangen. Einige »Zielethiker« vertreten dann (ausgesprochen oder unausgesprochen) die Auffassung, zur Erreichung des Ziels sei jedes Mittel recht. Auch Mittel, die mit den angestrebten Gütern nicht vereinbar sind (Beispiel: die Leninisten).

    »Der Zweck heiligt die Mittel.« Umstrittenes Sprichwort


    Was meinen Sie? Ist zur Erreichung eines guten Zieles jedes Mittel gerechtfertigt? Lüge, Heuchelei, Betrug, Körperverletzung, Mord, Massenmord? Und: Wer legt fest, was ein »gutes Ziel« ist?


    »Wo Politik ist oder Ökonomie, da ist keine Moral.«
    Friedrich Schlegel


    Gesinnungsethik und Verantwortungsethik

    Güterethik kann auch als Gesinnungsethik bezeichnet werden. Ihr gegenüber vertritt Max Weber eine Verantwortungsethik, die als eine Spielart der subjektivistischen Ethik angesehen werden kann. Der Verantwortungsethiker beachtet nicht nur, ob sein Handeln in Übereinstimmung steht mit seinen Gütern bzw. Idealen, sondern auch damit, welche Folgen sein Handeln hat. Zwischen Gütern und Folgen muss kompromisshaft abgewogen werden.

    Formalethik

    In der Formalethik wird ein formales Kriterium aufgestellt, dem alle ethischen Aussagen entsprechen müssen.

    Bei Kant war dies Verallgemeinerungsfähigkeit. Der berühmte kategorische Imperativ Kants lautet:

    Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.

    Der Wille sei unmittelbar durch das moralische Gesetz bestimmbar. Nur ein Handeln aus Pflicht, das von äußeren Bestimmungen und inneren Neigungen frei sei, sei sittlich.

    Kant fragt zum Beispiel: »Kann ich wollen, dass alle lügen?« Das kann ich nicht wollen, also unterlasse auch ich es. Kritiker weisen darauf hin, dass wir alle oft lügen und oft belogen sein wollen (zum Beispiel was Komplimente und Belobigungen anbetrifft). Mindestens jeder zweite Werbespot im Fernsehen sei eine Ansammlung von Lügen. Mindestens jede zweite Äußerung von führenden Politikern sei mit Lügen und Heuchelei versetzt. Ein Politiker, der nie lügen würde, hätte gar keine Chance, auf einen einflussreichen Posten gewählt zu werden.


    Bei den meisten Existentialisten ist die Freiheit das Kriterium für Sittlichkeit. Eine freie Handlung der Freiheit wegen.

    »Behandle jeden so,
    wie du selbst behandelt werden möchtest.«
    Konfuzius



    Art der Begründung der Ethik

    Vernunftethik und Diskursethik

    Die Vernunftethiker gehen davon aus, dass die Vernunft ethische Werte erkennen bzw. begründen kann. Ein Vernunftethiker war Kant. Zu den Vernunftethikern können auch die Vertreter der Diskursethik gezählt werden wie Habermas und der deutsche Philosoph Karl-Otto Apel (geb. 1922). Habermas sagt,

    dass nur die Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden könnten).

    Die Kritiker der Diskursethik weisen darauf hin, dass die Menschen unterschiedliche Interessen und unterschiedlich viel Macht haben. Deshalb sei ein freier Diskurs gar nicht möglich, auch keine Einigkeit in allen Fragen.

    Wie hoch sollen die Steuern sein für Menschen unterschiedlicher Einkommen und Vermögen? Wie hoch sollen Sozialleistungen für sozial Schwache sein? Die Antworten, die die verschiedenen Menschen darauf geben, haben oft etwas mit ihrer Interessenlage zu tun. Eine Wahrheit, auf die sich alle in einem freien Diskurs einigen können, scheint es nicht zu geben.


    Pflichtethik

    Kant vertrat nicht nur eine Vernunftethik, sondern auch eine Pflichtethik. Wir empfänden eine starke Pflicht in uns, Bestimmtes zu tun und anderes zu unterlassen. (Jedenfalls tat dies Kant und schloss von sich auf alle.) Eine Pflichtethik vertreten in der Regel auch die Religionen. Wir hätten die Pflicht, uns an gewisse ethische Maßstäbe zu halten, weil Gott dies von uns verlange. Gehorsam gegenüber Gottes Geboten ist im Christentum, im Islam und weiteren Religionen die oberste Pflicht.

    »Alles ist gesichert im Gehorsam,
    alles ist verdächtig, was außerhalb
    des Gehorsams geschieht.«
    Franz von Sales (1567–1622)
    Christlicher Bischof und Kirchenlehrer


    »Ungehorsam ist für jeden,
    der die Geschichte kennt,
    die eigentliche Tugend des Menschen.
    Durch Ungehorsam entstand der Fortschritt,
    durch Ungehorsam und Aufsässigkeit.«
    Oscar Wilde


    Gefühlsethik

    Die Gefühlsethiker gehen davon aus, dass das Gefühl die Ethik begründet. Das Sittliche sei nichts anderes als die harmonische Ausgestaltung dessen, was als natürliche Anlage in jedem Menschen liege. Für diese Auffassung stehen unter den klassischen Philosophen die Engländer Anthony Ashley Cooper (1671–1713) und Francis Hutcheson (1694–1747). Oft wird auch das Urteil der Mitmenschen einbezogen. Ethik entstehe aus der Sympathie und dem Gemeinschaftsgefühl der Menschen. Für diese Auffassung stehen unter den klassischen Philosophen die Engländer David Hume und Adam Smith (1723–1790).

    Wenn Sokrates vom »Gott in meiner Brust« spricht, Platon über den Eros, die Liebe, zur Idee des Guten vorstößt und wenn Aristoteles sagt, wir wüssten mit dem »Auge der Seele« um das Gute, dann sind dies lediglich andere Formulierungen für »Gefühlsethik«.


    Emotivismus

    Eine moderne Form der Gefühlsethik ist der Emotivismus (von lat. »Emotion« = Gefühl, geistige Erregung). Moralische Urteile seien nur Ausdruck unserer eigenen emotionalen Einstellungen, die darüber hinaus keine objektive Existenz, keine überindividuellen Werte darstellen. Für diese Position stehen u. a. der englische Philosoph Alfred Jules Ayer (1910–1989) und der amerikanische Philosoph Charles Leslie Stevenson (1908–1979).

    »Wer sich ständig von Vernunft
    leiten lässt, ist nicht vernünftig.«
    Charles Tschopp (1899–1982)
    Schweizer Schriftsteller



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    9. Kapitel

    Religion, Gott und Tod

    »Die Philosophie ist gegenüber der Religion die
    höhere und reinere Wahrheit. In der Religion
    erscheinen diese Wahrheiten in bildlicher
    Einkleidung, die dem schwachen Verständnis
    der Menge angepasst ist.«
    Averroës (1126–1198)
    Spanisch-arabischer Philosoph


    In diesem Kapitel wird vermittelt:

    • Was Religion ist.
    • Welche verschiedenen Gottesvorstellungen es gibt.
    • Was das Problem der Theodizee ist.
    • Was Pantheismus ist.
    • Was Gottesbeweise sind.
    • Welche Formen der Religionskritik es gibt.
    • Welche unterschiedlichen Vorstellungen die Philosophen vom Tod haben.


    Religion

    Merkmale von Religion

    Religionen haben in der Regel sechs Bestandteile:

    1. Dogmatismus: Über das empirisch und rational Erkennbare hinaus werden bestimmte Glaubenssätze aufgestellt, von deren Richtigkeit ohne jeden Zweifel ausgegangen wird. (Von wenigen Ausnahmen abgesehen beinhalten Religionen den Glaubenssatz, dass ein Gott oder mehrere Götter existieren.)

    2. Unkompliziertheit: Die Glaubenssätze sind in der Regel einfache, dem Auffassungsvermögen der großen Mehrheit der Menschen angepasste, mythenhafte, märchenhafte Seinsdeutungen und Voraussagen, was mit dem Menschen bzw. seiner Seele in Zukunft passieren wird.

    »Die Religion ist die einzige Metaphysik, die das
    Volk imstande ist, zu verstehen und anzunehmen.«
    Joseph Joubert


    3. Trostpflasterfunktion: Mit dem Glauben an eine jenseitige Vergeltung, ewiges Leben, Wiedergeburt etc. tröstet die Religion viele Menschen über die zum Teil gewaltigen Lebensprobleme hinweg.

    »Die Religion ist das Krankenhaus der Seele,
    welche die Welt verwundet hat.«
    Jean Antoine Petit-Senn (1792–1870)
    Französischer Dichter


    4. Ethik: Verbunden mit den religiösen Glaubenssätzen sind Angaben darüber, was gut und böse ist und damit verbunden die Aufforderung zu einem bestimmten Verhalten.

    »Wer irgendeiner Art von Religion zur Stütze seiner
    Sittlichkeit bedarf, dessen Moralität ist nicht rein, denn
    diese muss ihrer Natur nach in sich selbst bestehen.«
    Karoline von Günderrode (1780–1806)
    Deutsche Dichterin


    5. Kulthandlungen: Verbunden mit diesen Glaubenssätzen werden bestimmte Kulthandlungen durchgeführt, wie Gottesdienste, Gebete, Rituale etc.

    6. Kirche: In der Regel gibt es eine Organisation (die bei den Christen Kirche heißt, von gr. »kyriake« = dem Herrn gehörig), in der die Gläubigen zusammengefasst sind und die über die Reinhaltung der Lehre und über die Kulthandlungen wacht.

    Religionen sind in der Regel »Offenbarungsreligionen«. Die Wahrheit wird von einem oder mehreren Propheten verkündet und in einem oder mehreren heiligen Büchern (zum Beispiel die Bibel, der Koran, das Buch Mormon etc.) aufgeschrieben. Die Glaubensgrundsätze sind nicht das Ergebnis von Denken.


    Neben dieser von der großen Mehrheit der religiösen Menschen praktizierten Form der Religion gibt es subtilere Arten.

    »Praxis ist Kunst, Spekulation ist Wissenschaft,
    Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche.«
    Friedrich Schleiermacher (1768–1834)
    Deutscher Theologe und Philosoph


    Eine unter intellektuelleren Menschen verbreitete Religionsauffassung besagt, in dem Moment, wo Menschen aus einer Weltanschauung die Konsequenzen für ihre Lebensführung ziehen, beginne Religion. Religion sei eine Weise menschlichen Existierens aus der Relation zu einem Sinngrund.

    »Wissenschaft ohne Religion ist lahm,
    Religion ohne Wissenschaft ist blind.«
    Albert Einstein


    Bei Intellektuellen und Künstlern findet man häufig eine Verbindung von Religion und Philosophie, wobei der Verstand eindeutig dem Gefühl untergeordnet ist. Religion ist bei ihnen ein Sehnen nach etwas Höherem, Besserem, ein starkes Wünschen, die Welt möge nicht in ihrer Materialität – und ihrer zum Teil grässlichen Funktionsweise – aufgehen. Man findet bei diesen Menschen weniger Dogmatismus und mehr Toleranz als bei der großen Mehrheit der Religiösen. Aber auch hier sind die Glaubenssätze nicht das Ergebnis von Denken.

    »Die Religionen sind der Ausdruck des
    ewigen und unzerstörbaren metaphysischen
    Bedürfnisses der Menschennatur.«
    Jacob Burckhardt (1818–1897)
    Schweizer Kulturhistoriker



    Gott

    Es gibt verschiedene Gottesvorstellungen, die man an Hand einiger Grundzüge in verschiedene Gruppen teilen kann.

    Animismus und Polytheismus

    Zu Beginn der Kulturentwicklung sahen die Menschen hinter jeder Naturgewalt, hinter jedem Ereignis eine planende, wollende und bewusste Kraft, so wie der Mensch eine ist. Diese Entwicklungsstufe der Religion nennt man Animismus, was so viel heißt wie »Allbeseelung« (von lat. »anima« = Lufthauch; Seele).

    Viele dieser Kräfte wurden dann zu Göttern, Halbgöttern oder anderen geistigen Wesen. Da gab es den Regengott, den Gott, der für Glück und Pech verantwortlich war, die Fruchtbarkeitsgöttin etc. Daraus entwickelten sich die Götterwelten, zum Beispiel die der Germanen, Griechen und Römer. Einen solchen Götterglauben nennt man Polytheismus (von gr. »poly« = mehr, viele und »theos« = Gott).

    Monotheismus

    Bei einigen Völkern bzw. in einigen Kulturkreisen verschwanden nach und nach alle diese speziellen Götter und es blieb nur noch ein einziger Gott übrig. Einen solchen Glauben nennt man Monotheismus (von gr. »mono« = ein, allein). Beispiele: Juden, Christen und Moslems.

    »Seht zu, dass euch niemand einfange durch Philosophie und leeren Trug, gegründet auf die Lehre von Menschen und auf die Mächte der Welt und nicht auf Christus.« Paulus von Tarsus (ca. 10–67) Frühchristlicher Missionar

    »Gott ist das einzige Wesen, das, um zu herrschen,
    nicht selbst zu existieren braucht.«
    Charles Baudelaire (1821–1867)
    Französischer Schriftsteller


    Das Problem der Theodizee

    »Aus Nichts hat Gott die Welt gemacht,
    so steht es im Brevier. (Gebetsbuch)
    Doch manchmal hab ich den Verdacht,
    er macht sich nichts aus ihr.«
    Heinz Erhardt (1909–1979)
    Deutscher Komiker

    In den monotheistischen Religionen ist Gott in der Regel ein gerechter, gütiger und »Lieber« Gott. (Der Gott des Alten Testaments – das ist der erste Teil der Bibel – macht da eine Ausnahme, da er extrem gewalttätig und rachsüchtig ist.)

    Das führte zu der Frage, wie die in vielen Religionen behauptete Allmächtigkeit, Allwissenheit und Allgüte Gottes mit dem Zustand und der Funktionsweise der Welt zusammenpasst.

    Es gab und gibt milliardenfaches Leid und Elend, Erdbeben, Vulkanausbrüche, Wirbelstürme, Tsunamis, Seuchen, Kriege, Hungersnöte, Massenmorde etc. Und auch bei den Menschen, die von solchen großen Katastrophen nicht betroffen sind, gibt es viel Unglück zum Beispiel bedingt durch Krankheit oder Einsamkeit.


    »Die einzige Entschuldigung für Gott ist, dass es ihn nicht gibt.« Stendhal (1783–1842) Französischer Schriftsteller

    Das Problem wurde von dem griechischer Philosophen Epikur (ca. 341–270 v. Chr.) exemplarisch beschrieben:

    Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht: dann ist Gott schwach, was auf ihn nicht zutrifft, oder er kann es und will es nicht: dann ist Gott missgünstig, was ihm fremd ist, oder er will es nicht und kann es nicht: dann ist er schwach und missgünstig zugleich, also nicht Gott, oder er will es und kann es, was allein für Gott ziemt: Woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht hinweg?

    Seit Leibniz nennt man dieses Problem Theodizee (von gr. »theos« = Gott und »dike« = Gerechtigkeit) = »Gottesgerechtigkeit«.

    Leibniz sagte, Gott habe unter allen möglichen Welten die beste geschaffen. Da Gott allmächtig, allwissend und allgütig sei, könne dies gar nicht anders sein.


    Leibniz unterscheidet dann zwischen drei Übeln:

  • Das metaphysische Übel besteht in der Endlichkeit der Welt. Diese war nicht zu vermeiden, wenn Gott eine Welt schaffen wollte. (Dasselbe sagte schon Platon.)
  • Das physische Übel, also Leiden und Schmerzen gingen mit Notwendigkeit aus dem metaphysischen Übel hervor, da geschaffene Wesen zwangsläufig unvollkommen sind.
  • Das moralische Übel sei nicht vermeidbar, da ein geschaffenes Wesen notwendig fehlen und sündigen muss, besonders wenn Gott ihm die Gabe der Freiheit verliehen habe.

  • Kritiker dieser Auffassungen weisen unter anderem darauf hin, dass inzwischen in der Praxis vielfach bewiesen wurde, dass die Welt besser sein kann, indem sie Schritt für Schritt verbessert wurde, zum Beispiel bei der Bekämpfung von Krankheiten oder der Versorgung der Menschen mit Lebensmitteln.

    Die Wörter »Gott« und »Gut« sind verwandt! Käme das Wort »Gott« von »Böse«, dann hieße »Gott« »Boss«.


    Da lacht sogar unser Chef.

    Was meinen Sie?
    Haben wir einen Gott oder einen Boss?
    Oder nichts von beiden?
    Können Menschen diese Frage überhaupt beantworten?
    Handelt es sich bei dieser Frage nur um ein Scheinproblem?


    Pantheismus

    In den monotheistischen und polytheistischen Religionen ist Gott bzw. sind die Götter Personen, Subjekte, »sich wissende Ichs« wie die Menschen. Sie sind von der Welt und den Menschen getrennte für sich seiende Wesen. In den pantheistischen (von gr. »pan« = alles) Religionen und philosophischen Systemen ist alles Gott. Gott ist identisch mit der Welt bzw. dem Sein. Und Gott ist in der Regel kein sich wissendes Ich, sondern eine unpersönliche geistige Kraft. Die Welt wird als ein primär geistiger bzw. ideeller Tatbestand angesehen, aber es gibt keinen personalen Gott, mit dem man im Gebet sprechen kann.

    »Alle großen Wahrheiten
    beginnen als Gotteslästerung.«
    George Bernard Shaw (1856–1950)
    Irischer Schriftsteller


    Bedeutende Vertreter des Pantheismus in Europa

    Der deutsche christliche Mystiker Johannes Eckhart, genannt »Meister Eckhart« (1260–1328), zog die Intuition als Erkenntnismethode sowohl dem Rationalismus wie dem Empirismus vor. Mit dieser Methode kam er zu der Auffassung:

    Der innerste Kern eines Menschen ist das »unerschaffene Seelenfünklein«, in dem keine Kreatur, sondern Gott allein ist.

    Wer all die Welt nähme mit Gott, der hätte nicht mehr, denn ob er Gott alleine hätte.

    Im Gegensatz zur offiziellen Kirchenlehre vertrat Eckhart die Auffassung, die menschlichen Seelen würden nicht ewig fortbestehen, sondern vollständig wieder in Gott aufgehen.

    Der deutsche Mystiker Jacob Böhme (1575–1624) schrieb: »Wenn du die Tiefe und die Sterne und die Erde ansiehest, so siehst Sie deinen Gott, und in demselben lebest und bist Sie auch, und derselbe Gott regiert dich auch, und aus demselben Gott hast du auch deine Sinne und bist eine Kreatur aus ihm und in ihm, sonst wärest du nichts.«

    Also können wir mitnichten sagen, dass Gottes Wesen etwas Fernes sei, das eine sonderliche Stelle oder Ort besitze oder habe; denn der Abgrund der Natur und Kreatur ist Gott selber.

    Die menschliche Seele sei Gott und das Ziel des Menschen sei, sich völlig wieder mit Gott zu vereinen.

    Woher stammt aber das Böse, wenn alles Gott ist? Böhmes Antwort:

    Es muss etwas Böses geben, da es sonst nichts Gutes gäbe.

    Das habe ich weiter vorn im Kapitel Dialektik bereits an anderen Beispielen aufgezeigt. Böhme ist Dialektiker. Es gebe einen sich durch alles Sein und durch alles Denken hindurchziehenden Widerspruch, ohne den es nichts gäbe. Dieser Widerspruch sei die innerste Triebkraft der Welt. Das Böse sei schon im göttlichen Grunde der Welt angelegt. Der Mensch habe die Möglichkeit, sich für das Gute oder das Böse zu entscheiden.

    Der italienische Philosoph und Astronom Giordano Bruno (1548–1600) sagte, das Universum sei nicht geschaffen worden, denn außerhalb von ihm gebe es nichts, das es schaffen könnte.

    Gott lenkt die Welt nicht von außen, wie ein Rosslenker das Gespann. Gott ist in der Welt. Er wirkt als beseelendes Prinzip in ihrem Ganzen und in jedem ihrer Teile.


    Gott sei nur im Kosmos und sonst nirgends. Giordano Bruno wurde wegen dieser Auffassungen im Jahre 1600 in Rom auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

    »Die wenigen, die was davon erkannt,
    Die töricht gnug ihr volles Herz nicht wahrten,
    Dem Pöbel ihr Gefühl, ihr Schauen offenbarten,
    Hat man von je gekreuzigt und verbrannt.«
    Johann Wolfgang von Goethe


    Pantheismus in Indien

    Brahmanismus

    Eine in Indien um 800 v. Chr. entstandene und bis heute einflussreiche pantheistische religiös-philosophische Lehre ist der Brahmanismus.

    Es gibt nur eine wahre Wesenheit in der Welt, die im Weltganzen Brahman, im Einzelwesen Atman genannt wird. Die Welt der Dinge in Raum und Zeit, die Vielheit ist Maya, Trugbild. Ihre Kenntnis ist nur Scheinwissen. Der Zugang zum Wesen der Welt liegt in unserem Inneren verborgen. Die Summe aller nicht vergoltenen Taten eines Lebewesen sind sein Karma. Es entscheidet darüber, ob die Seele nach dem Tod des Körpers auf niederer oder höherer Ebene wiedergeboren wird. Da das Leben als Leiden angesehen wird, gilt die fortwährende Wiedergeburt nicht als erwünscht. Als erstrebenswert angesehen wird, durch richtigen Lebenswandel, durch richtiges Handeln und damit durch die Erkenntnis der Wahrheit die Kette der Wiedergeburten zu durchbrechen, die individuelle Existenz zu überwinden und in Brahman aufzugehen, wie ein Fluss im Meer aufgeht. Eine ewige Fortexistenz der Einzelseelen, wie in den meisten monotheistischen Religionen, gibt es hier nicht.

    »Wir sind Teile von Gott, doch so klein,
    dass keine Zahl es ausdrückt.
    Wer tüchtig ist, tut vielen gut,
    daher wächst seinem Teile von Gott
    so viel zu, dass er keine Niete mehr ist,
    sondern ein Zähler wird.«
    Friedrich Theodor von Vischer (1807–1887)
    Deutscher Philosoph


    Buddhismus

    In Auseinandersetzung mit dem Brahmanismus und einiger seiner religiös-philosophischen Aussagen entstand um 500 v. Chr. in Indien der Buddhismus, der sich schon in den Jahrhunderten darauf in Asien ausbreitete, in neuerer Zeit dann auch auf andere Erdteile. In Europa ist er seit ca. 200 Jahren bekannt und beeinflusste u. a. Schopenhauer. Im Buddhismus gibt es so viele verschiedene Strömungen mit unterschiedlichen Glaubensnuancen wie im Christentum. Deshalb sind Aussagen über diese religiös-philosophische Weltanschauung häufig nur für bestimmte ihrer Strömungen zutreffend. Außerdem ist es schwierig, wenn unmöglich, heute mit Sicherheit festzustellen, welche Aussagen von Buddha selbst sind und welche von seinen Nachfolgern, die sich dann zerstritten. Einige dieser Strömungen sind polytheistisch, einige sogar atheistisch. Mehrheitlich ist es aber eher eine pantheistische Religion. Sie beruht auf »den vier Wahrheiten«:

    1. Alles Leben ist Leiden, das
    2. seine Ursachen in den Begierden hat, die
    3. überwunden werden müssen. Dafür sei
    4. richtiges Glauben, Denken, Handeln u. w. nötig.

    So werde die Kette der Wiedergeburten durchbrochen und das Nirwana (wörtlich »das Nichts«) erreicht. Weiter vorn wurde bereits die Dharma-Lehre vorgestellt, nach der es in der Welt ewiges Werden und Vergehen und kein dauerhaftes Sein gibt.

    Purusha und Prakriti

    In Anlehnung an und in Auseinandersetzung mit dem Brahmanismus entwickelte der indische Philosoph Kapila – dessen tatsächliche Existenz umstritten ist – die Lehre von Prakriti und Purusha. Prakriti ist aktive Materie und Purusha ist passives Bewusstsein. Die Purushas stehen der Entwicklung der Materie und damit auch der der Menschen eigentlich in ewiger Reinheit und unbeteiligter Fremdheit gegenüber. Dass Prakriti und Purusha verbunden sind, ist nur eine Täuschung. Ein farbloser Kristall sieht rot aus, wenn eine rote Blume hinter ihn gehalten wird. Genauso erscheint der Purusha, indem er scheinbar mit einem lebenden Körper verbunden ist, als handelnd und leidend. Wenn der Purusha erkennt, dass ihn die Bewegung der materiellen Welt eigentlich gar nichts angeht, dass er im Innersten dieser Materie fremd und unbeteiligt gegenübersteht, dann wäre er erlöst. Er würde zum reinen untätigen Geist. Sein Zustand nach der Erlösung wird verglichen mit einem Spiegel, in den kein Reflex mehr fällt. Aber auch die Prakriti wäre erlöst, da sie ohne Bewusstsein keinen Schmerz empfinden kann.

    Ältere Menschen, die ihre dritten Zähne haben, sagen manchmal scherzhaft: »Wenn ich Zahnschmerzen habe, nehme ich die Zähne raus und lege sie in ein Glas Wasser. Dort können sie für sich alleine wehtun.«


    Pantheismus gleich Atheismus?

    Nach Schopenhauer ist der Pantheismus nur ein höflicher Atheismus. Atheismus ist aber in der Regel mit philosophischem Materialismus verbunden.

    Pantheismus ist eine eindeutige Absage an den philosophischen Materialismus.


    »Jeder glaubt nur das,
    worauf ihn der Zufall gebracht hat.«
    Empedokles (ca. 500–430 v. Chr.)
    Griechischer Philosoph


    Was will Empedokles mit diesem Satz aussagen?
    Stellen Sie sich vor, Joseph Alois Ratzinger wäre nicht im katholischen Bayern, sondern im buddhistischen Tibet geboren. Wäre er dann Papst Benedikt XVI. geworden?
    Stellen Sie sich vor, Tenzin Gyatso wäre nicht im buddhistischen Tibet, sondern im katholischen Bayern geboren. Wäre er heute dann der 14. Dalai Lama? (Lösung 1)



    Philosophie und Gott

    Philosophen denken über Gott nach. Ob es ihn überhaupt gibt und wenn, wie er beschaffen ist und was für ein Verhalten er von den Menschen verlangt. Dabei kommen die verschiedenen Philosophen zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Es gibt sowohl Philosophen, die von der Existenz Gottes ausgehen (Objektive Idealisten), als auch Philosophen, die die Existenz Gottes verneinen (Atheisten) oder seine Existenz offenlassen (Agnostizisten).

    Gottesbeweise

    Die Philosophen, die von der Existenz Gottes ausgehen, haben oft versucht, die Existenz Gottes mit Hilfe der Vernunft zu beweisen. Es gibt viele verschiedene Arten von »Gottesbeweisen«. Hier werde ich die drei am häufigsten vertretenen vorstellen.

    »Ich fühle mich nicht zu dem
    Glauben verpflichtet, dass derselbe
    Gott, der uns mit Sinnen, Vernunft
    und Verstand ausgestattet hat,
    von uns verlangt,
    dieselben nicht zu benutzen.«
    Galileo Galilei (1564–1642)
    Italienischer Astronom


    Teleologischer Gottesbeweis

    Am häufigsten von bedeutenden Philosophen vertreten wird der teleologische Gottesbeweis. (Von gr. »telos« = Ziel.) Es wird von der (scheinbaren) Zweckmäßigkeit und Zielgerichtetheit aller Erscheinungen in der Welt auf die Existenz Gottes geschlossen. Es müsse etwas geben, dass diese Zweckmäßigkeit und Zielgerichtetheit erzeuge. So argumentierten u. a. der griechische Philosoph Anaximandros (ca. 611–549 v. Chr.), Sokrates, Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin.

    Kritiker entgegnen, ein solcher Gott müsse selbst noch komplizierter sein als die beobachtete Welt. Man verschiebe das Problem, sich die Komplexität nicht erklären zu können, nur um eine Station. Es könnten hier auch Naturgesetze am Werk sein, die wir noch nicht kennen und die unser Fassungsvermögen übersteigen.

    »Der Mensch ist ein religiöses Tier.
    Er ist das einzige Tier,
    das seinen Nächsten wie sich
    selber liebt und, wenn dessen
    Theologie nicht stimmt,
    ihm die Kehle durchschneidet.«
    Mark Twain (1835–1910)
    US-amerikanischer Schriftsteller


    Ontologischer Gottesbeweis

    Beim ontologischen Gottesbeweis wird von der Existenz des Begriffs bzw. des Gedankens »Gott« auf die Existenz Gottes geschlossen. Der italienisch-englische Theologe und Philosoph Anselm von Canterbury (1033–1109) argumentierte folgendermaßen:

    Gott ist das, größer als welches nichts gedacht werden kann. Wenn dieser Gott aber nur im menschlichen Geist vorhanden wäre, so ließe sich noch etwas Größeres denken als das, größer als welches nichts gedacht werden könne – nämlich Gott als nicht nur im Geist, sondern auch in der Realität vorhanden. Dies ist ein Widerspruch und damit ist die Existenz Gottes bewiesen.

    Ähnlich argumentierte später Descartes bei seinem »1. Gottesbeweis«. Er glaubte in sich die Idee eines allervollkommensten Wesens vorzufinden, die er Gott nannte. Diesem Wesen müsse Existenz zukommen, denn sonst wäre es ja nicht vollkommen.

    Kritiker wenden ein, dass wir aus der Tatsache, einen Begriff oder einen Gedanken von etwas zu haben, nicht schließen können, dass es dieses Ding auch unabhängig von uns gibt.

    »Das Dasein eines, der da ist,
    zu beweisen, ist das unverschämteste
    Attentat, da es ein Versuch ist,
    ihn lächerlich zu machen.«
    Sören Kierkegaard


    Wie ich weiter vorn zu Beginn des Kapitels über die grundsätzlichen Tatbestände des Seins schon bemerkt habe, ist das Sein alles, was in irgendeiner Weise existiert, ob wir es kennen oder nicht. Außerhalb des Seins kann es nichts geben, da alles, was es gibt, per Definition Teil des Seins ist. Wenn dieses allumfassende Sein nun »Gott« genannt wird – was viele Philosophen gemacht haben –, dann kann tatsächlich nichts Größeres gedacht werden als Gott. Aber gleichzeitig ist der Begriff »Gott« auch so weit gefasst, dass er jeden Erklärungswert verliert. Wenn das Ganze Gott ist, dann ist nichts darüber ausgesagt, welche Teile des Ganzen (zum Beispiel Materie und Bewusstsein) das Primäre, das Ausschlaggebende sind, ob es eine den Menschen übergeordnete allmächtige, sich wissende Person gibt.

    Mit dem Gottesbegriff des ontologischen Gottesbeweises ist man bestenfalls beim Pantheismus, aber nicht bei einem persönlichen von der Welt und den Menschen verschiedenen Gott, wie er in den monotheistischen Religionen gelehrt wird.


    Kosmologischer Gottesbeweis

    Beim kosmologischen Gottesbeweis wird von der Existenz der Welt auf die Existenz Gottes geschlossen. Es gibt wiederum verschiedene Varianten, von denen ich die drei bedeutendsten anführe.

    1. Da es Bewegung in der Welt gibt, müsse es einen Beweger geben, von dem die Bewegung ihren Ausgang nahm. Dieser erste Beweger sei Gott. So argumentierten u. a. Aristoteles und Thomas von Aquin.

    2. Alles in der Welt habe eine Ursache, die selbst wieder Wirkung einer anderen Ursache sei. Es müsse eine erste Ursache geben, von der die Ursache-Wirkungs-Kette ihren Ausgang nahm. Diese erste Ursache sei Gott. Auch »kausaler Gottesbeweis«. So argumentierte u. a. Thomas von Aquin.

    »Wer mit Gottesbeweisen etwas über
    Gottes Wirklichkeit auszusagen meint,
    disputiert über ein Phantom.«
    Rudolf Bultmann (1884–1976)
    Bedeutender evangelischer Theologe


    3. Alles in der Welt entstehe und vergehe, könne also sein oder nicht sein. Es müsse etwas geben, das mit Notwendigkeit existiere, damit das viele Zufällige, das Kontingente existieren könne. Dieses Notwendige oder diese »letzte Notwendigkeit« sei Gott. Dieser Beweis wird auch Kontingenzbeweis Gottes genannt (von lat. »contingere« = neben »anrühren« auch »zufälliges Zusammenfallen«). So argumentierten u. a. Thomas von Aquin, Leibniz und der deutsche Philosoph Christian Wolff (1679–1754).

    Kritiker dieser Gottesbeweise wenden ein, dass das Sein eventuell keinen Anfang hat, dann braucht man keinen ersten Beweger, keine erste Ursache und keine erste Notwendigkeit. Wenn man glaubt, die Welt ohne einen Weltschöpfer nicht erklären zu können, dann verschiebe man dieses Problem nur um eine Stufe. Wer hat denn den Schöpfergott bewegt, verursacht und notwendig gemacht? Wenn Gott aus sich heraus sein kann, warum dann nicht die Welt?

    »Du willst mit nüchternem Verstand
    das Göttliche beweisen?
    Das heißt, nach einem Fabelland
    auf Eisenbahnen reisen.«
    Otto von Leixner


    Pascalsche Wette

    Der Philosoph Pascal stellte die Wette auf, dass es auf jeden Fall besser sei, an Gott zu glauben, als nicht an ihn zu glauben. Es gäbe vier Möglichkeiten:

    Man glaubt an Gott Es gibt Gott Man wird belohnt
    Man glaubt an Gott Es gibt keinen Gott Es passiert nichts
    Man glaubt nicht an Gott Es gibt keinen Gott Es passiert nichts
    Man glaubt nicht an Gott Es gibt Gott Man wird bestraft


    Ist es besser, an Gott zu glauben, als nicht an Gott zu glauben? (Lösung 2)


    Gedanken, die auf einen ideellen Ursprung der Welt hinweisen

    »Eine oberflächliche Philosophie
    führt von Gott ab,
    eine tiefere führt zu Gott zurück.«
    Francis Bacon


    Philosophen, die die Existenz Gottes nicht für beweisbar halten, werden aber nicht notwendigerweise Atheisten und Materialisten. Es gibt eine Reihe von Gedanken, die nichts beweisen, die aber nach Auffassung vieler Menschen statt eines materialistischen einen idealistischen Ursprung oder Kern der Welt als plausibler erscheinen lassen. (Was – wie Sie am Pantheismus sehen können – nicht notwendigerweise einen persönlichen Gott beinhalten muss!)

    Dazu einige Fragen zum Nachdenken:

  • Ist die Vielfalt und Zweckmäßigkeit der Welt, die scheinbare Gesetzmäßigkeit der Entwicklung von einfachen zu komplexeren Strukturen als bloßes Produkt von Evolutionsdruck vorstellbar?

  • Ist das Bewusstsein als Produkt toter, unbewusster Materie vorstellbar, weil diese sich zu einem informationsspeichernden und informationsverarbeitenden System organisiert hat? Auch unter Berücksichtigung der Problematik des Materiebegriffs seit der Entwicklung der Relativitätstheorie und der Wellenmechanik.

  • Ist die eigene Existenz, und zwar die bewusstseinsmäßige Existenz, gar nicht mal so sehr die körperliche, als Produkt eines kosmischen Zufalls vorstellbar?

  • Ist die materielle Welt denn überhaupt mehr als eine Vorstellung des Geistes? Auch unter Berücksichtigung der naturwissenschaftlichen Auffassung, dass das, was uns die materielle Welt ist, ein Bild darstellt, das wir uns in unserem Bewusstsein von der Welt machen.

  • Kann vor dem Hintergrund der Urknalltheorie der Materialismus noch vertreten werden? Nach dieser Theorie ist die Materie in einem Urknall aus dem Nichts entstanden.

  • Ist die Urknalltheorie nicht ein deutlicher Hinweis darauf, dass das Universum einen Ursprung haben muss, der nicht in ihm selbst liegen kann?

  • Ich gehe davon aus, dass es keine eindeutigen Antworten auf diese Fragen gibt, und werde dazu deshalb auch keine Lösungen vortragen.

    »Wer nur halb nachdenkt,
    der glaubt an keinen Gott,
    wer aber richtig nachdenkt,
    der muss an Gott glauben.«
    Isaac Newton


    Unser Universum hat unter zig Milliarden Möglichkeiten, die fast alle Leben unmöglich machen, exakt die fundamentalen physikalischen Naturkonstanten, die Leben im Universum entstehen lassen können. Drei Beispiele: 1. Die Expansion des Universums ist exakt so, dass einerseits das Universum nicht nach kurzer Zeit wieder in sich zusammenfällt, bevor sich etwas höheres entwickeln kann, andererseits aber die Materie nicht so dünn verteilt, dass es keine Zusammenballungen, mithin Sonnen geben kann. 2. Wäre die Schwerkraft etwas niedriger, hätten in den Sonnen und bei Supernovae nie die höheren Atome bzw. die höheren chemischen Elemente entstehen können, die Voraussetzung für Leben sind. Wäre die Schwerkraft etwas stärker, würde es viel kurzlebigere Sonnen geben auf deren Planeten keine chemische und biotische Evolution hätte ablaufen können. 3. Wären die Kernbindungskräfte etwas stärker, würden die Elektronen an die Atomkerne gezogen und es gebe im Universum nur Schwarze Löcher. Wären die Kräfte etwas schwächer, könnten sich keine Moleküle bilden, die Voraussetzung für Leben sind. Es gibt weitere Naturkonstante, die zu begreifen größeres physikalisches Wissen erforderlich machen, und die hier zu beschreiben eine Einführung in die Philosophie sprengen würden.

    Versuchen Sie einmal, sich die Strecke zwischen Hamburg und München vorzustellen, das sind knapp 800 Kilometer. Wenn Sie diese oder eine ähnliche Strecke mal mit dem Auto gefahren oder mit dem Flugzeug geflogen sind, dann können Sie sich eine solche Strecke vielleicht vorstellen. Und nun stellen sie sich vor, das es irgendwo in der Mitte dieser Strecke einen Millimeter gibt, wo Leben möglich ist. Dort – im übertragenen Sinne – befindet sich unser Universum. Einen Millimeter habe ich gewählt, weil ein solcher vom Menschen vorstellbar ist. Tatsächlich ist die Spanne weniger als ein Trilliardstel Millimeter groß. Der Fachbegriff hierfür ist »fine tuned universe«.

    »Je mehr man sich in die Physik hineinbegibt,
    desto stärker hat man das Gefühl, dass hinter
    dieser Welt irgendein großes Geheimnis steckt.«
    Carl Friedrich von Weizsäcker


    Ich habe hier viele bedeutende Naturwissenschaftler zitiert und aus ihren Äußerungen ist ersichtlich, dass sie keine Atheisten waren.

    Die Vorstellung »Naturwissenschaftler = Atheist« stimmt für die Spitze nicht!


    Im naturwissenschaftlich-technischen Mittelbau findet man vorwiegend – aber nicht nur! – Materialisten und Positivisten, die jede andere Einstellung für weltfremd halten. Aber die führenden Köpfe ihrer Zunft können sie nur selten für solche Auffassungen in Anspruch nehmen. Waren die großen Naturwissenschaftler in ihren Arbeitsgebieten Genies und in anderen Bereichen naiv? Dass Dummheit und Klugheit in einem Menschen dicht beieinander liegen können, war schon erwähnt worden. Wie auch immer: Tatsache ist nun mal, dass die führenden Naturwissenschaftler mehrheitlich religiös oder metaphysisch gestimmt waren. Das macht entsprechende Gedanken nicht automatisch wahr. Aber macht es entsprechende Gedanken nicht wenigstens überlegenswert?

    Es waren schließlich nicht die Dümmsten, es waren die Klügsten unserer Gattung!


    Religionskritik

    Seit dem Erwachen des menschlichen Geistes hat es Zweifel an der Existenz der Götter gegeben. Dieser Zweifel hat bei verschiedenen Philosophen zu unterschiedlichen Konsequenzen geführt. Einige wurden Agnostiker, andere Atheisten, andere lehnten lediglich die Existenz eines persönlichen Gottes ab.

    »Ich dank' es dem lieben Gott tausendmal, dass er mich zum Atheisten hat werden lassen.« Georg Christoph Lichtenberg


    Der griechische Philosoph Xenophanes, der um 600 v. Chr. lebte, kam als Rhapsode (gr. Wandersänger) weit herum und lernte so verschiedene Religionen und Kulturen kennen. Aus der Tatsache, dass die verschiedenen Götter große Ähnlichkeit mit der Physiognomie (äußere Erscheinung) der Menschen hatten, die an sie glaubten, schloss er:

    Tiere würden Götter mit Tiergestalten haben.

    Wenn sie bereits religiös wären. Xenophanes war aber kein Atheist, sondern ein Pantheist.

    Religionskritik übten die meisten Sophisten und die Vertreter der antiken Skepsis, die sagten, die Götter würden von den Menschen aus vielerlei Gründen erfunden.

    Der griechische Sophist Protagoras (um 481–411 v. Chr.) sagte, er könne von den Göttern weder wissen, ob sie sind oder nicht sind.

    Nachdem im Mittelalter viel Wissen der Antike verloren gegangen war, tauchen erst mit dem Beginn der Neuzeit (um 1500) wieder Religionskritiker auf.

    Der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588–1679) sagte:

    Religion ist der staatlich erlaubte Glaube. Aberglaube ist der staatlich verbotene Glaube.

    Ein anderes Kriterium, Religion und Aberglaube zu unterscheiden, gebe es nicht.

    »Dass Glaube etwas ganz anderes sei als Aberglaube, ist unter allem Aberglauben der größte.« Karlheinz Deschner (1924–2014) Deutscher Kirchenkritiker

    Für Hume hat die Religion eine rein praktische und ethische Bedeutung. Die nicht selbstständig denkenden Menschen bräuchten eine religiöse Orientierung. Nun sei es aber leider so, dass gerade solche Menschen die Religion mit Fanatismus, Aberglauben, scheinheiliger Frömmigkeit, Intoleranz, Verfolgung Andersdenkender usw. verbänden. Das alles sei schlimmer, als wenn es gar keine Religion gäbe.

    Besonders aggressiv in ihrer Religionskritik waren die schon erwähnten französischen Materialisten des 18. Jahrhunderts. Für sie war Religion absichtliche Täuschung, Priesterbetrug.

    Der erste Schurke, der dem ersten Narren begegnete, war der erste Priester.

    Aufgabe der Wissenschaft sei es, alle diese Täuschungen zu zerstören.

    Etwas anders sah es Marx, der Religion als eine notwendige Erscheinung in bestimmten Entwicklungsphasen der Menschheit ansah.

    Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.

    (Nach Auffassung des italienischen Schriftstellers und Philosophen Umberto Eco (geb. 1932) hat in der heutigen Zeit der Fußball in dieser Hinsicht die Religion abgelöst: Fußball sei heute das Opium des Volks.)

    Für Feuerbach war Gottesglauben eine Projektion (Übertragung) menschlicher Sehnsüchte auf eine ausgedachte Person im Jenseits.

    Die Religion ist ein kindlicher Traum der Menschheit. Sie muss aus ihm erwachen, um in der Wirklichkeit zu erlangen, was sie sich in der Religion erträumt.

    Für Freud war die Religion ein Resultat kindlicher Wunschvorstellung und letztlich eine psychische Störung.

    Religion ist eine Massen-Neurose.


    Gott erst in Zukunft existent?

    Es gibt Philosophen, die nicht an die gegenwärtige Existenz eines Gottes glauben, aber in Erwägung ziehen, dass im weiteren Verlauf der Entwicklung Götter entstehen könnten.

    So vertrat der australische Philosoph Samuel Alexander (1859–1938) vor dem Hintergrund der Evolutionstheorie die Auffassung, dass die weitere Evolution Engel und Götter hervorbringen könnte, die so weit über uns Menschen stehen würden wie wir über den Tieren.

    »Jemand mit einer neuen Idee
    gilt so lange als Spinner,
    bis sich die Sache durchgesetzt hat.«
    Mark Twain


    Der französische Philosoph Ernest Renan (1823–1892) schrieb über höherentwickelte Wesen: »Es wäre dies eine Art von Göttern [...] Wesen, die uns zehnfach überlegen wären [...] An der Wissenschaft ist es, das Werk bei dem Punkt wieder aufzunehmen, bei welchem die Natur stehen geblieben ist [...] So wie die Menschheit aus der Tierheit hervorgegangen ist, so würde die Gottheit aus der Menschheit hervorgehen.«

    Gott stände nicht am Anfang der Entwicklung, sondern am Ende der Entwicklung.

    Eine Hauptaussage Nietzsches war:

    Gott ist tot.

    Andere Philosophen sagen sinngemäß:

    Gott ist noch tot.

    (Bei Hegel steht Gott am Anfang und am Ende der Entwicklung. Dazwischen ist er lediglich unbewusst anwesend.)

    Im Kapitel Erkenntnistheorie bei dem Vergleich zwischen Tier und Mensch war schon einmal erwähnt worden, dass wir Menschen eventuell die Affen der Zukunft sind.

    Unsere Nachfahren könnten vielleicht einst Götter sein.



    Tod

    Was mit dem Menschen nach dem Tod seines Körpers passiert, ist unter den Philosophen umstritten.


    Materialisten

    Das individuelle Bewusstsein vergeht mit dem Körper.


    Die Materialisten, die davon ausgehen, dass der Mensch ein primär materieller Tatbestand ist, gehen davon aus, dass das menschliche Bewusstsein ein Produkt des Gehirns ist und mit dem Gehirn wieder verschwinden wird. Vom individuellen Bewusstsein bleibt nach dem Tod des Körpers nichts.

    Vor dem Tode sich fürchten, hat keinen Zweck. Man erlebt ihn ja nicht. Wenn er kommt, ist man weg.« Otto Reuter (1870–1931) Deutscher Komiker


    Der griechische Philosoph Epikur sagt: »Der Tod geht uns nichts an. Solange wir leben, ist der Tod nicht da. Ist der Tod aber da, existieren wir nicht mehr.«

    Objektiver Idealismus

    Die Seele überdauert den Tod des Körpers.


    Die Objektiven Idealisten gehen in der Regel davon aus, dass das individuelle Bewusstsein, oder eben die Seele, nicht vom Körper abhängt und den Tod des Körpers überdauern wird. Die Seele eines verstorbenen Menschen kommt in den Himmel oder die Hölle (u. a. glauben dies die Juden, Christen und Moslems) oder sie wird in einem anderen Körper wiedergeboren (das glauben u. a. die Platoniker und die Anhänger vieler indischer Religionen). Es gibt aber auch objektive Idealisten, die von der Vergänglichkeit der individuellen Einzelseelen ausgehen, zum Beispiel der Pantheist Spinoza:

    Der Mensch ist einerseits Gott und andererseits eine konkrete (vergängliche) Idee Gottes.

    Skeptiker und andere

    Es ist nicht erkennbar, ob das individuelle Bewusstsein den Tod des Körpers überdauert.


    Es gibt auch Philosophen, die sagen, es sei nicht erkennbar, was mit dem individuellen menschlichen Bewusstsein nach dem Tod des Körpers passiert. Das sind die Skeptiker, Agnostiker und viele Subjektive Idealisten.

    »Den Tod fürchten, ihr Männer, das ist nichts anderes, als sich dünken, man wäre weise, und es doch nicht sein. Denn es ist ein Dünkel, etwas zu wissen, was man nicht weiß. Denn niemand weiß, was der Tod ist, nicht einmal, ob er nicht für den Menschen das größte ist unter allen Gütern. Sie fürchten ihn aber, als wüssten sie gewiss, dass er das größte Übel ist.« Sokrates

    So schlimm scheint der Tod nicht zu sein. Es hat sich jedenfalls noch kein Toter beschwert.


    Sprachliche Tücken

    Der Satz »Ich bin tot« oder auch »in Zukunft bin ich tot« ist paradox. »Bin« ist eine Form von »sein« und tot bedeutet gerade das Nichtsein eines Subjekts. Auch für »du bist tot« oder »er/sie ist tot« trifft das zu. Jede Verbindung der Wörter »tot« und »sein« ist bezogen auf Subjekte ein Paralogismus.

    Der Tod lässt mich kalt. (Meint der Autor)


    Todesangst

    Warum es Todesangst gibt, lässt sich im Lichte der Evolutionstheorie erklären: Ein Lebewesen, das seine Vernichtung panikartig fürchtet und alles daransetzt, dieser Vernichtung zu entgehen, hat – gegenüber Lebewesen ohne diese Furcht – eine größere Chance zu überleben, sich fortzupflanzen und diese Eigenschaft an die nächste Generation weiterzugeben. Todesangst hat in der Natur eine fürs Überleben notwendige Funktion. Sie ist Teil unseres genetischen Programms. Und so ist auch der Wunsch nach individueller Unsterblichkeit ein Teil unseres genetischen Programms.

    Mich als Agnostiker würde es nicht wundern, wenn ich nach meinem körperlichen Tod bewusstseinsmäßig fortexistieren sollte. Sollte ich nicht fortexistieren, so würde mich das aber auch nicht wundern.


    Das Wissen des Menschen um seine Sterblichkeit wird häufig als eine Ursache für Philosophie genannt (neben »staunen« und »zweifeln«). Ob man den Tod allerdings dermaßen in den Mittelpunkt des Philosophierens stellen sollte, wie das zum Beispiel Kierkegaard und Heidegger machen, ist wohl eine Mentalitätsfrage.

    »Nicht den Tod sollte man fürchten, sondern,
    dass man nie beginnen wird, zu leben.«
    Marcus Aurelius (121–180)
    Römischer Kaiser und Philosoph


    Nahe-Tod-Erlebnisse

    Es gibt Menschen, die schon einmal klinisch tot waren und anschließend wiederbelebt wurden. Viele dieser Menschen berichteten, in dieser Situation eine jenseitige Welt gesehen zu haben. Berichtet wurde von einem sehr hellen Licht, von einer überfreundlichen, eine starke Anziehungskraft ausstrahlenden göttlichen Person, vom Wiedertreffen verstorbener Verwandter und Freunde, von dem Unwillen, in den »toten« Körper zurückzukehren etc.

    Aber: Nicht alle Menschen, die schon einmal klinisch tot waren, berichten von solchen Erlebnissen!

    Ob es sich bei diesen Erlebnissen um die wirkliche Schau einer jenseitigen Welt gehandelt hat oder um sehr starke Halluzinationen (hervorgerufen eventuell durch körpereigene Morphine, die in Extremsituation produziert werden) ist offen. Menschen, die solche Erlebnisse hatten, bekunden, keine Angst mehr vor dem Tod zu haben.

    Der englische Philosoph Alfred Jules Ayer, war ein überzeugter Atheist. Für metaphysische und religiöse Auffassungen, besonders für die christlichen Glaubensdogmen, hatte er sein Leben lang nur Hohn und Spott übrig. 1988 hatte er einen Herzstillstand. Für vier Minuten war er klinisch tot. In dieser Zeit soll er ein »göttliches Wesen« gesehen haben in einer jenseitigen Welt. Als Reaktion darauf wollte er (angeblich) von vielen seiner bisherigen philosophischen, besonders atheistischen Positionen abgehen. Das bestritt er zwar später, aber es gibt einige Indizien dafür, dass diese Angaben nicht völlig falsch sind.


    »Wie kann das Kaufen und Besitzen von Bedeutung sein, wenn das einzig Wichtige für den Menschen das Werden und endlich Sein ist, und das Sterben im vollen Bewusstsein seines Seins.« Antoine de Saint-Exupéry (1900–1944)

    Überwindung des Todes durch Wissenschaft und Technik?

    Es gibt inzwischen auch Menschen und Organisationen, die den Tod mit Hilfe von Wissenschaft und Technik besiegen wollen, zum Beispiel die Anhänger des Transhumanismus und Extropianismus.

  • Mit mikroskopisch kleinen auf Nano-Ebene agierenden Maschinen, die in der Lage sind, jedes einzelne Atom zu bewegen, wollen sie ihre Körper im lebenden Zustand Stück für Stück durch langlebigere Baustoffe ersetzen.

  • Ihr Bewusstsein wollen sie aus ihrem Kopf auf einen sehr komplexen Computer »downloaden« (übertragen).

  • Mit Kryonik wollen sie ihren Körper tieffrieren lassen, falls sie vor der Entwicklung dieser Technologien sterben sollten.

  • Ob das alles funktionieren wird, das wird die Zukunft zeigen. Aber selbst wenn, die individuelle Unsterblichkeit in der materiellen Welt ist abhängig von der Dauer der materiellen Welt. Ob diese in die Zukunft hinein ohne Ende existiert oder irgendwann wieder vergeht, ist unter den Naturwissenschaftlern umstritten.

    »Als sich in der Explosionswolke des Big Bang in den ersten Minuten nach dem Anfang Protonen und Elektronen zu Wasserstoffatomen zusammenfügten, dem so wunderbar entwicklungsfähigen Ur-Stoff alles Kommenden, stand bereits fest, dass Beständigkeit und Dauer nicht von dieser Welt sein würden.« So Hoimar von Ditfurth. »Eine Welt, die selbst endlich ist und sich ständig wandelt, kann Unendliches und Beständiges schlechthin nicht enthalten.«


    Lösungen

    Lösung 1
    Die Menschen glauben an die Religion und konkreten Glaubenssätze, in die sie zufällig hineingeboren wurden. Wer in eine christliche Familie hineingeboren wird, ist in der Regel auch als Erwachsener Christ. Wer in eine moslemische Familie hineingeboren wurde, ist in der Regel auch als Erwachsener Moslem. Viele weitere Beispiele wären möglich. Freiwilliger Wechsel von einer in eine andere Religion ist selten, viel seltener als die gänzliche Abkehr von der Religion.
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    Lösung 2
    Nach Pascal gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder gibt es den christlichen Gott, der, wie in der Bibel behauptet, den Glauben an ihn belohnt und Unglaube bestraft, oder es gibt keinen Gott. Tatsächlich gibt es aber unzählbar weitere Möglichkeiten. Hier nur zwei: 1. Es könnte zum Beispiel sein, dass es den Gott einer anderen Religion gibt, der alle Menschen, die nicht an ihn glauben, einschließlich der Christen, später in die Hölle steckt. 2. Es könnte auch sein, dass es einen Gott gibt, der kritisches Denken und Skeptizismus belohnt, blinden Glauben oder berechnendes Denken aber bestraft.
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    10. Kapitel

    Der Mensch – Philosophische Anthropologie


    »Der Mensch wurde am Ende
    der Wochenarbeit erschaffen,
    als Gott bereits müde war.«
    Mark Twain



    In diesem Kapitel wird vermittelt:

    • Was Anthropologie ist.
    • Welche unterschiedlichen Vorstellungen es in der Philosophie über den Menschen gibt.
    • Aus welchen verschiedenen »Schichten« der Mensch besteht.
    • Welche Wissenschaften gebraucht werden, um ein vollständiges Menschenbild zu haben.
    • Welche Bedeutung für den Menschen »Bedürfnisse« haben.


    Anthropologie (von gr. anthropos = Mensch) ist die Wissenschaft vom Menschen, besonders aus Sicht der Biologie, der Philosophie, der Pädagogik, der Sozial- und Kulturwissenschaften und der Theologie. Philosophische Anthropologie versucht fachübergreifend Wesentliches über den Menschen und seine Beziehung zur Welt auszusagen.



    Geschichte der philosophischen Anthropologie

    Am Beginn der Kulturentwicklung, als die Menschen dazu übergingen, Belebtes und Unbelebtes zu unterscheiden, da unterschieden sie anfänglich noch nicht zwischen Menschen, Tieren und Pflanzen.

    »Dass der Mensch das edelste
    Geschöpf sei, lässt sich
    auch schon daraus abnehmen,
    dass es ihm noch kein anderes
    Geschöpf widersprochen hat.«
    Georg Christoph Lichtenberg



    Als Menschen betrachteten die weiterentwickelten Menschen dann ursprünglich nur die Angehörigen des eigenen Stammes bzw. Volkes. Nur in dieser Gruppe gab es Solidarität, Lebensrecht etc.

    Bei den alten Griechen war jeder, der nicht griechisch sprach, ein »Barbar« (»bah bah« = »Unverständliches-Zeug-Quasselnder«). Diese archaische Einstellung wirkt bis heute modifiziert fort im Auserwähltheitsglauben einiger Völker. (Und im Nationalismus.) Der griechische Historiker und Völkerforscher Herodot (ca. 490–424 v. Chr.) war der erste, der sich gegen diesen »Ethnozentrismus« wandte.

    Platon und Aristoteles benutzten das Wort »Mensch« nicht nur ausschließlich für freie Griechen (Barbaren und Sklaven blieben außen vor), sondern auch nur für Männer. Platon sagte, Frauen seien ehemalige Männer, die auf Grund ihres widerlichen Lebenswandels dieses Mal zur Strafe als Frauen auf die Welt gekommen seien. Aristoteles meinte, den Frauen fehle zum Menschsein ein kleines bisschen. Einige Frauen antworten darauf bissig:

    »Dafür müssen wir mit diesem kleinen bisschen auch nicht denken.«


    Die Sophisten waren die ersten, die von der grundsätzlichen Gleichheit aller Menschen sprachen.

    Die Stoiker schufen das Wort »humanitas«, von dem unser Wort »Humanität« abstammt. Viele von ihnen sprachen nicht nur davon, dass alle Menschen gleich seien, sondern dass auch alle Menschen die gleichen Rechte haben sollten.

    Kant unterschied »physiologische und pragmatische Anthropologie«. Die physiologische Anthropologie untersuche, »was die Natur aus dem Menschen macht.« Die pragmatische Anthropologie untersuche, »was er als freihandelndes Wesen aus sich selber macht und machen kann und soll.«

    Herder sagte, der Mensch stehe in Stärke, Sicherheit, der Instinkte u. ä. den Tieren nach. Ihnen gegenüber sei er ein »Mängelwesen«. Aber der Mensch sei aufgerufen, gerade wegen seiner Mängel sich selbst zu dem zu machen, was er sein soll. Dafür sei ihm Freiheit und Vernunft gegeben.

    Der Mensch ist der erste freigelassene der Natur. Johann Gottfried Herder


    Hegel sah das Wesen des Menschen in der Arbeit.

    Marx

    Im Anschluss an Hegel behauptete Marx, dass der Mensch von Natur aus ein tätiges Wesen sei, dass gezwungen sei zu arbeiten, und zwar im gesellschaftlichen Verbund mit anderen Menschen, und der Mensch erst in dieser Arbeit seine Welt erzeuge und damit sich selbst produziere.

    Ich habe oft den Eindruck, dass der Mensch von Natur aus ein »träges Wesen« ist, das sich jeden Morgen auf's Neue dazu zwingen muss, ein »tätiges Wesen« zu werden. Aber vielleicht liegt das nur an meinem zu niedrigen Blutdruck.


    Die Produktionsweise des materiellen Lebens hat nach Marx eine fundamentale Bedeutung dafür, was der Mensch an einen gewissen Entwicklungspunkt ist, wie seine Gesellschaft und sein Bewusstsein beschaffen ist und wie die Geschichte im Weiteren verlaufen werde. (Und Marx war der Überzeugung, die weitere Geschichte werde mit Notwendigkeit den Kommunismus hervorbringen. Was er darunter verstand, dazu näheres im Kapitel Staats- und Gesellschaftsphilosophie.

    »Der Mensch ist weder Engel noch Tier,
    und das Unglück will es, dass, wer
    einen Engel aus ihm machen will,
    ein Tier aus ihm macht.«
    Blaise Pascal



    Darwin

    Von großer Wichtigkeit für das heutige Menschenbild ist die Evolutionstheorie von Charles Darwin. Nach ihr stammen alle Lebewesen von wenigen Urwesen ab. (Heute sagen wir, von einer Urzelle.) Auf Grund der Veränderbarkeit der Lebewesen, bzw. ihrer Gene durch Mutationen kleinerer und größerer Art, der Vererbung und der Überproduktion von Nachkommen gebe es einen ständigen »Kampf ums Dasein«, den die am besten den Umständen angepassten Lebewesen überleben würden (»survival of the fitests«). Diese vererbten ihre Eigenschaften auf ihre Nachkommen. Die weniger gut angepassten stürben aus. Durch diese »Auslese« entstünden im Verlaufe riesiger Zeiträume die verschiedenen Gattungen, Arten etc.

    Insbesondere aber entstünden auf diese Weise immer höher entwickelte Lebewesen. Der Mensch sei ein Produkt dieser natürlichen Evolution, stamme also von tierischen Vorfahren ab. Deshalb sind Tiere als evolutionäre Vorstufen des Menschen von philosophischem Interesse. Vieles über den Menschen können wir aus der Beobachtung und Erforschung der Tiere lernen. Das Fühlen und Verhalten der Menschen wird in einem beträchtlichem Maße Ergebnis ihrer Naturgeschichte sein.

    »Das Tier taugt zu allem,
    was es soll, vollkommen –
    der Mensch zu nichts recht, als
    was er lernt, liebt und übt.«
    Johann Heinrich Pestalozzi



    Auch die Nervenzellen, das System von Nervenzellen und unser Gehirn, ein sehr komplexes System von Nervenzellen, hat sich evolutiv entwickelt. Darauf war im 4. Kapitel im Zusammenhang mit der Evolutionäre Erkenntnistheorie schon hingewiesen worden.

    Das menschliche Gehirn: 100.000.000.000 (einhundert Milliarden) Nervenzellen, die hochkomplex miteinander vernetzt sind und über Nervenbahnen und chemische Überträgerstoffe miteinander kommunizieren. Ob auf dieser Basis Bewusstsein und ein sich wissendes, sich als ungeteilte Person empfindendes Ich entsteht oder ob das Bewusstsein von außen hinzutritt, ist in der Philosophie umstritten. Die Hirnforschung ist von großem Interesse für die Philosophie, da es allem Anschein nach das Gehirn ist, mit dem wir philosophieren. Wahrscheinlich können wir nur so viel erkennen, wie unser Gehirn möglich macht.


    »Wenn das Gehirn des Menschen so einfach wäre, dass wir es verstehen könnten, dann wären wir so dumm, dass wir es trotzdem nicht verstehen könnten.« Jostein Gaarder (geb. 1952) Norwegischer Schriftsteller, Autor von ›Sofies Welt‹


    Einige Menschen haben die Erkenntnisse der Evolutionstheorie auf die menschliche Gesellschaft übertragen und dabei den qualitativen Unterschied zwischen Natur und menschlicher Gesellschaft übersehen. Der Mensch ist zwar, soweit er Körper ist, ein Tier mit einem besonders großem Gehirn. Aber gerade dieses Gehirn und seine Fähigkeiten zu Philosophie, Wissenschaft und Kultur hebt den Menschen aus dem Tierreich heraus. Der Sozialdarwinismus wird im 12. Kapitel Staats- und Gesellschaftsphilosophie noch einmal näher erläutert.

    Freud

    Neben der Evolutionstheorie hat heute die Tiefenpsychologie für das moderne Menschenbild eine große Bedeutung. Diese wurde besonders durch Siegmund Freud populär, bestand allerdings in Ansätzen schon vor ihm. Freud behauptete, dass der Mensch auch durch Triebe und seinem unbewussten Seelenleben in seinem Fühlen und Verhalten bestimmt sei. Hierauf wird im 11. Kapitel Philosophische Psychologie näher eingegangen.


    Philosophische Anthropologie im 20. Jahrhundert

    Scheler

    Max Scheler (1874–1928) war ein deutscher Philosoph, Psychologe, Soziologe und Anthropologe. Zu Beginn seiner philosophischen Arbeiten war er Neukantianer, wurde dann durch den Einfluss Husserls Phänomenologe und wandelte sich dann zu einem klassischen Idealisten mit starken religiösen Neigungen. Am bekanntesten ist er wegen seiner »Materialen Wertethik«, sprich: Objektivistischen Wertethik.

    Schelers Buch Die »Stellung des Menschen im Kosmos« gilt vielen als Beginn der modernen philosophischen Anthropologie. Scheler unterscheidet ein Drangprinzip und ein Geistprinzip.

    Stufenfolge der psychischen Kräfte nach Scheler:

    1. Der bewusst-, empfindungs- und vorstellungslose Drang.
    2. Der Instinkt, angeborene, zweckdienliche Reaktionen.
    3. das gewohnheitsmäßige Verhalten.
    4. das intelligente Verhalten.

    Im Menschen sei etwas, das ihn weit über das Tier erhebe: Geist. Als Geistwesen sei der Mensch nicht umwelt- und triebgebunden. Er könne sich das eigene Seelenleben zum Gegenstand machen. So entwickle er Selbstbewusstsein, neben dem Geist das zweite Wesensmerkmal des Menschen.

    Gehlen

    Arnold Gehlen (1904–1976) war ein bedeutender deutscher naturwissenschaftlich-biologisch orientierter Philosoph und Soziologe. (Was ihn von dem mehr philosophisch-religiös orientierten Scheler unterscheidet.)

    Die Biologie (von gr. »bios« = Leben) ist die Naturwissenschaft von den lebenden Dingen (Menschen, Tieren, Pflanzen), von den Gesetzmäßigkeiten und den Abläufen in der lebendigen Natur. Erkenntnisse der Biologie können eine große philosophische Bedeutung haben, zum Beispiel die Evolutionstheorie oder die Ergebnisse der Gehirnforschung.


    Gehlen entwickelte eine Theorie der die Gesellschaft stützenden Institutionen. Die gegenüber den Tieren verringerten Instinkte würden beim Menschen kompensiert durch seine Weltoffenheit und Lernbereitschaft. Der Mensch sei ein Mängelwesen. Dieser Tatsache stelle er sich handelnd entgegen und schaffe so die Institutionen des Zusammenlebens und weitere Kulturleistungen wie Sprache, Wissenschaft und Kunst. Dabei sei die Ausformung der Institutionen eine naturgeschichtliche Notwendigkeit. Daseinsberechtigungen und Gütemaßstab der Institutionen seien die Funktionen der Entlastung, Führung und Ordnung.

    Wissenschaftlern und Philosophen, die den Menschen vorrangig oder jedenfalls in einem beträchtlichen Maße als Naturwesen betrachten und die in allererster Linie oder jedenfalls in beträchtlichem Umfang die Biologie zur Erklärung des Menschen, seiner Fähigkeiten und Begabungen, seines Fühlens und Handelns, seiner Bedürfnisse und Ziele, seiner gesellschaftlichen Institutionen etc. heranziehen, wird von anderen oft Biologismus vorgeworfen. Nach Auffassung der Kritiker des Biologismus müssten bei der Erklärung des Menschen die Sozialwissenschaften, die Psychologie und die Religion stärker berücksichtigt werden.

    Plessner

    Helmuth Plessner (1892–1985) war ein bedeutender deutscher Philosoph und Anthropologe und einer der Begründer der philosophischen Anthropologie. Dabei bezog er stärker als Scheler die empirischen Wissenschaften über den Menschen ein, besonders Humanbiologie, Psychologie und Soziologie. Wichtig bei allen Lebewesen sei ihre Positionalität. Die Pflanze sei offen, das heißt unmittelbar abhängig von ihrer Umgebung. Das Tier sei geschlossen, das heißt stärker auf sich zentriert. Der Mensch habe eine exzentrische Positionalität, das heißt, er könne sich wegen seines Selbstbewusstseins reflexiv zu sich selbst verhalten. Der Mensch müsse erst aus sich machen, was er sei. Er sei von Natur aus auf Kultivierung angelegt. Natur und Kultur, Sinnliches und Geistiges seien beim Menschen immer eine vermittelte Einheit.

    »Wer immer tut, was er schon kann,
    bleibt immer das, was er schon ist.«
    Henry Ford (1863–1947)
    Amerikanischer Industrieller




    Synthetische Auffassung

    Menschliches Fühlen und Verhalten geht aus einem Ursachengeflecht hervor. Es gibt verschiedene Schichten des Menschen, die zeitlich nacheinander entstehen und zum Teil Fundament für andere Schichten sind.

    Stufenaufbau des Menschen
    1. Natur, materieller, physischer Körper.
    Der Mensch als biotisches Wesen.
    2. Psyche.
    Der Mensch als psychisches Wesen.
    3. Gesellschaft, Soziales.
    Der Mensch als gesellschaftliches, soziales Wesen.
    4. Vernunft, Verstand, Intellekt,
    Der Mensch als vernünftiges Wesen.


    Den Menschen nur als biotisches Wesen zu sehen, würde sein Wesen verfehlen. Aber seine Natur zu ignorieren, würde sein Wesen ebenso verfehlen. Die Natur ist die unterste Schicht, auf der alle anderen Schichten aufbauen, ohne die es die anderen Schichten nicht geben würde. Wie sollte ein Mensch im Verlaufe seiner Sozialisation eine psychische Struktur herausbilden, wenn es nicht das natürliche Organ Gehirn gäbe? Ohne Physis keine Psyche. Wie sollte der Mensch ein gesellschaftliches Wesen sein können, hätte er nicht einen natürlichen Körper? Wie sollte er Vernunft herausbilden können, hätte er kein Gehirn?

    Es gibt eine ständige Wechselwirkung zwischen den vier Schichten. Die Natur des Menschen aber ist die Basis, auf der die anderen Schichten aufbauen und wenn sich an der Basis etwas ändert, dann wird das Auswirkungen haben, auf die auf dieses Basis aufbauenden Schichten.

    Jede dieser vier Schichten ist selbst wieder hochkomplex.

    Der Menschen ist ein ambivalentes Wesen. Einerseits ist der Mensch ein soziales Wesen, das Mitleid und Verantwortungsgefühl für Andere, für die Gemeinschaft empfinden kann. Andererseits ist er egoistisch. Das hat seine Ursache aus meiner Sicht darin, dass er einerseits in solidarischen Gruppen (Herden) Mensch wurde, andererseits innerhalb dieser Gruppen eine Rangordnung existierte. Gruppen, in denen ein großes Gemeinschaftsgefühl vorhanden war, eine effektive Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe, hatten tendenziell eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit, als Gruppen, in denen diese Verhaltensweisen weniger stark ausgeprägt waren. Und der einzelne Mensch hatte innerhalb seiner Gruppe die größte Wahrscheinlichkeit zu überleben und sich fortzupflanzen, wenn er sich innerhalb der Gruppe egoistisch benahm, in der Rangordnung möglichst weit oben stand.

    Der Mensch kann als bewusstes, mit Vernunft, mit Erkenntnisvermögen ausgestattetes Wesen das Ursachengeflecht erkennen, aus dem sein Fühlen und Verhalten hervorgeht. Diese Erkenntnis geht dann ins Ursachengeflecht ein, wird bzw. kann Ursache für anderes Fühlen und Verhalten sein. Der Mensch kann sich ganz bewusst gegen bestimmte Verhaltensweisen entscheiden, sich selbst erziehen, das Ursachengeflecht, aus dem sein Fühlen und Verhalten hervorgeht, (zum Teil jedenfalls) bewusst, absichtlich ändern. Er kann z. B. den Wissenserwerb über das Fortpflanzungs- und Aufstiegsstreben stellen. Menschen, denen das gelingt, haben sich (zum Teil) über ihre Natur erhoben.

    Der Mensch kann sich auch dazu entscheiden, bewusst seine Selbstevolution zu betreiben, in dem er seinen Nachwuchs genetisch optimieren lässt.

    Treffen sich zwei Planeten. Fragt der Eine: »Na, wie geht's?« Sagt der Andere: »Ach, nicht so. Ich hab Homo Sapiens.« Sagt der Erste: »Keine Sorge. So etwas ähnliches hatte ich auch mal. Aber das geht von selbst wieder weg.«



    Bedürfnisse

    Bedürfnisse sind ein zentraler Aspekt menschlicher Existenz. Ein Bedürfnis ist bei Lebewesen der Wunsch, einen gewissen Gefühlszustand zu erreichen bzw. zu erhalten und damit zugleich einen anderen Gefühlszustand zu beseitigen bzw. zu vermeiden. (Und da wir eng mit unserer Umwelt verzahnt sind, bedeutet dies häufig auch ein Streben nach Änderung oder Beibehaltung gewisser Umweltzustände.)

    Beispiele:

    • Ich bin hungrig – unerwünschter Zustand, der beseitigt werden soll.
    • Ich bin nicht hungrig – erwünschter Zustand, der erreicht werden soll.
    • Ich bin schmerzfrei – erwünschter Zustand, der beibehalten werden soll.
    • Ich habe Schmerzen – unerwünschter Zustand, der vermieden werden soll.

    Häufig wird der Prozess der Bedürfnisbefriedigung für einen größeren Genuss gehalten, als die »fertige« Befriedigung. Dadurch entstehen neue Bedürfnisse, z. B. das Hinauszögern, das Verlängern des Prozesses einer Bedürfnisbefriedigung. Beispiele: Möglichst viel und lange essen (bis hin zum zwischenzeitlichen Erbrechen wie im alten Rom); Hinauszögern des Orgasmus'.

    Die Bedürfnisse sind sehr vielfältig und zum Teil widersprüchlich. Nur eine kleine Auswahl um dies zu verdeutlichen:

    • Natürliche Bedürfnisse wie atmen, trinken, essen, Obdach, Kleidung, Sexualität.
    • Bedürfnisse, die sich aus der Gesellschaftlichkeit des Menschen ergeben wie Liebe, Beachtung, Anerkennung, Kommunikation, aber auch nach Macht über andere.
    • Bedürfnisse kultureller Art, Unterhaltung, Sport. (Viele natürliche Bedürfnisse sind auf Grund ihrer konkreten heutigen Ausbildung zu kulturellen Bedürfnissen geworden.)
    • Geistige Bedürfnisse wie Kunst, Wissenschaft und Philosophie.

    Letztere Bedürfnisse halte ich für qualitativ höherstehend, ohne die »niederen« Bedürfnisse deshalb zu verschmähen. Zum großen Teil sind sie überlebenswichtig, können aber auch verfeinert werden. Z. B. dienten Essen und Sex ursprünglich mal nur der Erhaltung des Individuums und der Art. Heutzutage ist Essen bei vielen Menschen nicht einfach nur Stoffwechsel mit der Natur und Energieaufnahme, sondern Selbstzweck. Geschmack und Ambiente spielen eine große Rolle. Ähnlich ist es mit der Sexualität, die nur noch in Ausnahmefällen zur Erzeugung von Nachwuchs praktiziert wird.

    Die Befriedigungen verschiedener Bedürfnisse geraten oft in Widerspruch zueinander. Beispiel: Viel Essen, viel Ruhe und gleichzeitig schlank sein, lässt sich schwer realisieren. In solchen Fällen kommt man nicht herum, sich für das Eine und gegen das Andere zu entscheiden, oder verschiedene Bedürfnisse nur teilweise zu befriedigen.

    Das Streben nach Bedürfnisbefriedigung sollte seine Grenzen nur dort haben, wo man anderen Leid zufügt. Jede andere Art der Begrenzung lehne ich ab.


    Ob eine bestimmte Art von Bedürfnisbefriedigung anderen Leid zufügt, ist im Einzelnen aber nicht immer genau feststellbar, bzw. umstritten.

    Das wichtigste Ziel gesellschaftlicher und individueller Bemühungen sollte es sein, gesellschaftliche und individuelle Lebensumstände zu schaffen, in denen es den Menschen in immer umfassenderen Maße möglich ist, die ihnen wichtig erscheinenden Bedürfnisse zu befriedigen.


    Das schließt nicht aus, dass man auch immer wieder aufs Neue darüber nachdenken sollte, ob man nicht bestimmte Bedürfnisse im Interesse anderer Bedürfnisse aufgeben sollte.

    Ich unterscheide zwischen primären und sekundären Bedürfnissen, was besonders auch bei der Begründung von Ethik eine Rolle spielt. (Primäre Bedürfnisse: Liebe, Geselligkeit, Produktivität u. ä. Sekundäre Bedürfnisse: Hass, Ungeselligkeit, Destruktivität, Sadismus u. ä.)

    Mit den Bedürfnissen und ihrer Befriedigung bzw. der Unmöglichkeit sie zu befriedigen, hängen bewusst oder unbewusst unsere Vorstellungen von Gut und Böse, gerecht und ungerecht zusammen, die schon im Kapitel über die Ethik näher erläutert wurden. Die Möglichkeit Bedürfnisse zu befriedigen, empfinden wir als gut und gerecht, die Unmöglichkeit Bedürfnisse zu befriedigen, empfinden wir als böse und ungerecht. Eine total gerechte Welt hätten wir dann, wenn alle Bedürfnisse befriedigt werden könnten. Dies ist aber wegen der Widersprüchlichkeit der Bedürfnisse innerhalb eines Menschen und zwischen den verschiedenen Menschen unmöglich.


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    11. Kapitel

    Philosophische Psychologie

    »Der Philosoph erklärt dem Psychologen
    das Warum unserer Existenz und anschließend
    muss der Psychologe den Philosophen behandeln.«



    In diesem Kapitel wird vermittelt, was für die Philosophie wichtige:

    • psychologische Begriffe für eine Bedeutung haben,
    • Psychologen für Grundauffassungen hatten,
    • psychologische Grundrichtungen es gibt.

    Die wichtigsten Themenbereiche der philosophische Psychologie sind bereits angesprochen worden: Das Verhältnis von Leib und Seele im 2. Kapitel, Bewusstsein, Geist. Seele im 3. Kapitel, ob es Willensfreiheit gibt im 7. Kapitel, Ideale, Handeln und Glück im 8. Kapitel, die philosophische Anthropologie und die Bedeutung der Bedürfnisse im 10. Kapitel. Das alles wird hier nicht noch einmal wiederholt.

    Was ich im Folgenden aufführe, ist nicht das, was man mehrheitlich in anderen philosophischen Schriften unter dem Oberbegriff »Philosophische Psychologie« findet!


    Mir geht es in diesem Kapitel um Themenbereiche, um Theorien und Personen die heutzutage von der Mehrheit der akademischen Psychologen nicht zur Psychologie gezählt werden, sondern eher als Überbleibsel einer Zeit angesehen werden, als noch philosophische Gedanken, metaphysische und unwissenschaftliche Spekulationen zur Psychologie gehörten.


    Psychologie

    Die Psyche ist die Gesamtheit aller geistigen Vorgänge, im Unterschied zu den physiologischen, körperlichen Vorgängen. Synonyme Begriffe sind Seele und Geist. Die Grenzen zwischen diesen Begriffen sind fließend. Psyche ist eher der wissenschaftliche, Seele eher der religiöse Begriff. Die Psyche umfasst sowohl das Bewusstsein wie das Unterbewusstsein und Unbewusstsein. (Näheres dazu weiter hinten in diesem Kapitel.)

    Die Wissenschaft von der Psyche ist die Psychologie. Sie untersucht die Gesamtheit aller bewussten und unbewussten geistig-seelischen Vorgänge und die sie beeinflussenden Geschehnisse. Viele akademische Psychologen von heute reduzieren die Psychologie auf die Untersuchung des Erlebens und Verhaltens der Menschen.

    Die Psychologie war bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ein Teil der Philosophie und hat sich erst vor ca. 150 Jahren nach und nach zu einer selbständigen Wissenschaft entwickelt. Der Begriff »Philosophische Psychologie« wird normalerweise für die Zeit verwendet, als die Psychologie Teil der Philosophie war bzw. allmählich als selbständige Wissenschaft entstand.

    Psychologismus

    Die Psychologie hat eine wichtige Bedeutung für die Philosophie, bzw. für bestimmte philosophische Strömungen. Einige Philosophen behaupten, dass alles Wissen, das wir haben, in unserer Psyche vorhanden sei, wir deshalb eigentlich immer nur Aussagen machen könnten, über die Inhalte und Arbeitsweise unserer Psyche, aber nicht über das von unserer Psyche unabhängig existierende. Diese Auffassung nennt man Psychologismus.

    Der Psychologismus will faktisch die Philosophie in Psychologie auflösen.


    Auch wenn man eine so weitgehende Auffassung nicht teilt, so haben einige Strömungen und Gebiete der Psychologie für die Philosophie eine große Bedeutung.

    »Unser Fühlen, Wollen und Denken ist [...] nicht vergleichbar mit den Gegenständen der Außenwelt: wir können das Wort hören, das einen Gedanken ausspricht, wir können den Menschen sehen, der ihn gebildet hat, wir können das Gehirn zergliedern, das ihn gedacht hat; aber das Wort, der Mensch, das Gehirn sind nicht der Gedanke, und in der Erkenntnis dessen, was Denken bedeutet, wie es in seinen eigenen Bestandteilen zusammengefügt ist, und wie es mit früheren Inhalten unseres Bewusstseins zusammenhängt – in allem dem können wir durch die Untersuchung jener physischen Gegenstände und Vorgänge nicht um einen Schritt vorwärts kommen.« Wilhelm Griesinger (1817–1868) Deutscher Psychiater




    Wichtige Begriffe für Psychologie und Philosophie

    Sozialisation

    Für die Funktionsweise und die Inhalte der Psyche sind neben den natürlichen Veranlagungen und den Lebensumständen wichtig die Sozialisation. Unter diesem Begriff wird verstanden:

    1. Die Gesamtheit aller äußeren Einflüsse, die auf einen heranwachsenden Menschen einwirken, die Erziehung durch Eltern und Lehrer, die Einflüsse anderer Menschen, zum Beispiel Geschwister und Freunde, sowie die allgemeinen Lebensumstände in einem bestimmten Kulturkreis, einem bestimmten Volk, einer bestimmten Zeit, einer bestimmten sozialen Schicht und einer ganz spezifischen Familie.
    2. Die innere Verarbeitung dieser Einflüsse durch den Heranwachsenden und damit die Herausbildung einer allgemeinen psychischen Struktur.
    3. Die unter diesen Umständen herausgebildeten Gefühle und Verhaltensweisen.

    Nach der Natur eines Menschen ist seine spezifische Sozialisation die zweite wichtige Ursache dafür, was für ein Mensch der jeweilige Mensch ist, wie er sich fühlt und verhält. Die Sozialisation ist oft ausschlaggebend dafür, welche religiöse und weitere weltanschauliche Überzeugungen ein Mensch hat. (Zusätzlich zur Natur und Sozialisation kommen die jeweiligen Lebensumstände und die jeweiligen Erkenntnismöglichkeiten – u. a. die Vernunft – als zwei weitere Ursachen hinzu.)

    Unbewusstes und Unterbewusstes

    Der Begriff des Unbewussten ist mit Freud und den von ihm beeinflussten Denkern populär geworden. (Es gab ihn allerdings auch schon früher.) Unter oder neben unserem Bewusstsein befinde sich das Unbewusste, das große Teile unseres Verhaltens steuere. Beim Unbewussten unterscheidet Freud zwischen bewusstseinsfähigem und »an sich und ohne weiteres« nicht bewusstseinsfähigem. Ersteres nennt er »vorbewusst«. Häufig wird dieser Teil des Unbewussten auch »Unterbewusstes« oder »Unterbewusstsein« genannt. Diese Begriffe sind aber umstritten. In der Umgangssprache, im Alltagsverständnis werden die Begriffe Unbewusstes und Unterbewusstes synonym gebraucht.

    Ich

    Das »Ich« bezeichnet die eigene Person, Körper und Geist. In der Philosophie wird mit »Ich« meistens die geistige Person bezeichnet.

    Ich existiere in einer »Bewusstseinsblase« und im Zentrum dieser Bewusstseinsblase ist die Instanz, die sich »Ich« nennt. Dies wird unmittelbar erlebt und ist deshalb unbezweifelbare subjektive Realität.

    »Cogito ergo sum.«
    »Ich denke also bin Ich.«
    René Descartes


    Nach dem psychologischen Aktualismus ist das »Ich« keine Substanz, die den seelisch-geistigen Prozessen zu Grunde liegt, sondern es ist identisch mit den seelisch-geistigen Prozessen. Dem steht entgegen der Substanzialismus, nach dem das »Ich« eine Substanz ist, die den seelisch-geistigen Prozessen zu Grunde liegt. Das ist Essenzialismus bezogen auf das Ich.

    Essenzialismus und Aktualismus

    Essenzialismus und Aktualismus sind zwei gegensätzliche ontologische Lehren. Essenzialismus ist die philosophische Lehre, nach der hinter der Welt der Erscheinungen eine Sphäre unveränderlicher Ideen oder Wesenheiten existiert. Hier lägen die Ursachen dafür, warum die Dinge, Tatbestände, Prozesse etc. so sind, wie sie sind. Dem Essenzialismus entgegengesetzt ist der Aktualismus. Das ist die philosophische Lehre, nach der es kein unveränderliches ruhendes Sein gibt, sondern unaufhörliches Werden, Geschehen, Verändern, Bewegung etc. Alles Sein beruht auf Aktivität, Lebendigkeit, schöpferischer Tätigkeit etc.

    Dialektisch ist das Ich identisch und nichtidentisch mit den Erlebnissen des Ichs. (Wie im 6. Kapitel näher ausgeführt.)

    Seine eigene Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellen, ist Egoismus.

    Es kann niemand ethisch verantwortungsvoll leben, der nur an sich denkt und alles seinem persönlichen Vorteil unterstellt. Du musst für den anderen leben, wenn du für dich selbst leben willst. Seneca (4 v. Chr.–65 n. Chr.) Bedeutender Römischer Philosoph

    Sein eigenes Ich in den Mittelpunkt stellen, ist Egozentrismus.

    Wenn ich zu viel Alkohol getrunken habe, dann habe ich oft ein egozentrisches Weltbild. Dann dreht sich alles um mich.

    Solipsismus

    Sein eigenes Ich für das einzig existierende Ich zu halten, ist Solipsismus. (Von lat. »solus« = allein und »ipse« = selbst.) Jede Form des Subjektiven Idealismus, wenn sie konsequent zu Ende gedacht wird, hat es mit der Problematik des Solipsismus zu tun, da das Fremdseelische nicht wie das eigene Seelische Teil des unmittelbar Erlebten ist. Zum Beispiel erlebt man nur seinen eigenen Schmerz, nie den Schmerz des anderen. Ansonsten gäbe es keine Folter. Einige Menschen sehen die Möglichkeit, dass das eigene Subjekt das einzige wirklich existierende Subjekt, das einzige sich wissende Ich ist. Alle anderen Menschen seien – wie die Menschen in einem Traum – Traumvisionen oder ähnliches.

    Ein Solipsist ist ein in ein uneinnehmbares Blockhaus verschanzter Irrer. Arthur Schopenhauer

    In einem weitergehendem Sinne bedeutet Solipsismus, dass die ganze Welt, das ganze Sein sich in den subjektiven Bewusstseinsinhalten erschöpfe. Alles sei ich.

    Im Kapitel Dialektik war bereits erwähnt worden, dass der Physiker Schrödinger der Auffassung war, dass alle Bewusstseins ein Bewusstsein sind. Schrödinger war aber kein Solipsist. Doch er war der Auffassungen, das alle Ichs letztlich identisch seien. Es gebe nur ein Bewusstsein, innerhalb dessen alles sei, auch alle Ichs. Schrödinger war kein metaphysischer Philosoph. Er war neben Planck und Einstein einer der drei bedeutendsten Physiker des 20. Jahrhunderts. Er war der Begründer der Wellenmechanik (wofür er den Nobelpreis bekam), einer physikalischen Theorie, nach der die von Einstein erkannte Doppelnatur des Lichts – Teilchen und Welle – auch für die Elektronen und die gesamte Materie gelte. Obwohl er ein bedeutender Naturwissenschaftler war, sagte er:

    »Ein rein verstandesmäßiges Weltbild ganz ohne Mystik ist ein Unding.«



    Panpsychismus

    »Allbeseeltheitslehre«. Psyche wird hier mit Seele gleichgesetzt. Alles Seiende sei »beseelt«. Nicht nur Menschen, auch Tiere, Pflanzen, Steine, Sterne, Wassertropfen, Wolken etc. hätten Seelen. (Wobei sich diese verschiedenen Seelen aber in ihrer Qualität unterscheiden können.) Darüber hinaus gebe es eine unpersönliche oder überpersönliche Weltseele, die Ursache aller Wirklichkeit und aller Bewegung sei. Der Panpsychismus ist eine Spielart des Idealismus. Der Panpsychismus beinhaltet im Unterschied zum Pantheismus aber nicht notwendigerweise die Auffassung, dass alles Seele ist, dass sich das Sein darin erschöpft, Seele, Geist, Gott, Bewusstsein etc. zu sein. Im Einzelfall wird aber oft der Panpsychismus gleichzeitig mit dem Pantheismus vertreten, so zum Beispiel von Spinoza und dem deutsche Philosoph Gustav Theodor Fechner (1801–1887).

    Traum

    Als Traum wird bezeichnet das Erleben im Schlaf. Die Tagträume sind unsere Wünsche. Tagträume werden aber auch oft nur Träume genannt.

    Wie ganz zu Beginn dieser Einführung zu bedenken gegeben, ist das Leben, die Welt vielleicht nur ein Traum. Viele Philosophen haben sich das gefragt. Andere Philosophen weisen das als Phantasterei schroff zurück.

    »Eines Tages wird man offiziell zugeben müssen,
    dass das, was wir Wirklichkeit getauft haben,
    eine noch größere Illusion ist
    als die Welt des Traumes.«
    Salvador Dali (1904–1989)
    Bedeutender spanischer Maler und Schriftsteller


    Überlegungen über den Traum können zur Zerstörung des »Naiven Realismus« beitragen, zu der Vorstellung, die Welt sei unabhängig von uns genauso, wie wir sie erleben.

    Überlegungen über den Traum können dazu führen, philosophische Hypothesen über ein das Wachbewusstsein übersteigende höheres Bewusstseinsniveau und eine die Wirklichkeit übersteigende »Hyperwirklichkeit« aufzustellen.

    Nach Freud (siehe weiter hinten) ist die wissenschaftlich systematische Traumdeutung der »Königsweg« zum Unterbewusstsein eines Menschen.

    »Der Traum ist eine Psychose,
    mit allen Ungereimtheiten, Wahnbildungen,
    Sinnestäuschungen einer solchen.«
    Sigmund Freud


    Häufig ziehen Menschen Tagträume einer realistischen Betrachtung vor. Sie leben partiell zwar in der Realität, können sie auch nüchtern, wissenschaftlich erfassen, aber in dem Moment wo es um ihre Träume geht, schalten sie den nüchternen Verstand ab. Beispiele sind die vielen gesellschaftlichen und politischen Phantasten. (Z. B. die Kommunisten und die Anarchisten) Auch die Unsterblichkeitsträumer bei den Transhumanisten.

    Ohne Träume keine Verbesserungen. Aber Träume, die nicht der Verstand kritisch sichtet, führen oft in die Katastrophe.

    »Franzosen und Russen gehört das Land,
    Das Meer gehört den Briten,
    Wir aber besitzen im Luftreich des Traums
    Die Herrschaft unbestritten.«
    Heinrich Heine (1797–1856)
    Bedeutender deutscher Dichter


    Glück

    Auf das Glück wurde im 8. Kapitel im Zusammenhang mit der Zielethik schon eingegangen. Hier noch ein paar weitere Anmerkungen zu diesem wichtigen Bewusstseinsinhalt.

    Das Streben der meisten Menschen gilt dem Glück. Meistens wird es als das einzig erstrebenswerte überhaupt angesehen. Die Untersuchung des Glücks und des Strebens danach ist deshalb von großer philosophischer Bedeutung.

    Bei diesem Streben nach Glück gibt es zwei weitverbreitete Irrtümer: Der erste Irrtum ist, dass auf die Dinge und Ereignisse der Außenwelt ein zu großer Wert gelegt wird. Ein bestimmtes Ding oder Ereignis, das bei mir Glück hervorruft, ruft bei anderen Menschen nur Langeweile oder Unglück hervor. Die Ereignisse und Dinge der Außenwelt scheinen relativ zu sein.

    »Das Glück, kein Reiter wird's erjagen,
    es ist nicht dort und ist nicht hier.
    Lern überwinden, lern entsagen,
    und ungeahnt erblüht es dir.«
    Theodor Fontane (1819–1898)
    Bedeutender deutscher Schriftsteller


    Glück als Gefühl kann auf verschiedene Weise erreicht werden: durch Luxus, materielle Güter, durch innere Entwicklung, durch Kultur, Wissenschaft, Philosophie etc., Selbsterhaltung und/oder Selbstentfaltung. Vereinigung mit Gott etc.

    Aber die meisten Menschen wollen gerade mit den Dingen und Ereignissen Glück in sich erzeugen, die ihnen nicht zur Verfügung stehen. Sie rackern sich ab, um ein bestimmtes Ding oder eine bestimmte Position zu erreichen und verschieben ihr Glück auf später, wenn das Erstrebte erreicht ist.

    Aber häufig erreichen sie das Erstrebte nie, weil sie sich überschätzt haben, oder sie erreichen es zwar, stellen dann aber fest, dass sie sich ganz falsche Vorstellungen gemacht haben und nun auch nicht glücklicher sind als vorher. Es kann auch sein, dass sie dann zwar eine Zeitlang damit glücklich sind, aber dann wird es zur Gewohnheit und sie gucken schon wieder woanders hin. (Weil immer neue Bedürfnisse entstehen.)

    »Wer ständig glücklich sein möchte,
    muss sich oft verändern.«
    Konfuzius


    Der zweite Irrtum bei der Glückssuche ist die Vorstellung, dass, wenn wir unser Streben nach Glück nur richtig anstellen, irgendwann das dauerhafte, nie mehr endende Glück eintrete, z. B. die große Liebe für das ganze Leben. (Und die Schlagertexter arbeiten ja auch zur Genüge daran, dass dieser Irrtum am Leben bleibt.)

    Unsere Psyche scheint so eingerichtet zu sein, dass wir ständig zwischen Glück und Unglück, zwischen Hochgefühl und Niedergeschlagenheit, zwischen Freude und Schmerz (oder welche Wörter man dafür auch immer benutzen mag) hin und her schwanken. (Unsere Psyche ist eben auch etwas dialektisches.)

    Die Welt um uns herum und die Welt in uns verändert sich ständig. Ein Ding oder ein Ereignis, aber auch eine Beziehung zu einem anderen Menschen, hat uns gestern noch glücklich gemacht, aber heute ist es uns schon langweilig und morgen finden wir es vielleicht zum Kotzen.

    »Die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks.
    Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr.«
    Hegel


    Liebe

    Als besonders hohe Form von Glück wird die Liebe angesehen. Liebe bedeutet für die meisten Menschen zuerst einmal das Gefühl des starken Hingezogensein und Hinstreben zu einer anderen Person, wobei die Erfüllung dieser Liebe mit höchsten Glücksgefühlen verbunden ist. Die aus Liebe entstandene Verbindung unterliegt keinem ökonomischen Kalkül. Die Liebe übersteigt alle anderen Interessen. Diese auf eine Person bezogene Liebe ist oft mit sexuellen Begierden verbunden, muss aber nicht. (Z. B. die Liebe zu den Kindern.)

    »Die Liebe ist wie ein Gewürz.
    Es kann das Leben versüßen –
    aber es auch versalzen.«
    Konfuzius


    Außer auf Personen kann sich die Liebe auch auf anderes beziehen, z. B. auf Kunst, auf ein bestimmtes Gemälde, auf eine bestimmte Musik, auf die Natur, auf die Tiere, auf das Vaterland oder die Menschheit, die Freiheit, die Philosophie etc. Die Liebe kann sich auch auf etwas beziehen, von dem es unsicher ist, ob es überhaupt existiert, auf Gott. (Mystik) Für die Menschen, die eine solche Liebe empfinden, ist diese oft das höchste Gefühl, das sie kennen und oft auch das höchste Gefühl, das sie für möglich halten.

    Einige Menschen leiten aus diesem höchsten Gefühl Sicherheit ab. Liebe schaltet bei ihnen den Zweifel aus. Und spätestens hier beginnt die Liebe von philosophischem Interesse zu sein. Liebe ist bei einigen Philosophen ein Erkenntnisinstrument. Z. B. bei Platon, Ludwig Feuerbach und Erich Fromm.

    »Wenn wir jung sind,
    gelten alle Gedanken der Liebe.
    Im Alter gilt alle Liebe den Gedanken.«
    Albert Einstein


    Liebe ist nicht nur ein Gefühl, Liebe ist auch bei vielen Menschen eine ethische Grundhaltung, z. B.. das Liebesgebot für die Christen.

    Liebe wird von einigen Philosophen und besonders von vielen religiösen Menschen auch als ein die Welt ordnendes Prinzip angesehen. Der Ursprung der Welt und/oder sein innerster Kern wird einerseits mit der Vernunft, andererseits aber auch mit der höchsten Liebe gleichgesetzt. Kritiker einer solchen Behauptung stellen die Frage, warum es dann soviel Dummheit und Grausamkeit in der Welt gibt.

    »Weder Liebe ohne Wissen
    noch Wissen ohne Liebe
    können ein gutes Leben bewirken.«
    Bertrand Russell


    Affekte

    Affekte (von lat. »affectus« = körperlicher Zustand, Gemütsverfassung) sind im heutigen Sprachgebrauch und in der Psychologie plötzlich auftretende Erregungen, Gemütsbewegung von (meist) kurzer Dauer. Freude, Ärger, Angst, Ekel, Wut, Begeisterung, Traurigkeit, Scham, Eifersucht. Oft mit körperlichen Begleiterscheinungen bezüglich Atmung, Herztätigkeit, Gesichtsfarbe u. ä.

    Affekte sind in der Philosophie Gefühle, Bedürfnisse, Begierden und Leidenschaften, die ein dauernder Bestandteil des Menschen sind.


    Angst

    Ein wichtiger Affekt ist die Angst, in der Regel ein Gefühl des Unwohlseins in einer bestimmten Situation, die wir als bedrohlich für uns ansehen. Angst ist häufig Voraussetzung für Überleben, besonders war dies so bei unseren tierischen und steinzeitlichen Vorfahren. (Und heute noch z. B. im Straßenverkehr.) Wer keine Angst kennt, ist schnell wegselektiert. Die Fähigkeit Angst zu haben, hat in uns eine physiologische Grundlage.

    »Blinder als blind ist der Ängstliche.«
    Max Frisch


    »Freude und Angst sind Vergrößerungsgläser.«
    Jeremias Gotthelf
    (1797–1854)
    Schweitzer Schriftsteller


    Angst kann sowohl blind machen, als auch die Aufmerksamkeit, das Bewusstsein für etwas, für eine Situation steigern.

    Es gibt aber auch eine allgemeine Angst, die sich nicht aus der konkreten Lebenssituation eines Menschen erklären lässt, die keine Angst vor etwas konkretem ist. Diese Angst ist bei einigen Philosophen ein ganz zentraler Aspekt ihrer Philosophie, z. B. bei Kierkegaard und Heidegger. (Darüber hinaus in der gesamten Existenzphilosophie.)

    Die Hirnforschung hat inzwischen herausgefunden, dass bei Menschen mit starken Angstgefühlen in ihrem Gehirn Besonderheiten gegenüber »normalen« Menschen feststellbar sind. Angst – und zwar nicht die konkrete Angst vor einer konkreten Sache, in einer bestimmten Situation etc. – sondern die allgemeine unbestimmbare Lebensangst kann naturwissenschaftlich-medizinisch abgesichert als eine von physiologischen Tatbeständen im Gehirn hervorgerufene Krankheit bezeichnet werden. Sie ist von daher auch medizinisch, medikamentös und psychiatrisch behandelbar.

    »Gott ist ein Komödiant,
    der vor einem Publikum spielt,
    das zu ängstlich zum Lachen ist.«
    Voltaire



    Für die Philosophie bedeutende Psychologen

    Viele Psychologen der Vergangenheit haben bezüglich der Psyche des Menschen, ihrer Struktur und ihrer Entstehung philosophiert. Ihr Bild von der Psyche ist oft nicht nur auf empirische Weise entstanden, nicht nur durch Beobachtungen und Experimente, sondern durch Intuition, durch freie Assoziation. Deshalb wird ihnen von akademischen Psychologen und Wissenschaftstheoretikern oft die Wissenschaftlichkeit abgesprochen.

    Die Geschichte der Psychologie reicht zurück in die Antike, auch wenn die Psychologie erst im Verlaufe des 19. Jahrhunderts als selbständige Wissenschaft entstand. So waren frühere »Psychologen« Philosophen. Platon entwickelte ein Schichtenmodell der Seele. Aristoteles erforschte die Bestandteile, die Funktionsweise, die Bedeutung der Seele. Im Mittelalter fragte Thomas von Aquin nach dem Verhältnis von Leib und Seele. Wie zu Beginn der Neuzeit dann auch Descartes. Kant dachte schon über das Unbewusste nach. Jakob Friedrich Fries (1773–1843) gilt als erster Psychologist. Fechner betrieb eine experimentelle Psychologie, als deren Begründer in der Regel aber Wilhelm Wundt (siehe weiter hinten) angegeben wird. Es ist in gewissen Grenzen willkürlich, welche Personen man als die ersten Psychologen bezeichnet.

    Carl Gustav Carus

    Zu den frühen Psychologen gezählt wird Carl Gustav Carus (1789–1869). Er war ein deutscher Universalgelehrter, Arzt, Naturforscher, Philosoph und Maler. Er war mit der deutschen Romantik und der Philosophie Schellings verbunden. Carus verstand den Kosmos als lebensdurchwaltetes Ganzes. Er war noch vor Freud ein Theoretiker des Unbewussten, das im Gefühlsleben und in Träumen zugänglich sei und das mit dem Bewusstsein in kommunizierender Verbindung stehe.

    »Der Schlüssel zur Erkenntnis vom Wesen des bewussten Seelenlebens liegt in der Region des Unbewusstseins. [...] Wir besitzen zu jeder Zeit, während wir nur einiger wenigen Vorstellungen uns wirklich bewusst sind, Tausende von Vorstellungen, welche doch durchaus dem Bewusstsein entzogen sind, welche in diesem Augenblicke nicht gewusst werden und doch da sind.« Carl Gustav Carus

    Wilhelm Wundt

    Wilhelm Wundt (1832–1920) ein deutscher Philosoph, gilt als Begründer der experimentellen Psychologie in Deutschland. Er betrieb Psychologie nach naturwissenschaftlichem Vorbild. Die Psychologie sei Grundwissenschaft aller Geisteswissenschaften. Seine Völkerpsychologie untersuchte allgemeingültige Geisteserzeugnisse, z. B. Sprache und Mythos. Die Seele sei unmittelbar erlebte Wirklichkeit. Wundt vertrat einen psycho-physischen Dualismus. Seine »Heterogonie« bedeutet das Entstehen von anderen Wirkungen als den ursprünglich beabsichtigten, die wiederum neue Motive verursachen könnten. So war es z. B. nicht die »Absicht« der Evolution, dass der Mensch höhere Mathematik betreiben kann. Diese Fähigkeit war ein Nebenprodukt der Evolution.

    »Die Empfindung aber, dieser erste psychische Akt, in welchen der fortgepflanzte Bewegungsprozess sich umsetzt, ist etwas vollkommen Neues, das aus den vorangegangenen Bewegungserscheinungen sich vorerst nicht ableiten lässt.« Wilhelm Wundt

    Sigmund Freud

    Sigmund Freud (1856–1939) war der Begründer der Psychoanalyse. Tiefenpsychologie gab es schon vor Freud, aber er hat sie populär gemacht. Sie wurde erst durch ihn innerhalb der Psychologie zu einer bedeutenden Strömung. Freud ist eine der bedeutendsten Personen des 20. Jahrhunderts. Das von ihm geschaffene psychologische Theoriegebäude hatte einen gewaltigen Einfluss auf die Psychologie und darüber hinaus auf die gesamte Wissenschaft, die Erziehung und die Gesellschaft. Auch viele Gegenwartsphilosophen hat er stark beeinflusst. Viele der von ihm beeinflussten Psychologen, Philosophen und Gesellschaftswissenschaftler haben später dann allerdings in vielen Details andere Auffassungen als Freud vertreten.

    Die Originalität der freudschen Theorie bestand in der Entdeckung, dass große Teile unseres Verhaltens nicht unserer bewussten Kontrolle unterliegen, sondern aus dem Unbewussten gesteuert werden. Für Freud ist das Unbewusste mehr als ein Noch-nicht-Bewusstes, es sei vom Bewusstsein abgetrennt, dem Willen entzogen, sei aber aktiv und könne zu psychischen Störungen führen, von harmlosen Versprechern bis zu schweren Geisteskrankheiten.

    Freud behauptete, das Unbewusste sei von sexuellen Trieben und Wünschen dominiert. Er hat den Anstoß gegeben zur Enttabuisierung der Sexualität. Das ist eines seiner größten Verdienste.

    Zentrale Aussagen Freuds sind u. a.: Jeder Mensch durchlaufe im Fortgang seiner kindlichen Entwicklung die orale, anale und ödipale Phase. Jede Phase sei von spezifischen innerindividuellen Konflikten begleitet, deren Lösung oder Nichtlösung über die spätere geistig Gesundheit entscheide. Die psychische Apparat eines Menschen bestehe aus ES, ICH und ÜBER-ICH = (vereinfacht) Triebe, Bewusste Persönlichkeit, Gewissen. Eine Neurose sei eine erworbene Strukturverformung, ein Missverhältnis zwischen den Instanzen und der Umwelt.

    Freud war Atheist und ein Feind der Religion. Nach ihm ist Religion einer Kindheitsneurose vergleichbar.

    »Ich ziehe die Gesellschaft der Tiere der menschlichen vor. Gewiss, ein wildes Tier ist grausam. Aber die Gemeinheit ist das Vorrecht des zivilisierten Menschen.« Sigmund Freud

    Alfred Adler

    Alfred Adler (1870–1937) war ein zeitweiliger Weggefährte und später ein Gegner Freuds. Er war wie dieser Österreicher jüdischer Abstammung, Arzt und Psychologe. Er wurde zum Begründer der Individualpsychologie, einer Richtung der Tiefenpsychologie. Von Freud unterschied sich seine Theorie besonders dadurch, dass bei ihm nicht die Sexualität, sondern das Minderwertigkeitsgefühl Dreh- und Angelpunkt ist.

    »Menschsein heißt,
    ein Minderwertigkeitsgefühl zu besitzen,
    das ständig nach seiner Überwindung drängt.«
    Alfred Adler


    Der Name »Individualpsychologie« sollte auf die Unteilbarkeit und Einzigartigkeit des Individuums hinweisen. Adler wollte sich mit dieser Namensgebung von Freud abgrenzen, der das Psychische in verschiedene Systeme aufgeteilt hatte. Dagegen sieht die Individualpsychologie den Menschen als soziale Ganzheit und nach einem Ziel strebende Einheit an.

    Minderwertigkeitsgefühle sind nach Adler etwas allgemein menschliches, nicht etwas, von denen nur einige oder viele Menschen betroffen sind. Die Auseinandersetzung mit dem Minderwertigkeitsgefühl werde – wenn nicht richtig gelöst – Ursache für Neurosen, könne aber auch Ursache für Kultur werden. Das Minderwertigkeitsgefühl dränge zu Wachstum und Entwicklung. Deshalb sei ein Kind erziehbar, ahme die Eltern nach etc. Wir seien von Natur aus Mängelwesen. Deshalb entwickelten wir Wissenschaft und Technik.

    Stärker als andere Richtungen der Tiefenpsychologie betont die Individualpsychologie das Gemeinschaftsgefühl und trifft sich so mit der Soziologie. Der Mensch wird als soziales Lebewesen gesehen. Alle Kulturerrungenschaften seien das Ergebnis von Gemeinschaftsleben. Die Mitmenschlichkeit wird als Grundstruktur der menschlichen Existenz angesehen.

    Adlers Betonung der großen Rolle des Machtstrebens zeigt Ähnlichkeiten zu Nietzsche. Es gibt aber auch einen sehr wichtigen, für das praktische Leben geradezu fundamentalen Unterschied zwischen Nietzsche und Adler. Nietzsche bejaht Machtstreben bis hin zu faschistischen Einstellungen und Verhaltensweisen. Für Adler dagegen ist Machtstreben »Falsche Kompensation«, eine neurotische Fehlhaltung, die unter günstigen Umständen therapierbar ist.

    »Die Anschauungen der Individualpsychologie verlangen den bedingungslosen Abbau des Machtstrebens und die Entfaltung des Gemeinschaftsgefühls. Ihre Losung ist der Mitmensch, die mitmenschliche Stellungnahme zu den immanenten Forderungen der menschlichen Gesellschaft.« Alfred Adler


    Carl Gustav Jung

    Carl Gustav Jung (1875–1961), ein Schweizer Psychologe. wird häufig als einer der bedeutendsten Psychologen des 20. Jahrhunderts genannt. Neben Freud und Adler war er einer der Begründer der Tiefenpsychologie. Ursprünglich Schüler Freuds trennte er sich 1912 von diesem und begründete seine eigene Theorie, die er »analytischen Psychologie« nannte.

    Jung ist der Mystiker unter den Tiefenpsychologen. Er glaubte an Spiritismus, Astrologie, Telekinese und an ein kollektives Unterbewusstsein der Menschheit. Er hatte Zeit seines Lebens Interesse für alles Geheimnisvolle, parapsychische Phänomene, fliegende Untertassen, Gnosis, Alchimie u. ä. m., mit denen sich zu beschäftigen anderen Wissenschaftlern in der Regel als unseriös erscheint. Jung versuchte diese Dinge wissenschaftlich zu erklären. Auch die Beschäftigung mit dem Religiösen ist ein Grundzug seiner Studien.

    Jung sympathisierte zeitweilig mit dem Faschismus. Seine psychologischen Theorien aber deshalb als faschistisch zu bezeichnen, wäre genauso falsch, wie wenn man die Philosophie Blochs, wegen dessen Fehleinschätzung des Stalinismus, stalinistisch nennen würde.

    »Man sieht, was man am besten aus sich sehen kann.« C. G. Jung


    Erich Fromm

    Erich Fromm (1900–1980) war ein deutsch-amerikanischer Psychologe jüdischer Abstammung, dessen Schriften auch soziologische und philosophische Untersuchungen und Aussagen beinhalten. Fromm gehört zur »kulturalistischen« Richtung der Psychoanalyse, in der gesellschaftliche Umstände stärker berücksichtigt werden als bei Freud. Fromm will der Philosophie nicht ihren Eigenwert streitig machen, aber er relativiert sie. Der Mensch philosophiere nie, ohne vom Unbewusstsein bestimmt zu sein. Es gebe auch ein »gesellschaftliches Unterbewusstsein«, den Gesellschaftscharakter, d. h. mehrheitlich in einer Gesellschaft vorkommende Charaktereigenschaften. In einer seiner bedeutendsten Schriften Haben oder Sein weist Fromm auf zwei verschiedene Denk- und Verhaltensweisen hin. Ein Haben-orientierter Mensch schöpfe seine Identität aus dem, was er habe, z. B. materielle Güter, religiöse Überzeugungen, Titel etc., oder auch aus dem, was er nicht habe. Ein Seins-orientierter Mensch schöpfe seine Identität aus dem, was er sei, wie er denke, handle. Ein Seins-orientierter Mensch wüchse, produziere, sei schöpferisch, lebe. Ein Haben-orientierter Mensch besitze etwas faktisch totes.

    Nicht der ist reich, der viel hat, sondern der, welcher viel gibt. Der Hortende, der ständig Angst hat, etwas zu verlieren, ist psychologisch gesehen ein armer Habenichts, ganz gleich, wie viel er besitzt. Wer dagegen die Fähigkeit hat, anderen etwas von sich zu geben, ist reich. Erich Fromm


    Wilhelm Reich

    Wilhelm Reich (1897–1957) war ein österreichisch-amerikanischer Psychologe und Gesellschaftstheoretiker jüdischer Abstammung. Ursprünglich war er ein Schüler Freuds, versuchte später eine Verbindung psychoanalytischer und marxistischer Gedanken. Wie bei Freud, wenn auch im Detail vielfach anders, war ebenso bei Reich die Sexualität der Dreh- und Angelpunkt aller Erklärungen. Im Gegensatz zu Freud beschäftigte er sich auch stark mit der Gesellschaft und vertrat einen linken, einen kommunistischen Standpunkt.

    Die Sexualenergie sei der zentrale Motor des Seelenlebens, sobald die sexuellen Bedürfnisse in Widerspruch geraten würden zu den gesellschaftlichen Bedingungen. Die moralischen Instanzen im Menschen seien ein Produkt der Erziehung und wendeten sich besonders gegen die Sexualität. Es entstehe ein innerer Widerspruch von Trieb und Moral. Die verdrängte Sexualität werde zur Ursache für Komplexe, Neurosen usw.

    Liebe, Arbeit und Wissen sind die Quellen unseres Daseins. Sie sollen es auch regieren. Wilhelm Reich


    Die patriarchalischen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse machten die Sexualunterdrückung notwendig. Die Sexualunterdrückung stehe nicht am Anfang des Kulturprozesses, (wie Freud annahm), sondern am Beginn der Klassenspaltung. Durch die moralische Hemmung der natürlichen Geschlechtlichkeit (und die daraus entstehenden psychischen Störungen) würden die Menschen ängstlich, scheu, autoritätshörig, gehorsam und erziehbar gemacht. Sie schaffe einen Menschen, der sich widerspruchslos beherrschen und ausbeuten lasse.

    Die Unterdrückung grob materieller Bedürfnisse führe zur Rebellion. Die Unterdrückung sexueller Bedürfnissen führe zu deren Verdrängung und verhindere die Rebellion gegen beide Arten der Unterdrückung. Die Sexualunterdrückung schaffe darüber hinaus eine sekundäre Kraft, die die patriarchalische Gesellschaft stütze. Die unterdrückte Sexualität suche nach Ersatzbefriedigung. So werde die natürliche Aggressivität gesteigert zu brutalen Sadismus und dieser zur Ursache von Folter, Krieg, KZ u. ä.

    Inzwischen haben in vielen Ländern der Welt große Teile der Bevölkerung die Sexualunterdrückung überwunden, ohne dass dies zum Ende von sozialer Ungleichheit und gesellschaftlichen Unterdrückungsmechanismen geführt hätte. Und sexuell »befreite« Menschen sind nicht netter als »nicht-befreite«.

    (Ab ca. 1937 allerdings veränderte Reich seine Positionen stark und das eben Gesagte traf auf ihn nicht mehr zu. Deshalb wird heute zwischen dem frühen und dem späten Reich unterschieden. Der späte Reich wurde zum Esoteriker und Psychopathen.)

    Jean Piaget

    Jean Piaget (1896–1980) war ein bedeutender schweizer Psychologe, ein Vertreter der Entwicklungspsychologie. Er befasste sich besonders mit der kindlichen Entwicklung der Sprache, des Denkens, der Raum-, Zeit- und Kausalvorstellungen, so wie mit der moralischen Urteilsbildung. Anpassung sah er als Gleichgewicht zwischen psychischer Assimilation und Akkomodation. »Die Assimilation ist konservativ und möchte die Umwelt dem Organismus so unterordnen, wie sie ist, während die Akkomodation Quelle von Veränderungen ist und den Organismus den sukzessiven Zwängen der Umwelt beugt.« Piaget zeigte, wie das Denken von Schulkindern vom anschaulich-praktischen zum konkret-operatorischen und reversiblen und dann zum formal-systematischen fortschreitet. Für die Pädagogik sind seine Theorien von großer Bedeutung.

    Sinn der Erziehung ist nicht, so viel wie möglich zu lernen, die Lernziele immer höher zu stecken, sondern vor allem Lernen zu lernen; zu lernen, sich zu entfalten und sich auch nach der Schulzeit weiterzuentwickeln. Jean Piaget


    Die Vertreter des Radikalen Konstruktivismus sehen in Piaget einen ihrer Vorläufer.

    »Die Intelligenz organisiert die Welt,
    indem sie sich selbst organisiert.«
    Jean Piaget


    Burrhus Frederic Skinner

    Burrhus Frederic Skinner (1904–1990) war ein bedeutender amerikanischer Psychologe, ein Vertreter des Behaviorismus, der den Menschen ausschließlich gesellschaftlich determiniert sah. Skinner wird wegen dieser Auffassung, oft als Gegenspieler zu Konrad Lorenz angesehen, der auf das instinktive Verhalten hinweist. Dies wurde im 4. Kapitel kurz angesprochen.


    Für die Philosophie bedeutende psychologische Strömungen

    Tiefenpsychologie

    Die Tiefenpsychologie, die Beschäftigung mit der Seele etc. sehen viele heutige akademische Psychologen (keineswegs aber alle!) als nicht mehr zeitgemäßes Überbleibsel aus einer Zeit, als Psychologie noch stark mit Philosophie, Metaphysik und unwissenschaftlicher Spekulation verbunden war. Die Tiefenpsychologie, die sich mit der Bedeutung des Unbewussten und des Unterbewussten beschäftigt, ist deshalb von philosophischem Interesse, weil die philosophischen Auffassungen eines Menschen zumindest auch, wenn nicht in einem starken Maße das Produkt seines Unterbewusstseins sind. Auch die Art und Weise, wie ein Mensch mit seinen Auffassungen und den abweichenden Auffassungen anderer Menschen umgeht.

    Zu einer Zeit, als ich noch aktiv Kabarett machte, mich also auf »den Brettern, die die Welt bedeuten« bewegte – ich mich aber auch gleichzeitig mit Philosophie und mit Dogmatismus auseinandersetzte –, da fiel mir folgender Aphorismus ein:

    Viele Menschen tragen die Bretter vor'm Kopf, die ihnen die Welt bedeuten.


    Genau genommen tragen sie die Bretter im Kopf. Diese bestehen aus einer relativ stabilen Anordnung von Nervenimpulsmustern.

    Gestaltpsychologie

    Eine besondere Lehrmeinung innerhalb der Psychologie ist die Gestaltpsychologie. Sie behauptet die schöpferische, organisierende, »gestaltende« Tätigkeit des menschlichen Geistes, im Unterschied zu einer Assoziationspsychologie, in der nur sinnliche Wahrnehmungen verknüpft werden. Am Anfang stehe auch beim Menschen Instinkt und Dressur, aber im Verlaufe seiner geistigen Entwicklung werde er zu einem schöpferischen, gestaltenden Wesen. Die Gestaltpsychologie ist von philosophischem Interesse, weil nach ihr der Mensch die von ihm erlebte Welt nicht vorfindet, sondern konstituiert bzw. konstruiert. Konstitutionstheorie und Konstruktivismus werden im 14.  Kapitel näher erläutert. Ein wichtiger Vertreter der Gestaltpsychologie ist Karl Bühler (1879–1963). Ein wichtiger Vertreter dieser Lehrmeinung in der Philosophie ist Karl Popper. Dessen Philosophie wird im 15. Kapitel vorgestellt.

    Anschauliche Beispiele, wie wir nicht nur wahrnehmen, sondern unsere Wirklichkeit gestalten, befinden sich im 4. Kapitel.

    Psychopathologie

    Die Psychopathologie beschäftigt sich mit Geisteskrankheiten. Nun ist es so, dass die Menschen nicht in gesunde und kranke unterschieden werden können. Schon gar nicht was ihren Geist anbetrifft. Es gibt so gut wie keinen Menschen, der nicht irgendeine kleinere, oft auch größere »Macke« hat. Die Psychopathologie ist von philosophischem Interesse, da psychische Störungen oft eine Auswirkung haben auf die philosophischen Auffassungen eines Menschen. Auch wie ein Mensch mit seinen Auffassungen umgeht. Fanatismus bzw. Dogmatismus sind Formen von Neurosen, im Extremfall sind sie Psychosen. Es wird ohne jeden Zweifel an Auffassungen festgehalten, obwohl es eine ganze Menge von intelligenten und anständigen Menschen gibt, die andere Auffassungen vertreten. Dabei sind Dogmatiker – wie Psychotiker – in der Regel Argumenten nicht zugänglich. Auch die große Bedeutung der Angst bei einigen Philosophen hat einen psychopathologischen Aspekt.

    »Es ist unglaublich,
    wie viel Geist in der Welt aufgeboten wird,
    um Dummheiten zu beweisen.«
    Friedrich Hebbel



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    12. Kapitel

    Staats- und Gesellschaftsphilosophie


    »Es ist offensichtlich, dass der Staat ein Werk
    der Natur ist und der Mensch von Natur aus
    ein staatenbildendes Lebewesen.«
    Aristoteles



    In diesem Kapitel wird vermittelt:

    • Was man in der Philosophie unter Gesellschaft und Gesellschaftsphilosophie versteht.
    • Was Soziologie und Soziologismus ist.
    • Was Geschichte und Geschichtsphilosophie ist.
    • Was man in der Philosophie unter Staat und Staatsphilosophie versteht.
    • Welche unterschiedlichen Staatsphilosophien bedeutende Philosophen vertreten haben.
    • Was Politik, Recht und Macht ist.
    • Was für Formen von Gewaltenteilung es gibt.
    • Welche unterschiedlichen Vorstellungen es von Demokratie gibt.
    • Was Humanismus ist.
    • Was Popper unter den Paradoxa der Demokratie, der Freiheit und der Toleranz verstand.
    • Was die wichtigsten politisch-gesellschaftlichen Strömungen der jüngeren Zeit sind.

    Gesellschaft

    Was Aristoteles noch nicht wissen konnte (zu seiner Zeit wusste man noch nichts von der Evolution des Lebens), der Mensch ist aus Herdentieren hervorgegangen. Er war immer ein gesellschaftliches Wesen und durch die Gesellschaft geprägt. Und die Ordnung in der Herde ist eine Vorform des Staates. Von daher lag Aristoteles richtig, wenn er den Mensch als von Natur aus als ein »zoon politikon«, ein staatenbildendes Lebewesen sah

    Gesellschaft ist in der Philosophie und den Sozialwissenschaften eine Gruppe von Individuen, die nach gewissen (oft geschichtlich gewachsenen) Regeln zusammenleben und durch gemeinsame (oft geschichtlich gewachsenen) Merkmale – z. B. Sprache, Rechtsauffassungen – und Interessen – z. B. gemeinsame Produktion der Lebensmittel – verbunden sind. Gesellschaft ist bei einigen Philosophen nur die Gesamtheit der Beziehungen der Individuen zueinander, nicht die Individuen selbst.


    Der bedeutende deutsche Soziologe Ferdinand Tönnies (1855–1936) unterschied zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft. Gemeinschaft ist ein natürlich gewachsenes auf Gefühlen beruhendes Zusammenleben, z. B. eine Familie. Darüber gibt es eine lose Verknüpfung von Individuen, die Gesellschaft, derer sich die Einzelnen gemäß ihren Interessen bedienten, z. B. die Bevölkerung der Stadt Berlin.

    In der Systemtheorie des bedeutenden deutsche Soziologen Niklas Luhmann ist Gesellschaft das umfassendste soziale System, das keine soziale Umwelt mehr hat, weil es alle sozialen Systeme, Verhältnisse und Tatbestände beinhaltet. Gesellschaft ist für Luhmann alles, was durch Kommunikation füreinander erreichbar ist.

    Zwischen den Einzelnen und der Gesellschaft gibt es eine gegenseitige Abhängigkeit und Beeinflussung. Der Zustand der Gesellschaft ist u. a. abhängig von der Konstitution und dem Verhalten der einzelnen Mitglieder. Der Zustand der Gesellschaft wirkt aber wiederum auf die Einzelnen und ist eine Ursache ihres Fühlens und Verhaltens.

    Die Individuen können in der Gesellschaft ihre Bedürfnisse z. B. nach Sicherheit, materiellem Wohlstand etc. besser befriedigen, denn als Einzelgänger. Dafür schränkt die Gesellschaft die Freiheit des Einzelnen ein und verlangt von ihm des Öfteren ein Verhalten, das gegen seine eigenen Interessen steht.

    »Keine Gesellschaft kann gedeihen
    und glücklich sein, in der der weitaus
    größte Teil ihrer Mitglieder arm und elend ist.«
    Adam Smith


    Die Menschen sind in der Gesellschaft nicht gleichberechtigt, Gesellschaften sind in der Regel Klassengesellschaften. In neuerer Zeit sprechen die Gesellschaftstheoretiker allerdings mehrheitlich nicht von Klassen, sondern von verschiedenen sozialen Schichten, da die Bedeutung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht und die Schichten-Durchlässigkeit heute eine andere ist, als im 19. Jahrhundert.

    Die Gesellschaft bzw. ihre konkrete Beschaffenheit oder ihr Entwicklungsstand spielt in einigen philosophischen Systemen eine große Rolle, z. B. im Marxismus. Hier wird behauptet, der Mensch sei nur oder in aller erster Linie ein gesellschaftliches Wesen, das in seinem Fühlen und Verhalten, seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen durch die bestehenden gesellschaftlichen, besonders ökonomischen Verhältnisse bestimmt wird.

    Der Mensch ist das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Karl Marx


    Für Marx besteht die Gesellschaft nicht aus Individuen, sondern sie ist die Summe der Beziehungen, der Verhältnisse, die diese Individuen zueinander haben. So sehen auch andere Soziologen und Philosophen die Gesellschaft nicht so sehr in der Summe der Individuen, sondern als Organisationsform der Individuen. (Ähnliches war im 4. Kapitel im Zusammenhang mit dem Relativismus schon erwähnt worden. Die Dinge, auch Menschen, bekommen ihre Bedeutung erst durch ihre Relationen zu anderen Dingen, bzw. Menschen.)

    Weitere wichtige Personen bezüglich der starke Betonung der Gesellschaft sind u. a. der bedeutende französische Soziologe Auguste Comte (1798–1857) und Hegel, auf den Marx ursprünglich aufbaute und alle an diese Denker anknüpfenden Philosophen.

    Soziologie

    Der Gesellschaft eine alleinige oder ausschlaggebende Bedeutung für das Denken, Fühlen und Verhalten der Menschen zuzuschreiben wird auch »Soziologismus« genannt. Dessen Grundaussage:

    Alles ist gesellschaftlich vermittelt.


    Die Soziologie wird als Generalwissenschaft angesehen.

    Soziologie (von lat. »societas« = Gemeinschaft) ist die Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft. Die Soziologie hat eine große Bedeutung für die philosophischen Strömungen und Systeme, die davon ausgehen, dass die Erkenntnismöglichkeiten der Menschen und der konkrete Entwicklungsstand der Philosophie ganz oder in starkem Maße von der Beschaffenheit bzw. dem jeweiligen Entwicklungsstand der Gesellschaft abhängen.



    Gesellschaftsphilosophie

    Die Gesellschaftsphilosophie, auch Sozialphilosophie genannt, versucht Grundsätzliches über die Gesellschaft auszusagen und überschneidet sich sowohl mit der Soziologie, wie mit der weiter hinten in diesem Kapitel behandelten Staatsphilosophie. Es wird gefragt:

    • nach dem Wesen, dem Sinn und den Funktionen einer Gesellschaft
    • nach ihrer grundlegenden Struktur,
    • nach ihren Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen,
    • nach ihren rechtlichen bzw. normativen Grundlagen und
    • nach dem Verhältnis zwischen den einzelnen Individuen und der Gesellschaft.

    In der Gesellschaftsphilosophie wird auch oft nach der Legitimität der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse gefragt und gedanklich Alternativen zum gegenwärtigen Zustand erörtert. Es kommt hier also auch Ethik ins Spiel.

    Geschichte

    Der Begriff Geschichte (das Wort ist verwandt mit »Geschehnis«) für sich allein bedeutet in der Regel die Geschichte von Gesellschaft und Staat. Dazu gibt es die Geschichte einzelner Aspekte: Geschichte der Philosophie, Wissenschaft, Technik, Kultur etc.

    Unter Geschichte wird dreierlei verstanden:

    1. die Abfolge von Geschehnissen,
    2. die Berichte über die Geschehnisse und
    3. die wissenschaftliche Erforschung der Geschehnisse und ihrer Abfolge mit dem Ziel, Gesetze, Zusammenhänge etc. aufzudecken und Grundsätzliches über die Geschehnisse und ihren Verlauf auszusagen.

    Diese Einteilung ist allerdings nicht unumstritten. Für einige Historiker (»Geschichtswissenschaftler«) und Philosophen besteht Geschichte nur aus den ersten beiden Punkten, für andere nur aus dem 3. Punkt. Zwei exemplarische Aussagen dazu:

    Die Geschichte ist nicht viel mehr als eine Aufzählung der Verbrechen, Narrheiten und Unglücksfälle der Menschheit. Edward Gibbon (1737–1794) Britischer Historiker.


    Geschichte ist nur das, was in der Entwicklung des Geistes eine wesentliche Epoche ausmacht. Hegel


    Es gibt die Naturgeschichte der Menschen, das heißt die Geschichte der Entwicklung der Menschen aus dem Naturreich heraus. So weisen u. a. Konrad Lorenz und Hoimar von Ditfurth auf die Bedeutung hin, die die Entwicklung von der Urzelle zum Menschen für unser Erkenntnisvermögen hat.

    Geschichtsphilosophie

    In der Philosophie und den Sozialwissenschaften wird gefragt nach der Bedeutung der vergangenen Ereignisse für den gegenwärtigen Zustand. Sowohl den der Gesellschaft, aber auch für den gegenwärtigen Entwicklungsstand der Philosophie.

    Die Geschichte der Menschheit spielt bei einigen Philosophen eine große Rolle. Die Geschichte wird zur Geschichtsphilosophie. Als deren Begründer gilt der italienische Philosoph Giambattista Vico (1668–1744).

    Geschichtsphilosophie kann verschiedenes bedeuten:

    • Das Nachdenken darüber, was Geschichtswissenschaft ist und sein könnte.
    • Bewegende und stabilisierende Faktoren der Entwicklungen erforschen.
    • Entwicklungsprinzipien und Ziele der Geschichte feststellen.

    Grundfrage der Philosophie

    Auch in der Geschichtsphilosophie treffen wir wieder auf die Grundfrage der Philosophie, die im 2. Kapitel erklärt wurde. Idealistische Philosophen betonen in der Regel die »Machbarkeit« der Geschichte. Ihr Verlauf hänge von großen Ideen und großen Persönlichkeiten ab. Die materialistischen Philosophen betonen in der Regel dagegen den gesetzmäßigen Verlauf der Geschichte, die in ihren Grundsätze nicht von Personen und Ideen abhänge.

    Es gibt allerdings Ausnahmen! Hegel, einer der bedeutendsten idealistischen Philosophen behauptete den gesetzmäßigen Verlauf der Geschichte. Und Lenin, ein Anhänger des Geschichtsdeterminismus, hat kurioser Weise Geschichte gemacht. Die Sowjetunion hätte es ohne ihn wahrscheinlich nie gegeben. Die kommunistische Bewegung, die die Geschichte des 20. Jahrhunderts entscheidend mit geprägt hat (sehr negativ für viele Menschen, möchte ich gleich dazu sagen), hätte es ohne Lenin in dieser Stärke wohl nicht gegeben.

    Historismus

    Der im 4. Kapitel schon kurz erwähnte Historismus betont die geschichtliche Entstehung (und damit oft auch gleich die Relativität) von allem Existierenden.

    Historizismus

    Zum Historizismus wird die Geschichtsphilosophie bei Hegel und Marx. Die Geschichte der Menschen spielt bei ihnen eine große, zentrale Rolle. Die Geschichte hat für sie einen Sinn und ein Ziel und läuft nach bestimmten historischen Gesetzmäßigkeiten ab. Bei Hegel ist Sinn und Ziel der Rückkehrprozess des Weltgeistes, bei Marx ist es der Kommunismus. In vielen Religionen ist das Ziel der Geschichte die endgültige göttliche Erlösung der Menschen.

    In den eben angeführten Philosophien hat die Geschichte ein positives Ende oder Ziel. Eine negative Geschichtsphilosophie entwarf der deutsche Geschichtsphilosoph Oswald Spengler (1880–1936) in seinem einst sehr populären Buch »Der Untergang des Abendlands«. Kulturen bzw. Zivilisationen würden gesetzmäßig die Phasen des Aufstiegs, der Kulmination und des Untergangs durchlaufen. Die gleiche Behauptung hatte vor ihm schon Vico aufgestellt.

    »Zivilisationen werden nicht ermordet,
    sondern begehen Selbstmord.«
    Arnold Joseph Toynbee (1889–1975)
    Bedeutender britischer Geschichtsphilosoph


    Ein bedeutender Kritiker des Historizismus ist Karl Popper. Diese Kritik wird im 15. Kapitel näher erläutert.


    Staat

    Ein Staat ist politisch-rechtlich betrachtet eine Organisation, die auf einem bestimmten Gebiet die (nach innen höchste und nach außen unabhängige) Macht darstellt, die eine bestimmte Rechtsordnung für das menschliche Zusammenleben durchsetzt.

    Die verschiedenen Staaten unterscheiden sich u. a. durch die Art und Legitimierung der Macht, speziell der politischen Macht, zum Beispiel Monarchie oder Republik, Diktatur oder Demokratie. Jede dieser Staatsformen hat wiederum Unterarten zum Beispiel absolute Monarchie und konstitutionelle Monarchie. Letztere hat in der Regel eine Verfassung, die die Rechte des Monarchen eingrenzt und der demokratisch gewählten Regierung die wirkliche Macht gibt.

    Wichtig ist, zwischen Verfassungstheorie und Verfassungswirklichkeit zu unterscheiden. So können Staaten der Theorie nach Demokratien, faktisch aber Diktaturen sein. In Republiken kann es einen so starken Herrscher geben, dass man fast schon von einer Monarchie sprechen kann.

    Im kommunistischen Nordkorea wird der Sohn des Diktators nach dessen Tod neuer Diktator. Dann der Enkel.


    Staatsphilosophie

    Die Staatsphilosophie, ist ein Teilbereich der praktischen Philosophie. Sie beschäftigt sich mit der Legitimität, dem Wesen, den Prinzipien, dem Wert, dem Zweck und der Funktion des Staates und der politischen Macht generell.

    In neuerer Zeit wird weniger von »Staatsphilosophie«, sondern mehr von »politischer Philosophie« gesprochen. Das bedeutet, dass nicht nur die staatliche, sondern jegliche politische Macht hinterfragt wird. Dabei geht es nicht nur um die Legalität sondern auch um die Legitimität der konkreten Herrschaftsakte. Sie sollen nicht nur dem geltendem Recht, sondern auch ethischen Kriterien entsprechen.

    Die Staatsphilosophie hat auch dadurch an Bedeutung verloren, dass die einzelnen Staaten in zunehmendem Maße Herrschaftsrechte an überstaatliche Vereinigungen abtreten, z. B. hat der deutsche Staat viele Herrschaftsrechte an die Europäische Union abgetreten, wie die anderen Mitgliedstaaten der EU auch. Schon in früheren Zeiten war die Souveränität des Staates faktisch durch wirtschaftliche Abhängigkeit und/oder mächtigeren Staaten eingeschränkt.

    Geschichte der Staatsphilosophie

    Den Staatsphilosophen bzw. Staatstheoretikern der letzten drei Jahrtausende ging es um die Frage, wie der Staat entstand, ob der Staat überhaupt sein müsse, wenn, warum er sein müsse und wie er konkret beschaffen sein solle. Dabei wurden die unterschiedlichsten und widersprechendsten Theorien hervorgebracht. Interessant sind diese verschiedenen Theorien, weil sie fast alle in den heutigen Staatsformen ihre Spuren hinterlassen haben.

    Konfuzius

    Außerhalb der abendländischen Philosophie entwickelte Konfuzius eine Staatsphilosophie, in der besonders Begriffe wie »Maß und Mitte« eine Rolle spielten.

    Platon

    Im Abendland entwickelte als erster Platon eine umfassende Staatsphilosophie. Für ihn ist der Staat die höchste Form des sittlichen Lebens. (Ähnliches findet man später bei Hegel.) Aber nur ein guter Staat, der nach Platons Vorstellungen aufgebaut ist. Die Gesellschaft ist in klar abgegrenzte Klassen bzw. Schichten geteilt (Nährstand, Wehrstand, Lehrstand) und wird von weisen Philosophenkönigen regiert, während die Masse des Volkes von jeder Herrschaft ausgeschlossen ist. Dabei geht es Platon um das Glück aller. Herrschaft ist nicht Selbstzweck. Ein nach dieser Konzeption aufgebauter Staat werde das Glück aller fördern. Platon wird wegen dieser Auffassungen des Öfteren als Ahnherr totalitärer Gesellschaftskonzeptionen betrachtet. (z. B. von Popper.)

    Aristoteles

    Sein Schüler Aristoteles war Platon gegenüber der Realist, nicht der Ideologe oder Träumer. Er ging davon aus, dass der Mensch von Natur aus ein staatenbildendes Wesen sei. Man solle nicht nur den idealen Staat bedenken, sondern auch den möglichen. Aus der Unvollkommenheit der verschiedenen Regierungsformen (Monarchie, Aristokratie und Demokratie) zog Aristoteles den Schluss, dass man eine Mischung dieser Regierungsformen anstreben sollte. Er propagierte damit eine gewisse Form von Gewaltenteilung. Der Staat sei dann gerechtfertigt, wenn er das Glück seiner Mitglieder gewährleiste.

    Von Aquin

    Im Mittelalter entwickelte Thomas von Aquin eine christliche, stark an Platon und Aristoteles orientierte Staatstheorie, die bis heute für die Staatsphilosophie der Katholischen Kirche große Bedeutung hat.

    Machiavelli

    Der Italiener Niccolo Machiavelli (1469–1527) entwickelte die Theorie der unumschränkten staatlichen Macht, die an kein Recht und keine Ethik gebunden und nur auf Machtsteigerung aus ist.

    »Es darf daher ein Fürst keinen
    andern Gegenstand noch Gedanken haben,
    noch irgend zu seinem Handwerk
    was andres wählen, außer dem Krieg
    und die Ordnung und Disziplin
    desselben, weil dieses das
    einzige Handwerk ist,
    das dem Befehlenden geziemt.«
    Niccolò Machiavelli


    Grotius

    Einen Gegenpol zu Machiavelli ist der Holländer Hugo Grotius (1583–1645), der als Begründer des Völkerrechts gilt. Das Recht steht nach ihm über dem Staat. Ethische und rechtliche Grundsätze sollten nach Grotius unabhängig von religiösen Überzeugungen gültig sein. Sie sollten sogar Geltung haben, wenn man die Existenz Gottes ausklammere.

    Morus

    Der Engländer Thomas Morus (1478–1535) entwickelte in Form einer Dichtung (»Vom besten Zustand des Staates und der neuen Insel Utopia«) eine ideales kommunistisches Gemeinwesen, mit Teilnahme aller an der Arbeit, Zugang aller zur Bildung etc., in dem die Ausbeutung und das Elend der unteren Klassen beseitigt sein sollte. (Von dem Titel dieses Werkes kommt das Wort »Utopie«.)

    »Es ist ausgeschlossen,
    dass alle Verhältnisse gut sind,
    solange nicht alle Menschen gut sind,
    worauf wir ja wohl noch eine
    hübsche Reihe von Jahren
    werden warten müssen..«
    Thomas Morus


    Hobbes

    Zu Beginn der Neuzeit entwickelte der englische Philosoph Thomas Hobbes die Theorie des absoluten Staates. Im Naturzustand herrsche der Kampf aller gegen alle. Ein gutes Lebens sei so für den Einzelnen nicht zu erreichen. Die Mitglieder einer Gesellschaft würden deshalb im Gesellschaftsvertrag ihre Macht an ein Souverän übertragen, das den Frieden sichert, aber dafür mit absoluter Macht ausgestattet sein müsse. Recht sei, was der Staat erlaube. Unrecht sei, was der Staat verbiete. Ein anderes Kriterium, Recht und Unrecht zu unterscheiden, gebe es nicht. Für Hobbes ist der Staat ein »sterblicher Gott«.

    »Homo Homini Lupus.«
    (»Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.«)
    Thomas Hobbes


    Bodin

    Eine ähnliche Theorie des Staatsabsolutismus entwickelte der Franzose Jean Bodin (1530–1596). Bei ihm sollte es aber unter der Herrschaft eines absoluten Monarchen religiöse und politische Toleranz geben. Sowohl Hobbes wie Bodin entwickelten ihre Theorie vom Staatsabsolutismus unter dem Eindruck bürgerkriegsartiger Unruhen. Bodin gilt als Begründer der Lehre von der Staatssouveränität.

    Althusius

    Dass das Volk ein Recht auf Widerstand gegen tyrannische Herrscher habe, das propagierte der Deutsche Johannes Althusius (1563–1638), ein Vertreter der Volkssouveränität. Im Unterschied zu Hobbes und Bodin ist für ihn nicht der Staat, sondern das Volk der oberste Souverän. Althusius gilt als Begründer der »vertikalen Gewaltenteilung« und des »Subsidiaritätsprinzips«. (Was das ist, wird weiter hinten in diesem Kapitel im Abschnitt über die Gewaltenteilung erklärt.)

    »Schwächung allein humanisiert Großmächte,
    divide et libera [lat. teilen und befreien].
    Jeder Staat hat genau das Maß von Anstand,
    das dem Maß seiner Angst entspricht.«
    Rolf Hochhuth (Geb. 1931)
    Deutscher Schriftsteller


    Locke

    Als Begründer der Theorie von der »horizontalen Gewaltenteilung« gilt der Engländer John Locke. Er vertrat die Auffassung, dass die »gesetzgebende Gewalt« (Legislative) und die »ausführende Gewalt« (Exekutive) getrennt werden sollten. Mit dieser Theorie war er ein Gegenpol zu seinem Landsmann Hobbes. Der Staat sei nur gerechtfertigt, wenn die Mehrheit in freier Entscheidung die Regierung bestimmen könne. Locke begründet eine politische Theorie der Demokratie und des Liberalismus.

    Montesquieu

    Dass von der »gesetzgebenden Gewalt« und der »ausführenden Gewalt« auch noch die »rechtsprechende Gewalt« (Judikative) getrennt werden sollte, diese Auffassung vertrat der Franzose Montesquieu (1689–1755), der häufig als der Begründer der Theorie von der Gewaltenteilung bezeichnet wird. Die grundsätzliche Konzeption übernahm er aber von Locke.

    »Eine ewige Erfahrung lehrt,
    dass jeder Mensch,
    der Macht hat, dazu getrieben wird,
    sie zu missbrauchen.
    Er geht immer weiter,
    bis er an Grenzen stößt.«
    Montesquieu



    Rousseau

    Die Theorie vom Gesellschaftsvertrag, die bereits bei Hobbes vorhanden war, greift der schweizerisch-französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau wieder auf. Im Gegensatz zu Hobbes hatte er kein negatives, sondern ein positives Menschenbild. Nicht im Naturzustand, sondern erst im Verlauf der Entwicklung von Wissenschaft und Kunst werde die Gesellschaft schlecht. Jeder Mensch habe einen Anteil an der Souveränität des Staates. Über den Gesellschaftsvertrag müsse die Freiheit des Einzelnen und die Autorität der Gemeinschaft in Einklang gebracht werden. Im Gegensatz zu Bodin gibt es für Rousseau keine Toleranz auf politischen und religiösem Gebiet. Dem einmal festgestelltem Gemeinwillen habe sich jeder bedingungslos unterzuordnen. Bestenfalls könnten Menschen mit abweichenden Auffassungen auswandern.

    Lenin forderte 1921 in Sowjetrussland sozialdemokratische Aktivitäten und Propaganda mit der Todesstrafe zu ahnden. Ersatzweise mit der Ausweisung ins Ausland. Wobei er feststellte, was der Gemeinwille ist. Nicht etwa das gemeine Volk.



    Kant

    Kant versuchte dem Staat eine rechtsphilosophische, ethische Grundlage zu geben. Staatliche Macht und geltendes Recht habe nur dann eine Berechtigung, wenn jedes Individuum sich als Urheber ansehen könne. Sie müssten dem Sittengesetz und dem »Kategorischen Imperativ« entsprechen. Der Staat müsse die bürgerlichen Rechte garantieren.

    Fichte

    Der Philosoph Fichte, der aus ärmlichen Verhältnissen stammte, entwickelte als erster in Deutschland die Idee des Sozialstaates. Der Staat müsse es dem Einzelnen garantieren, von seiner Arbeit leben zu können. Bei Fichte gibt es aber auch schon totalitäre Tendenzen, da nicht nur das wirtschaftliche, sondern auch das pädagogische Chaos beseitigt werden sollte. Die Erziehung solle nach einem einheitlichem staatlichen Plan geschehen.

    Hegel

    Für Hegel ist die Weltgeschichte die Entwicklung immer höherer Formen des Geistes, auch der Sittlichkeit.

    »Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee.«
    Hegel


    Marx

    Nach Marx ist der Staat das Ergebnis der Klassenspaltung, die an einem bestimmten Entwicklungspunkt der Produktivkräfte mit Notwendigkeit auftreten musste. Mit der Aufhebung der Klassenspaltung im Kommunismus, die auch mit Notwendigkeit eintreten wird, wird der Staat wieder verschwinden. Der Staat ist in der Regel Instrument der ökonomisch herrschenden Klasse, die vermittels seiner auch zur politisch herrschenden Klasse wird. Nach Engels wird schon in der proletarischen Revolution der Staat durch etwas qualitativ anderes ersetzt, das nicht mehr Staat genannt werden soll.

    »Man sollte das ganze Gerede
    vom Staat fallenlassen [...]
    Wir würden daher vorschlagen,
    überall statt Staat
    Gemeinwesen zu setzen [...]«
    Friedrich Engels


    Lenin

    Für Lenin hat der Staat bei der Errichtung der kommunistischen Gesellschaft eine ganz entscheidende Bedeutung. (Er weicht in diesem Punkt stark von Marx und Engels ab.) Er vertrat faktisch eine neue Form des Staatsabsolutismus und wurde zum theoretischen und praktischen Begründer des »realsozialistischen Staates«, wie er einige Jahrzehnte auch in Ostdeutschland bestand. Aber auch für Lenin ist der Staat ein Produkt der Klassenspaltung und im vollendeten Kommunismus werde es ihn nicht mehr geben.

    Popper

    Karl Popper kommt besonders durch seine Auseinandersetzung mit den zu seiner Zeit existierenden faschistischen und real-sozialistischen Staaten zu der Auffassung, dass der Staat freiheitlich und demokratisch sein muss. Das Entscheidende an der Demokratie ist nach Popper die Existenz freier Institutionen. (Freie Wahlen, Pluralität verschiedener Parteien und Interessensverbände, freie Presse, Demonstrationsfreiheit, Recht auf Auswanderung u. v. ä. m.) Diese freien Institutionen muss man notfalls auch gegen die Mehrheit der Bevölkerung verteidigen.

    Wer soll herrschen? Diese Frage verlangt nach einer autoritären Antwort: etwa ›die Besten‹ oder ›die Weisesten‹ oder ›das Volk‹ oder ›die Mehrheit‹. Man sollte eine ganz andere Fragestellung an ihre Stelle setzen, etwa: Was können wir tun, um unsere politischen Institutionen so zu gestalten, dass schlechte oder untüchtige Herrscher (die wir natürlich zu vermeiden suchen, aber trotzdem nur allzu leicht bekommen können) möglichst geringen Schaden anrichten? Karl Popper


    John Rawls

    Eine neuere und unter Philosophen und Staatstheoretikern viel diskutierte Form der »Vertragstheorie« findet man bei dem US-Amerikaner John Rawls (1921–2002). Er konstruiert einen Urzustand, indem eine Gruppe von Menschen einen Staat begründen wollen, aber keiner weiß, welche soziale Stellung er in diesem Staat haben wird. Die einzelnen Menschen werden dann aus ganz egoistischen Motiven eine Staatsform wählen, in der das möglichst größte Glück aller realisiert werden kann. Das bedeutet u. a. ein umfassendes System gleicher Grundfreiheiten und soziale Differenzierung soweit, wie diese für die sozial Schwachen von Vorteil ist.

    Politik

    Der Begriff Politik kommt von dem griechischen Wort »polis«, dem Wort für die antiken griechischen Stadtstaaten. Wörtlich bedeutet es »Staatskunst«.

    Politik ist ein auf das Zusammenleben von Menschen in der Gesellschaft und im Staat gerichtetes Handeln. Ziel ist es Interessen oder Wertvorstellungen bzw. Ideale durchzusetzen oder mit anderen Menschen und Menschengruppen Kompromisse zu finden.

    »Die Politik bedeutet
    ein starkes langsames Bohren
    von harten Brettern mit Leidenschaft
    und Augenmaß zugleich.«
    Max Weber


    Die Politik ist besonders für die philosophischen Systeme wichtig, bei denen Gesellschaft und Staat eine große Rolle spielen. Näheres wurde eben im Zusammenhang mit der Staatsphilosophie erläutert.

    »Die wahre Politik kann also keinen Schritt tun,
    ohne vorher der Moral gehuldigt zu haben.«
    Kant


    Politologie ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit Politik. Die politische Philosophie ist identisch mit der Staatsphilosophie.

    Sie können sich von der Politik fernhalten. Die Politik wird sich aber nicht von Ihnen fernhalten.


    Recht

    Ein wichtiger Aspekt des Staates ist, dass er Recht setzt. Recht als politisch-juristischer Begriff bedeutet ein System von Gesetzen mit – innerhalb eines Staates oder auch überstaatlichem – allgemeinen Geltungsanspruch, das von gesetzgebenden Institutionen geschaffen und wenn erforderlich von Organen der Rechtspflege durchgesetzt wird.

    »In den Abgründen des Unrechts
    findest du immer die größte Sorgfalt
    für den Schein des Rechts.«
    Johann Heinrich Pestalozzi


    Rechtsphilosophie

    Innerhalb der Philosophie beschäftigt sich die Rechtsphilosophie mit dem Recht, aber keinesfalls nur sie. Bei einigen Philosophen ist Rechtsphilosophie identisch mit praktischer Philosophie. (U. a. bei Hegel.)

    Die Philosophen streiten seit Jahrtausenden darüber, was Recht und was Unrecht ist, wie im 8. Kapitel über Ethik schon näher erläutert wurde, und ein Ende dieses Streites ist nicht zu erwarten. Dabei geht dieser Streit einerseits um die konkreten Aussagen (z. B.: »Ist das Töten eines Menschen unter bestimmten Umständen erlaubt oder immer verboten?«), andererseits um die Herkunft bzw. Begründung des Rechts.

    Naturrecht und Rechtspositivismus

    Die Naturrechtslehre geht davon aus, dass es eine höhere Instanz als den Menschen gibt, die Rechte setzt, über die der Mensch sich nicht hinwegsetzen kann und darf. Diese Instanz kann die Natur sein, aber auch – da täuscht der Name dieser Lehre etwas! – Gott oder die Vernunft.

    Unter Naturrecht verstehen einige Menschen »das Recht, das in der Natur herrscht«. Sozialdarwinismus und besonders hart Faschismus sind Ergebnisse eines solchen Missverständnisses. (Näheres weiter hinten in diesem Kapitel.) Ähnlich aber nicht immer identisch damit ist die Vorstellung »Recht gleich Macht«.

    Der Rechtspositivismus lehnt die Naturrechtslehre ab. Recht sei etwas von Menschen gesetztes, sei etwas subjektives bzw. intersubjektives. Recht sei, was der Gesetzgeber als Recht setzt. In einem bestimmten Territorium zu einer bestimmten Zeit gelten bestimmte Gesetze und an die hat man sich zu halten bzw. auf die kann man sich berufen. Der Streit darüber, ob nun diese Gesetze aus irgendwelchen übergeordneten Gesichtspunkten gerecht oder ungerecht seien, sei unentscheidbar und deshalb für die juristische Praxis unbedeutend.

    Dass es in Gesellschaften positives Recht geben muss, wird mit Ausnahme einiger weniger Radikal-Anarchisten keiner bestreiten. (»Fahren wir nun alle auf der rechten oder der linken Straßenseite?«) Ob das in einem bestimmten Land bestehende positive Recht zum Ziel hat, die verschieden Interessen auszugleichen oder ob es bestimmte Menschen und Menschengruppen vor anderen privilegiert und ungerechte Verhältnisse zementiert, ist umstritten.

    Rechtsvorstellungen verschiedener Philosophen

    Heraklit unterschied als erster zwischen Naturrecht und positivem Recht.

    Die Vielfalt der Sophisten zeigt sich daran, das Recht sowohl als Macht der Starken über die Schwachen, denn auch als Schutz der Schwachen vor den Starken angesehen wurde. Vielfach wurde auf die Relativität des Rechts und der Rechtsvorstellungen verwiesen.

    Bei Platon ist die Idee des Guten die Idee der Ideen, die oberste Idee. Aus ihr ergibt sich Recht, das nur die Weisesten erkennen können, die deshalb als Philosophenkönige herrschen müssen, damit es gerecht zugehen kann.

    Bei Aristoteles ist Recht, dass jeder sich gemäß seines Wesens entwickeln kann. Da die Menschen unterschiedlich sind, gibt es unterschiedliche Entwicklungsmöglichkeiten. Sklaverei ist erlaubt, da einige Menschen nun mal minderwertig sind.

    Dagegen gingen die Stoiker von der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen aus.

    In der mittelalterlichen Scholastik wurde zwischen göttlichem und weltlichem Recht unterschieden. Das göttliche Naturrecht steht über jeder menschlichen Setzung, das weltliche Recht entsteht aus der Vernunft und wird vom absoluten Fürsten durchgesetzt.

    Für Hobbes ist Recht, was der absolute Monarch als Recht setzt.

    Für Locke soll Grundlage des Rechts die gegenseitige Achtung sein.

    Für Bentham ist Recht das, was das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl herbeiführt. Der Utilitarismus Benthams war im 4. Kapitel schon kurz erwähnt worden.

    Bei Kant ist objektives Recht der »Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann«.

    Für Hegel ist das Recht ein objektives Gebilde, das als Produkt der dialektischen Entwicklung der Idee entsteht.

    Für Marx ist Recht das Produkt der dialektischen Entwicklung der Gesellschaft. Es stützt die bestehenden Eigentumsverhältnisse.

    Für Lenin ist Recht das, was dem Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft dient. Unrecht was dem entgegensteht. Ein anderes Kriterium Recht und Unrecht zu unterscheiden gibt es zumindest gegenwärtig nicht.

    In der aktuellen Diskussion über Recht ist die Position von Habermas sehr bedeutsam. In einem freien Diskurs, in einer »Idealen Sprechsituation« müssten die Menschen eine Übereinkunft und einen Interessenausgleich finden.

    Macht

    »Wissen ist Macht.«
    Francis Bacon


    Macht ist ein philosophischer, politischer und soziologischer Grundbegriff, der »Verfügung über etwas« oder »Fähigkeit zu etwas« bedeutet. Wer Macht hat, kann etwas durchsetzen. Auch gegen Widerstände.

    Je nachdem wie weit man den Begriff fasst, gibt es Macht bereits in der unbelebten Natur. Ein Atom hat die Macht andere Atome einzufangen und mit ihnen ein Molekül zu bilden. Eine Sonne hat die Macht Planeten anzuziehen und in eine Umlaufbahn zu zwingen. Ein Vogel hat die Macht zu fliegen und sich damit gegen die Schwerkraft durchzusetzen.

    »Diese Welt ist der Wille zur Macht –
    und nichts außerdem!
    Und auch ihr selber
    seid dieser Wille zur Macht –
    und nichts außerdem!«
    Friedrich Nietzsche


    Macht ist ein generelles soziales Phänomen. Beziehungen zwischen Menschen sind oft Machtbeziehungen, was nicht bedeutet, dass sie sich darauf reduzieren. (Z. B. Eltern haben Macht über ihre Kinder, aber ihr Verhältnis zu ihnen hat weitere Aspekte, z. B. Liebe und Fürsorge.)

    Die Philosophie der Macht untersucht:

    • Die Ursprünge bzw. die Quellen von Macht.
    • Die Mittel und Institutionen der Macht.
    • Die Funktionsweise der Macht, die Arten und Formen der Machtausübung.
    • Die Notwendigkeit, die Funktionen von Macht.
    • Die Legalität und Legitimität von Macht.
    • Die Regelungen und Begrenzungen von Macht.

    Die aufgeführten Punkte überschneiden sich. Einzelne Aspekte der Macht können unter verschiedene Punkte subsumiert werden.

    Die Ursprünge der Macht des Menschen liegen in seiner Naturgeschichte. Unsere Vorfahren waren Herdentiere. Die Herde als Ganzes hatte Macht, z. B. bei der Verteidigung ihres Territoriums gegen Nahrungskonkurrenten und bei der gemeinsamen Jagt. Innerhalb der Herde hatten die einzelnen Individuen unterschiedlich viel Macht. Es gab eine Rangordnung. Die Höherrangigen hatten z. B. die Macht, die Niederrangigen von den besten Futterplätzen fernzuhalten und von der Fortpflanzung auszuschließen.

    Die Quellen der Macht des Menschen sind seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten und was er sich damit an Mitteln und Institutionen zur Machtausübung geschaffen hat.

    Macht kann ausgehen von Menschen und Menschengruppen. Hinter Macht müssen aber nicht unbedingt Personen stehen. Sie kann auch von ökonomischen, wissenschaftlichen, technischen, rechtlichen, kulturellen, religiösen und weiteren Organisationen und Strukturen ausgehen. Man spricht dann auch von »struktureller Gewalt«, von anonymer Macht oder von Macht, die sich aus Sachzwängen ergibt.

    »Der Geist hat die Aufgabe,
    die Macht zu zersetzen.
    Ich würde ihm die Parole geben:
    libera et divide.«
    (Lat. befreien und teilen.)
    Otto Flake (1880–1963)
    Deutscher Schriftsteller


    Mittel und Institutionen der Macht sind vielerlei. Hier zähle ich die wichtigsten auf:

    1. Macht durch physische Gewalt: Körperliche Gewalt, gesteigert durch Waffen, Polizei, Militär, entsprechende Organisationen, wie Justiz. Die staatlichen Einrichtungen haben ein »Gewaltmonopol«. Nur sie dürfen legal physische Gewalt ausüben. (Andere Formen von Macht sind davon aber nicht betroffen.)

    Die dafür zuständigen staatlichen Behörden dürfen Menschen auf Dauer einsperren. Keine Privatperson darf das.



    »Staat ist diejenige menschliche
    Gesellschaft, welche innerhalb
    eines bestimmten Gebietes [...]
    das Monopol legitimer physischer
    Gewaltsamkeit für sich
    (mit Erfolg) beansprucht.«
    Max Weber


    2. Macht durch Geld, Kontrolle von Wirtschaftsunternehmen u. ä.

    Sagen Sie mal zu Ihrem Freund: »Räum mein Zimmer auf!« Dann wird der Ihnen vielleicht einen Vogel zeigen. Aber halten sie ihm einen 200 Euro-Schein hin und fragen Sie ihn: »Räumst du dafür mein Zimmer auf?« Dann sieht die Sache schon ganz anders aus. An diesem ganz einfachen Beispiel erkennt man, dass Geld Macht ist. Und wenn jemand nicht nur 200 Euro versprechen kann, sondern 200 Millionen Euro, ist seine Macht entsprechend größer.



    3. Macht durch Wissen: Bezogen auf die Natur heißt das, wie müssen wir uns verhalten, um Naturprozesse zu unseren Gunsten zu nutzen? Es gäbe kein Internet, kein Fernsehen etc. hätten die Menschen im Laufe vieler Generationen sich nicht das dafür nötige Wissen verschafft. Bezogen auf Menschen heißt das, was müssen wir tun, damit andere Menschen sich so verhalten, wie wir es wollen? Wie muss Erziehung und Bildung gestaltet sein? Mit diesem Punkt zusammen hängt die Möglichkeit der Manipulation. Man kann andere Menschen bewusst, absichtlich falsch informieren oder Wissen vorenthalten.

    Fernsehen und Zeitungen entscheiden in starkem Maße, welche Informationen die Mehrheit der Menschen bekommt. Über was diskutiert wird.



    »Die Bildröhre ist das Präservativ der Realität.«
    Dieter Hildebrandt (1927–2013)
    Deutscher Kabarettist


    4. Macht durch Innovationsfähigkeit: (Hängt eng mit Punkt 2 zusammen.) Die wirtschaftliche Effizienz ist Macht. Die Fähigkeit zur Veränderung, zur Anpassung an neue Entwicklungen, Gegebenheiten ist Macht. Das hat sich gezeigt beim »Wettkampf der Systeme« zwischen den kapitalistischen und den sozialistischen Systemen. Die kapitalistischen Systeme hatten die größere wissenschaftlich-technische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Innovationsfähigkeit und haben sich deshalb gegen das sozialistische durchgesetzt..

    »Gegen organisierte Macht
    gibt es nur organisierte Macht;
    ich sehe kein anderes Mittel,
    so sehr ich es auch bedaure.«
    Albert Einstein


    Weitere zum Teil ausgefächerte Funktionsweisen der Macht, der Arten und Formen der Machtausübung sind verschiedene Arten der Autorität, des Zwangs, der Belohnung, der Identifikation (mit seinem Vaterland, seiner Partei, seiner Religion, seinem Fußballverein etc.), des Wissens bzw. Möglichkeit zu dessen Zugang. Psychische Beeinflussungen wie Angst machen, Hoffnung erwecken und Glauben schaffen. Unterschieden wird zwischen Handlungsmacht, Entscheidungsmacht, Mobilisierungsmacht, Verfügungsmacht und Definitionsmacht.

    Die Notwendigkeit bzw. die Funktion von Macht besteht in der Aufrechterhaltung der Lebensfähigkeit der Menschen. Ohne Macht könnten sich die Menschen nicht ernähren. Die Gesellschaft könnte nicht erhalten werden und damit nicht die Vorteile, die sie für den Menschen ermöglicht.

    Im Naturzustand hat die Macht, wer dazu fähig ist. Erst in entwickelten Gesellschaften ergibt sich die Frage nach der Legalität und Legitimität von Macht und philosophische, speziell ethische und staatsphilosophische Diskussionen darüber. Von wem geht die staatliche Macht aus? Wer ist der Souverän? Ein Monarch oder das Volk?. Erbmonarchie oder demokratische Wahl? Charismatischer Führer?

    »Der Philosoph, der in der
    Öffentlichkeit eingreifen will,
    ist kein Philosoph mehr, sondern
    Politiker; er will nicht mehr
    nur Wahrheit, sondern Macht.«
    Hannah Arendt (1906–1975)
    Deutsch-Amerikanische Sozialphilosophin


    Regelungen und Begrenzungen von Macht ergeben sich aus den Gesetzen, dem Grundgesetz bzw. der Verfassung und den ethischen Werten, Überzeugungen und Weltanschauungen der handelnden Menschen. Macht findet ihre Grenzen außerdem in der Macht anderer (Menschen, Menschengruppen, Institutionen, Staaten etc.).

    Verschiedene Philosophen zur Macht

    Wie im 11. Kapitel bereits angesprochen, ist Alfred Adler ein wichtiger psychologischer Theoretiker der Macht, der Machtstreben für eine neurotische Fehlhaltung hielt. Im 15. Kapitel wird der Philosoph Nietzsche näher vorgestellt, der Macht als ein ontologisches Phänomen ansieht und Machtstreben ausdrücklich befürwortet.

    Ein wichtiger gesellschaftlicher Theoretiker der Macht ist Max Weber. Politik ist Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt.

    »Macht bedeutet jede Chance,
    innerhalb einer sozialen Beziehung
    den eignen Willen auch gegen
    Widerstreben durchzusetzen,
    gleichviel worauf diese Chance beruht.«
    Max Weber


    Institutionalisierte Macht wird seit Max Weber Herrschaft genannt.

    Ein prominenter Theoretiker der Macht in jüngerer Zeit ist der französische Philosoph Michel Foucault (1926–1984). Für ihn ist Macht etwas positives. Auch etwas unpersönliches, ein bewegliches Beziehungsgeflecht. (Hier stoßen wir wieder auf den Relativismus bzw. Relationismus.) Macht sei ein produktives Prinzip in der Gesellschaft, das Wissen, Individuen, Institutionen und Techniken hervorbringe.

    Gewaltenteilung

    Die allermeisten Menschen gehen davon aus, dass Macht ein unabdingbarer Teil der Gesellschaft ist. Da Macht immer die Gefahr mit sich bringt, missbraucht zu werden, ist die Macht in modernen Demokratien nicht nur an einer einzigen Stelle, nicht nur bei einer Person oder Personengruppe. Die Macht ist auf verschiedene Personen und Instanzen verteilt und oft zeitlich begrenzt. Im Laufe der Geschichte haben sich verschiedene Formen und Arten von Macht bzw. Gewalten und von Gewaltenteilung entwickelt.

    Die erste Gewaltenteilung, die es in Europa gab, war die zwischen Kaiser und Papst, zwischen weltlicher und geistlicher Macht. Es gibt Länder und Kulturen, wo es eine solche Gewaltenteilung – zwischen staatlichen und religiösen Instanzen – bis heute nicht oder nur unvollständig gibt. Das gilt (und galt) auch für religionsartige Weltanschauungen wie z. B. dem Kommunismus.

    Horizontale Gewaltenteilung

    Die »Horizontale Gewaltenteilung« (von gr. »horizontas« = Gesichtskreis), oder auch »waagerechte Gewaltenteilung«, teilt die staatliche Gewalt auf gleicher Ebene und umfasst drei Gewalten:

    • 1. Gewalt: Legislative = Parlament, gesetzgebende Gewalt.
      (Von lat. »lex/legi« = Gesetz/Gesetze)
    • 2. Gewalt: Exekutive = Regierung, ausführende Gewalt.
      (Von lat. »exsecutio« = Ausführung, Vollstreckung.)
    • 3. Gewalt: Judikative = Gerichte, rechtsprechende Gewalt.
      (Von lat. »judicatio« = gerichtliche Untersuchung, gerichtliches Urteil.

    Heute spricht man auch von »Gewaltenverschränkung«. Der Idealfall, dass nämlich nur die Legislative Gesetze macht, die Exekutive nur ausführt und die Judikative nur im Einzelfall die Gesetze anwendet bzw. interpretiert, existiert in der Realität nicht. Gerichtsurteile und Regierungserlasse haben oft Gesetzescharakter, die Mehrheit des Parlaments stützt die Regierung, kontrolliert sie nicht nur etc. Wichtig ist aber, dass diese drei Gewalten da sind und sich gegenseitig in ihrer Macht begrenzen.

    Vertikale Gewaltenteilung

    Es gibt in den westlichen Demokratien eine von Land zu Land unterschiedlich stark ausgebildete »Vertikale Gewaltenteilung« (von lat. vertex = Spitze u. ä. m.), oder auch »senkrechte Gewaltenteilung«, von oben nach unten. Bezogen auf Deutschland bedeutet dies, dass es Städte und Gemeinden, die Bundesländer, die Bundesrepublik, die Europäische Union und die Vereinten Nationen gibt. (Die letzte Instanz ist leider noch weitgehend ineffizient.) Auf diesen verschiedenen vertikalen oder auch »föderativen« Ebenen (von lat. foedus = Bündnis u. ä.) wird wiederum horizontal aufgeteilte Macht ausgeübt, was weitere Machtzentren schafft.

    Subsidiaritätsprinzip

    Verbunden mit der »Vertikalen Gewaltenteilung« ist das »Subsidiaritätsprinzip« (lat. »subsidium« = Hilfe, Reserve). D. h. die unteren Ebenen lösen bzw. regeln alles, was sie allein regeln können. Die höheren Ebenen kommen helfend hinzu (deshalb der Name), wenn etwas nur auf höherer Ebene geregelt werden kann, wenn es z. B. Gesetze geben muss, die in viele Städten, Ländern und Staaten gleich sein müssen. Ob das »Subsidiaritätsprinzip« konsequent angewendet wird, oder ob nicht z. B. in der Bundesrepublik Deutschland oder in der EU Dinge zentral geregelt werden, die genauso gut oder sogar besser auf den kleineren Ebenen geregelt werden könnten, ist allerdings umstritten.

    Vierte Gewalt – Massenmedien

    Von den ersten drei Gewalten unabhängige Massenmedien, ursprünglich die Zeitungen (deshalb »Pressefreiheit«), dann Rundfunk, dann Fernsehen, inzwischen auch das Internet, sollen Macht transparent, durchschaubar, auf allen Ebenen kontrollierbar machen und werden traditionell als »Vierte Gewalt« bezeichnet.

    Fünfte Gewalt – Lobbyismus

    Zusätzlich zu den staatlichen Machtinstanzen gibt es gesellschaftliche »Powergroups«: Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften, Bauernverbände; Hauseigentümerverbände und Mieterverbände; Kirchen und andere weltanschauliche Gruppen, Vereine, Bürgerinitiativen etc. pp. Die verschiedenen »Powergroups« vertreten unterschiedliche Interessen und Ziele. Und sie haben unterschiedlich viel Macht bzw. Einfluss. Die Vertreter der verschiedenen Gruppen, wenn sie sich in die Politik einmischen, sich an Parteien, staatliche Instanzen usw. wenden, werden Lobbyisten genannt (von englisch »Lobby« = Vorhalle, Empfangshalle des Parlaments), und der Lobbyismus wird inzwischen oft als »Fünfte Gewalt« bezeichnet.

    Weitere Formen von Gewaltenbegrenzung

    Es wird von einer »Temporalen Gewaltenteilung« gesprochen (von lat »tempus« = Zeit), wenn Machtpositionen nur auf Zeit vergeben werden, z. B. es für bestimmte Ämter regelmäßige Wahlen und damit Abwahlmöglichkeiten gibt. Es gibt eine konstitutionelle Beschränkung von Macht, in dem die Verfassung, in Deutschland das Grundgesetz, nur mit zwei Drittel Mehrheit geändert werden darf. Ein Kern des Grundgesetzes, der die »Freiheitliche demokratische Grundordnung« garantiert, darf überhaupt nicht geändert werden.

    Aristotelische Gewaltenteilung

    In den modernen westlichen Gesellschaften gibt es auch eine Art »Aristotelischer Gewaltenteilung«. Wie weiter vorn in diesem Kapitel bereits ausgeführt, plädierte Aristoteles für eine Mischung verschiedener Staatsformen. In gewisser Weise haben wir heute eine solche Mischung. Das demokratische Element sind die regelmäßig wiederkehrenden Wahlen auf den verschiedenen vertikalen Ebenen, in denen alle erwachsenen Bürger sich für mit einander konkurrierende Parteien und Personen entscheiden können. Das aristokratische Element ist, dass dann wenige Parlamentarier, Minister, Bürgermeister etc. die Macht ausüben. Das monarchistische Element ist die besonders starke Stellung des Regierungschefs. In Deutschland ist das der Bundeskanzler, z. Z. eine Bundeskanzlerin, in Frankreich und in den USA ist es der Präsident.

    Gegner der Gewaltenteilung

    Es gibt politisch-weltanschauliche Bewegungen, die Gewaltenteilung für überflüssig und / oder für Augenwischerei halten. Ein für das 20. Jahrhundert besonders verhängnisvolles Beispiel:

    Lenin meinte: Ich und meine Leute, wir sind die Wissenden und die Guten. Das steht außerhalb jeden Zweifels. Wieso sollten die Wissenden und Guten unter sich eine Gewaltenteilung brauchen? Und wer nicht zu meinen Leuten gehört, ist entweder nicht wissend oder nicht gut. Warum sollten solche Leute irgendeine Gewalt haben? Die Gewaltenteilung im Kapitalismus ist nur oberflächlich. Darunter verbirgt sich die Macht der Kapitalisten. Wenn meine Partei die Macht hat, dann hat durch uns das Proletariat die Macht. Vom absoluten Wahrheitsanspruch zum absoluten Machtanspruch.


    Plädierte Popper dafür, die gesellschaftlichen Institutionen so zu gestalten, dass, wenn ein Verbrecher an die Macht kommt, er möglichst wenig Schaden anrichten kann, schuf Lenin einen Staat, in dem es nur ein Machtzentrum gab – die Spitze der zentralistischen kommunistischen Partei, das unkontrollierbar und unabwählbar war, was dazu führte, dass wenn ein Verbrecher an die Macht kommt, er ein Maximum an Schaden anrichten konnte. (Was nicht nur Lenin selbst, sondern auch weitere kommunistische Machthaber wie Stalin, Mao, Pol Pot und weitere grausamst unter Beweis stellten.)

    »Tugend und absolute Macht
    passen nicht zusammen.«
    Lukan (39–65)
    Römischer Dichter
    (Von Kaiser Nero zur
    Selbsttötung gezwungen.)


    Die Vertreter der Gewaltenteilung gehen davon aus, dass niemand vor Irrtum und Machtmissbrauch gefeit ist.

    Gewaltmonopol des Staates

    Unter Gewaltmonopol des Staates wird verstanden, dass nur die Personen, die im Auftrag des Staates handeln, ein legales Recht zur Anwendung physischer Gewalt haben. Justizbeamte dürfen Menschen einsperren, Polizeibeamte dürfen in bestimmten Situationen auf Menschen schießen, in geschlossenen psychiatrischen Anstalten dürfen Menschen bestimmte Medikamente aufgezwungen werden etc. pp. Privatpersonen sind solche Arten physischer Gewalt verboten.

    Im Prinzip begrüße ich solch ein Gewaltmonopol des Staates. Weil eine Gesellschaft nicht gedeihen kann, wenn jeder sein Recht selbst in die Hand nimmt. Leider kommt es vor, in verschiedenen Ländern, Zeiten und Kulturkreisen in unterschiedlich starkem Maße, dass der Staat bestimmte Personen und Personengruppen besonders bevorzugt, andere Personen und Personengruppen dagegen benachteiligt. In besonders krassen Fällen darf man sich nicht wundern, wenn sich Personen oder Personengruppen nicht an das Gewaltmonopol des Staates halten. Das ist meiner Auffassung nach dann auch legitim.

    Demokratie

    Der Begriff Demokratie stammt aus dem alten Griechenland. Er ist hergeleitet von den Wörter »demos« = Volk und »kratein« = herrschen. Er bedeutet wörtlich »Volksherrschaft«.

    In einigen antiken griechischen Stadtstaaten gab es Demokratie in dem Sinne, dass alle erwachsenen freien männlichen Vollbürger (nicht die Frauen, Sklaven und Zugereisten) in Volksversammlungen unmittelbar Beschlüsse fassten und aus ihren Reihen die Regierenden bestimmten.

    Zur Unterscheidung: In anderen griechischen Staaten gab es Aristokratien, d. h. die Herrschaft des Adels (von gr. »aristeus«= die Besten) oder Monarchien, d. h. die Herrschaft eines Einzelnen (von »mono« = einer und »archia« = Herrschaft).

    Bis zur Französischen Revolution und der Unabhängigkeit der USA Ende des 18. Jahrhunderts hatte der Begriff Demokratie unter den Gebildeten und Mächtigen noch einen negativen Klang. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts wuchs die Zahl der Befürworter der Demokratie beträchtlich und im 20. Jahrhundert entwickelte sich die Demokratie in vielen Ländern. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts gibt es nur wenige Staaten auf der Welt, die sich nicht zumindest verbal zur Demokratie bekennen, auch wenn in vielen dieser Staaten viele Elemente einer modernen Demokratie nicht oder nur teilweise vorhanden sind, es sich oft nur um »Nenn-Demokratien« handelt.

    Der Begriff Demokratie umfasst heute in den modernen westlichen Demokratien erheblich mehr als einfach nur Volksherrschaft oder Mehrheitsherrschaft.

    Elemente einer modernen Demokratie

    • Volkssouveränität (d. h. das Volk ist der oberste Träger bzw. Inhaber der Staatsgewalt, nicht ein König oder ähnliches).
    • Regelmäßige allgemeine und geheime Wahl des Parlaments und/oder des Regierungschefs.
    • Repräsentativsystem (d. h. auf Zeit gewählte Volksvertreter beschließen stellvertretend für das Volk).
    • Rechtsstaatsprinzip (d. h. alle, auch die politisch Mächtigen, müssen sich an die Verfassung – in Deutschland das Grundgesetz – und die anderen Gesetze halten, jeder kann sich an die Gerichte wenden.)
    • Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz.
    • Garantie von Grund- und Menschenrechten.
    • Horizontale und vertikale Gewaltenteilung.
    • Freie Medien (Zeitungen, Fernsehen, Internet).
    • Schutz individueller Freiheit.
    • Organisationsfreiheit (d. h. die Möglichkeit sich mit anderen Menschen gleicher Interessen oder Überzeugungen zusammenzuschließen).
    • Pluralismus auf politischen, weltanschaulichen, kulturellen und weiteren Gebieten.
    • Wohlfahrtsstaatlichkeit (d. h. der Staat hat auch die Aufgabe für das materielle und kulturelle Wohl seiner Bürger zu sorgen).

    Mit dem modernen westlichen Demokratieverständnis hängt eng zusammen der Humanismus (von lat. »humanitas« = Menschlichkeit). Die Grundwerte des Humanismus wurden im 8. Kapitel bereits dargestellt.

    Verschiedene Demokratieauffassungen

    Es gibt unterschiedliche Vorstellungen davon, wann von einer Demokratie gesprochen werden kann. Hier einige unterschiedliche Positionen:

    Demokratie ist nur dort, wo das Volk unmittelbar herrscht. Direkte Demokratie, Basisdemokratie, Radikaldemokratie.


    Kritiker einer solchen Vorstellung bringen besonders drei Argumente dagegen: 1. Die mangelnde Bereitschaft großer Teile der Bevölkerung sich aktiv am gesellschaftlichen und politischen Leben zu beteiligen. Die unmittelbare Demokratie würde zur Herrschaft einer aktiven Minderheit. 2. Sprunghaftigkeit vieler Menschen. Mangelnde inhaltliche Kohärenz ihrer Auffassungen. Es würden häufig Beschlüsse gefasst, die miteinander nicht vereinbar sind. Volksabstimmungen sind oft die Stunde der Demagogen. Es wäre oft unmöglich bestimmte Vorhaben über einen längeren Zeitraum hinweg zu verfolgen, was aber oft Voraussetzung für Erfolg ist. 3. Großgesellschaften mit zig Millionen Menschen, supranationale Organisationen wie die EU oder die UN machen unmittelbare Demokratie unmöglich. (Allerdings könnte das Internet virtuelle Vollversammlungen aller Bürger und Abstimmung aller über bestimmte Fragen möglich machen. Damit sind die beiden ersten Probleme aber nicht beseitigt.)

    Demokratie besteht dann, wenn die Mehrheit der Bevölkerung will, dass die gegenwärtige Regierung an der Macht ist.


    Hier besteht das Problem, dass dann auch eine Diktatur eine Demokratie wäre, wenn die Mehrheit der Bevölkerung diese Diktatur will.

    Demokratie ist dann, wenn die Regierenden bzw. die Mächtigen im Lande die Interessen des Volkes vertreten und diese Interessen kennen.


    Ob die Bevölkerung mit der Regierung einverstanden ist, das ist letztlich sekundär. Ein Paradebeispiel für eine solche Demokratieauffassung sind die Kommunisten. Nach ihrer Auffassung ist Demokratie dort, wo sie herrschen. Da die Kommunisten die Interessen des Volkes kennen und vertreten (so glauben jedenfalls die Kommunisten), ist ihre Regierung auf jeden Fall demokratisch. Auch wenn die Masse des Volkes das anders sieht, und die Kommunisten gar nicht als Regierung will. Und wo die Kommunisten nicht regieren, ist keine Demokratie, auch wenn die Menschen in freien Wahlen sich ausgesucht haben, von wem sie regiert werden wollen. Denn wenn sie nicht die Kommunisten gewählt haben, hätten sie gegen ihre eigenen Interessen gehandelt.

    Diese kommunistische Auffassung wurde von der Geschichte widerlegt. Der Masse des Volkes, auch der Arbeiter, ging es in den nord- und westeuropäischen Sozialstaaten besser, als in den osteuropäischen »sozialistischen« Staaten. Diese »realsozialistischen« Systeme sind Ende der 80er Jahre allesamt an ihrer wirtschaftlichen Ineffizienz zugrunde gegangen.



    Demokratie ist dort, wo es freie Institutionen gibt. (Wie weiter vorne schon als Position Poppers dargestellt.)


    Poppers Paradoxa

    Nach Karl Popper gibt es in Gesellschaft und Politik einige Paradoxa:

    1. Es gibt ein Paradoxon der Freiheit: Sie ist nur in Grenzen möglich. Grenzenlose Freiheit hebt sich auf.

    Wenn jeder ohne jede gesetzliche Einschränkung machen könnte, was er wollte, dann gäbe es keine Ahndung von Mord, Körperverletzung, Raub, Vergewaltigung etc. Es wäre eine Welt der Starken, wo die Schwachen keine Freiheit hätten. Doch auch die Starken müssten immer damit rechnen, in einen Hinterhalt zu geraten. Eine solche Welt ist aber auch nur als Gedankenexperiment möglich. Der Mensch stammt von Herdentieren ab und war immer in geordneten Gruppen, die seine Freiheit einschränkten.


    2. Es gibt ein Paradoxon der Toleranz: Grenzenlose Toleranz, die auch die Intoleranten einschließt, beinhaltet die Gefahr, dass die Intoleranten die Toleranz abschaffen. Zum Ausdruck kommt dieses Paradoxon exemplarisch in der Voltaire zugeschriebenen Aussage:

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst.

    Dagegen sagte Popper:

    Im Namen der Toleranz sollten wir uns das Recht vorbehalten, die Intoleranz nicht zu ignorieren. Karl Popper


    Politische oder religiöse Fanatiker streben häufig eine totalitäre Gesellschaft an, in der alle Menschen nur noch nach den Regeln dieser Fanatiker leben dürfen, in der andere Auffassungen und Lebensweisen nicht toleriert werden. Eine unproblematische Lösung des Paradoxons der Toleranz gibt es nicht. Sonst wäre es ja kein Paradoxon.


    »Toleranz wird zum Verbrechen,
    wenn sie dem Bösen gilt.«
    Thomas Mann (1875–1955)
    Deutscher Schriftsteller


    Mein Vorschlag: Toleranz allen Toleranten gegenüber. Die Intoleranten mit Argusaugen im Blick behalten, ohne sie mit ihren Waffen zu schlagen. Sonst würde man wie sie. Aber bereit sein, die Toleranz unter Einsatz seines Lebens zu verteidigen. (Das schreibt jemand, der von sich nicht sagen will, ein Held zu sein. Aber der Dummheit hasst. Toleranz ist ein Gebot der Klugheit, Intoleranz ist immer ein Zeichen geistiger Beschränktheit.)

    »Toleranz ist der Verdacht,
    dass der andere Recht hat.«
    Kurt Tucholsky (1890–1935)
    Deutscher Schriftsteller


    3. Es gibt ein Paradoxon der Demokratie: Wenn die Mehrheit des Volkes eine undemokratische Partei wählt, ist die Demokratie vorbei.

    Hitler sagte von sich, er sei kein Diktator. Er habe nur die Demokratie vereinfacht. Nach allem, was wir aus der damaligen Zeit wissen, hätte Hitler bis weit in den 2. Weltkrieg hinein jede demokratische Präsidentenwahl mit mehr als zwei Drittel der Stimmen gewonnen.


    Diesem Paradoxon sollte ein Demokrat nach Popper so begegnen, dass er die freien Institutionen notfalls auch gegen die Mehrheit verteidigt.

    Politisch-gesellschaftliche Grundströmungen

    Im Folgenden führe ich einige politisch-gesellschaftliche Grundströmungen auf, die heutzutage von praktischer Bedeutung sind, oder aber zumindest stark diskutiert werden.

    Kommunismus und Sozialismus

    Zu allen Zeiten der Geschichte waren die Güter unter den Menschen ungleich verteilt und damit auch die Chancen ein glückliches Leben zu führen, seine Bedürfnisse zu befriedigen, sich zu entwickeln, zu bilden – bzw. dies den Kindern zu ermöglichen –, einen sorgenfreien Lebensabend zu verbringen etc. In der Regel hing der Platz, den man in dieser ungleichen Welt einnahm, nur von der Geburt in eine bestimmte Familie, in eine bestimmte soziale Schicht ab. (Heute kann man auch sagen in ein bestimmtes Land, in eine bestimmte Weltgegend.) Die Ungleichheit nahm oft Ausmaße an, dass während die einen im Luxus lebten, die anderen vor Armut starben.

    Es hat immer Menschen und Menschengruppen gegeben, die solche Verhältnisse verurteilten und eine Gleichverteilung der Güter und Lebenschancen, oder zumindest eine Abmilderung der Ungleichheit verlangten, die gesellschaftliche Verhältnisse schaffen wollten, in denen jeder die Möglichkeit hat, sich zu entwickeln, zu bilden, ein glückliches Leben zu führen. In Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche, wenn sich soziales Elend häuft, treten solche Bewegungen stärker hervor, als zu anderen Zeiten. Die heutigen kommunistischen und sozialistisch/sozialdemokratischen Auffassungen und Bewegungen entstanden im 19. Jahrhundert, als im Verlaufe der Industrialisierung große Teil der Bevölkerung, besonders die Arbeiter, verarmten.

    Unter Kommunismus verstand man ursprünglich eine Gesellschaft, in der es allgemeine Gleichheit aller Menschen gibt, nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch. Der Begriff Kommunismus ist besonders mit dem Namen Karl Marx verbunden. In der kommunistischen Gesellschaft sollte jeder nach seinen Fähigkeiten arbeiten und jeder nach seinen Bedürfnissen von dem Vorhandenem nehmen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse in vielen Ländern im 20. Jahrhundert, die von außen »kommunistische Länder« genannt wurden, hatten mit diesen Vorstellungen nichts zu tun. (Die Regierenden in diesen Ländern hatten ihre gesellschaftlichen Verhältnisse allerdings selbst nicht als kommunistisch bezeichnet, sondern betrachteten diese als Vorstufen des Kommunismus.)

    Die Begriffe Kommunismus und Sozialismus wurde bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts meist synonym verwendet. Bei Marx und Lenin ist Sozialismus die Vorphase des Kommunismus. Durch die Spaltung der Arbeiterbewegung in eine kommunistische und eine sozialistisch/sozialdemokratische Richtung und durch die Entwicklung in der Sowjetunion – später in weiteren kommunistisch regierten Ländern – wurden diese Begriffe stärker unterschieden. Die Bedeutung dieser Begriffe ergab sich vielfach daraus, wer sie benutzte.

    Die Kommunisten benutzen den Begriff Kommunismus weiterhin zur Bezeichnung der dem Sozialismus folgenden gesellschaftlichen Zustände, wie sie von Marx beschrieben wurden. Fast alle anderen Menschen benutzten den Begriff Kommunismus negativ, zur Bezeichnung der diktatorischen Verhältnisse in den von Kommunisten regierten Ländern.

    Der Kommunismus wurde von den Menschen, die er zu beglücken vorgab, von der Weltbühne gefegt. Er ist wirtschaftlich gescheitert, hat sozial versagt. Er hat sich als eine blutige Diktatur erwiesen. Und er war unfähig, sich zu läutern. Auch ich habe mich nach diesem Fiasko leider erst danach gefragt, wie es dazu kommen konnte. Wer sich das ehrlich beantwortet, kann kein Kommunist mehr sein. Günter Schabowski (1929–2015 – Ehemals Mitglied des Politbüros der SED.)


    Die Sozialisten und Sozialdemokraten fügten dem Begriff Sozialismus häufig das Adjektiv »demokratisch« hinzu, um damit zu demonstrieren, dass sie im Unterschied zu den Kommunisten einen demokratischen, keinen diktatorischen Sozialismus wollten. Auch sie hielten lange Zeit daran fest die Produktionsmittel – zumindest zu einem großen Teil – in Allgemeineigentum zu überführen und die Markwirtschaft durch eine geplante Wirtschaft zu ersetzen.

    Heute streben Sozialdemokraten eine »Soziale Markwirtschaft« an, bzw. verteidigen sie. »Demokratischer Sozialismus« bezeichnet heute faktisch kein Gesellschaftsmodell mehr, sondern ist eine Sammlung von Wertvorstellungen, an denen Sozialdemokraten ihr Handeln orientieren. (Jedenfalls orientieren sollten. Was nicht unbedingt jeder Sozialdemokrat macht.) Z. B. die Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Abschied hat man genommen von der Vorstellung, man könne das »Paradies auf Erden« schaffen.

    Der Sozialstaat ist faktisch ein Kompromiss zwischen kapitalistischen und sozialistischen Vorstellungen. Man schafft die sozialen Ungleich nicht ab, sondern mildert sie ab. In West- und Nordeuropa hat der Sozialstaat in den vergangenen Jahrzehnten die Lebenslage der sozial Schwächeren gewaltig verbessert, wenn man zum Vergleich die Lebensverhältnisse im 19. Jahrhundert heranzieht. Die Versuche, den Kapitalismus gänzlich abzuschaffen, sind dagegen überall fehlgeschlagen. (Daran ändert auch nichts, dass es noch einige wenige Restbestände dieser Versuche gibt. Dort lebt die Masse der Bevölkerung in großer Armut.)

    Die Hybris, die uns versuchen lässt, das Himmelreich auf Erden zu verwirklichen, verführt uns dazu, unsere gute Erde in eine Hölle zu verwandeln – eine Hölle, wie sie nur Menschen für ihre Mitmenschen verwirklichen können. Wenn wir die Welt nicht wieder ins Unglück stürzen wollen, müssen wir unserer Träume der Weltbeglückung aufgeben. Dennoch können und sollen wir Weltverbesserer bleiben – aber bescheidene Weltverbesserer. Wir müssen uns mit der nie endenden Aufgabe begnügen, Leiden zu lindern, vermeidbare Übel zu bekämpfen, Missstände abzustellen; immer eingedenk der unvermeidbaren Folgen unseres Eingreifens, die wir nie ganz voraussehen können und die nur allzu oft die Bilanz unserer Verbesserungen zu einer Passivbilanz machen. Karl Popper


    Anarchismus

    Anarchismus ist die philosophisch/politisch/soziologische Lehre bzw. Überzeugung, die besagt, dass eine ideale menschliche Gesellschaft keine Regierung und keinen Staat haben sollte. Anarchie (von gr. »an« = nicht und »archia« = Herrschaft) bedeutet »Herrschaftslosigkeit«. Verbunden damit ist die Überzeugung, dass die Menschen von Natur aus gut seien, und erst durch die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse schlecht gemacht würden.

    Einige Anarchisten propagieren den gewaltsame Umsturz. (Z. B. der russische Anarchist Michael Bakunin, 1814–1876.) Andere lehne Gewalt zur Herbeiführung der Anarchie ab und setzen auf Erziehung. (Z. B. der englische Anarchist William Godwin, 1756–1836.). Ersetzt werden soll der Staat durch grenzenlose Freiheit des Einzelnen und/oder durch freiwillige Zusammenschlüsse gleichberechtigter Menschen. Auch auf wirtschaftlichem Gebiet wird die freiwillige Kooperation gleichberechtigter Menschen dem Kapitalismus und anderen auf Autorität und Privateigentum beruhenden Wirtschaftsordnungen vorgezogen. Einige Anarchisten haben unbeschränktes Privateigentum gefordert, soweit es nicht durch Ausbeutung anderer Menschen entstanden sei. (Z. B. der französische Anarchist Pierre-Joseph Proudhon, 1809–1865.)

    Anhänger des Anarchismus betonen häufig den Unterschied von Anarchie und Anomie (gr. »a« = nicht und »nomie« = Gesetze.) Anarchie sei Herrschaftslosigkeit, deshalb aber nicht gleich eine Gesellschaft ohne Gesetz und Ordnung.

    In ihren langfristigen Vorstellungen waren Kommunisten und Anarchisten nicht weit auseinander. Irgendwann einmal wird es keinen Staat, keine Herrschaft mehr geben. Aber in den Vorstellungen, wie die idealen Zustände herbei geführt werden können, unterschieden sich Kommunisten und Anarchisten stark. (Ich benutze die Vergangenheitsform, weil diese beiden politisch-gesellschaftlichen Grundströmungen keine aktuelle Bedeutung haben und mehr von historischem oder theoretischem Interesse sind.)

    Liberalismus

    Möglichst wenig Staat und Herrschaft wollen die Liberalen, glauben aber nicht, dass man irgendwann einmal gänzlich darauf verzichten kann. Der Liberalismus ist eine ursprünglich politische, dann eine ökonomische, gesellschaftliche und philosophische Theorie und Weltanschauung, die die Freiheit des Einzelnen in den Mittelpunkt stellt. Als Begründer des politischen Liberalismus gilt John Locke. Als Begründer des ökonomischen Liberalismus gilt Adam Smith.

    Grundauffassungen des Liberalismus:

    • Selbstbestimmungsrecht des einzelnen Individuums.
    • Eigenverantwortung.
    • Freie Entfaltung der Persönlichkeit.
    • Begrenzung politischer Macht.
    • Freiheit des einzelnen Individuums gegenüber dem Staat.
    • Begrenzung oder völlige Verhinderung der Kontrolle des Einzelnen durch staatliche Institutionen.
    • Pluralismus auf politischen, weltanschaulichen, kulturellen u. w. Gebieten. Mithin Toleranz.
    • Privateigentum auch an den Produktionsmitteln und Selbstregulierung der Wirtschaft durch freie Markwirtschaft.

    Adam Smith glaubte, dass der einzelne Mensch bei seinem Streben nach Gewinn und Wohlstand, ohne es zu beabsichtigen, auch für das Wohl der Gesellschaft sorgt. Erst nach Smith stellte sich heraus, dass eine solche Wirtschaft ohne jeden staatlichen Eingriff regelmäßig zu katastrophalen Wirtschaftskrisen und zur Verelendung großer Teile der Bevölkerung führt. Die Auffassung, dass der Staat zumindest in kleinem Rahmen auch die Pflicht hat, für die materielle und kulturelle Wohlfahrt seiner Bürger zu sorgen, ist bei den Liberalen eher jüngeren Datums. Heutige Liberale fordern in der Regel zwar eine weitgehende aber keine totale wirtschaftliche und soziale Abstinenz des Staates.

    Konservatismus

    Ein positives Verhältnis zu Herrschaft und Staat haben die Konservativen. Konservatismus (auch: Konservativismus, von lat. »conservare« = bewahren u. ä.) heißt ganz simple: »Alles soll bleiben, wie es ist.« Die Nutznießer des Status Quo sind deshalb auch in der Regel die Konservativen (gewesen).

    War (und ist) das städtische Bürgertum, das Bildungsbürgertum und die verschiedenen Arten der Kulturschaffenden tendenziell liberal, so hatte (und teilweise hat) der Konservatismus seine soziale Basis im Adel, bei den Landbesitzern, auch kleineren Bauern, der ländlichen Bevölkerung generell, bei den Geistlichen der verschiedenen Konfessionen, bei Militärs, Staatsdienern insgesamt, sowie bei den stark religiös und obrigkeitsstaatlich orientierten Teilen des Bürgertums und der Arbeiter.

    Konservative gesellschaftliche und politische Einstellungen und Verhaltensweisen gibt es seit es menschliche Gesellschaft und Politik gibt. Als explizite Theorie und Bewegung entstand der Konservatismus in der Auseinandersetzung mit der Aufklärung (der starken Bewertung der Vernunft), der Französischen Revolution und der Entstehung der liberalen und sozialistischen Bewegungen und Parteien.

    Die Grundsätze des Konservatismus sind Identität, Sicherheit und Kontinuität. Der Konservatismus behauptet den naturhaft gewachsenen organischen Charakter geistiger und gesellschaftlicher Gebilde, besonders des Staats und des Rechts. Eingreifen der Menschen schade nur. Es wird auf die »gute und bewährte Ordnung« gepocht.

    Der Konservatismus hat ein positives Verhältnis zu Macht und Hierarchie. Elite, Mittelstand und Unterschicht seien gott- oder naturgegeben und unverzichtbar. Die Traditionen sollen gepflegt werden, die herrschende politische Ordnung bewahrt und die vorhandene Verteilung von Macht und Reichtum unangetastet bleiben. Der Individualismus und der Kollektivismus werden gleichermaßen abgelehnt. Gegenüber den Interessen der Gemeinschaft habe der Einzelne zurückzutreten.

    Faschismus

    Eine Steigerung des Konservatismus bei der positiven Bewertung von Staat, Herrschaft, Rangordnung etc. ist der Faschismus, in Deutschland der Nationalsozialismus. Zusätzlich zu den konservativen Werten treten hier auf (von Land zu Land verschieden stark ausgeprägt):

    • Nationalismus.
    • Rassismus.
    • Sozialdarwinismus.
    • Dogmatismus.
    • Absoluter Machtanspruch.
    • Totalitarismus.
    • Gesteigerte Bereitschaft zu physischer Gewalt und Terror, sowohl gegen inneren Feinde wie gegen fremde Völker und Staaten.
    • Gewisse sozialrevolutionäre Gedanken, Vorstellung der Volksgemeinschaft.
    • Damit verbunden die Mobilisierung größerer Teile der Bevölkerung.
    • Aber ebenso klar das Führerprinzip, hierarchischer Aufbau, unbedingter Gehorsam.
    • Selbstdefinition als »Anti-Gesinnung«. (Anti-demokratisch, anti-parlamentarisch, anti-liberal, anti-humanistisch u. ä. m.)

    Faschistische Diktatur ist in der Regel totalitär (von lat. »totalis« = ganz, völlig), was Diktaturen nicht unbedingt sind. Ein politischer und/oder militärischer Diktator muss nicht notwendiger Weise auch auf wirtschaftlichem oder religiösem Gebiet herrschen. Eine totalitäre Diktatur versucht alle Lebensbereiche der Gesellschaft und des Individuums zu bestimmen.

    Aufbauen kann der Faschismus auf inhumane Sozialutopien, wie sie u. a. Nietzsche und Spengler vertreten haben, was nicht bedeutet, dass die faschistische Ideologie in allen Punkten mit diesen Konzepten übereinstimmt.

    Der Antisemitismus, ein besonders starkes Kennzeichen des deutschen Faschismus, ist kein genereller Bestandteil der faschistischen Ideologie. Faschisten sind aber in der Regel Rassisten und Sozialdarwinisten.

    Sozialdarwinismus

    Die von Darwin erkannten in der Natur wirkenden Evolutionsgesetze werden auf die menschliche Gesellschaft und ihre diversen Teilbereiche wie Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Kultur übertragen. »Kampf ums Dasein«, »Überleben des Kräftigsten« etc. werden als auch für die menschliche Gesellschaft unabdingbare, notwendige und sinnvolle Erscheinungen angesehen. In Deutschland führte dies zur millionenfachen Vernichtung von (angeblich) rassisch minderwertigen und kranken Menschen.

    Die neue, höhere Qualität, die der Mensch als bewusstes, vernunftbegabtes Wesen der übrigen Natur gegenüber darstellt, wird dabei übersehen oder nicht genügend berücksichtigt. Wenn auch die natürlichen Evolutionsgesetze im Verhalten des Menschen und in der menschlichen Gesellschaft eine Rolle spielen, so müssen sie doch nicht das Geschehen dominieren.

    Nicht alle Sozialdarwinisten waren Faschisten. Es gab unter ihnen auch Altruisten, wie z. B. der englische Philosoph Herbert Spencer (1820–1903). Von dem es allerdings auch inhumanste Äußerungen gibt. Spencer ist ambivalent.


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    13. Kapitel

    Ästhetik


    »Die Schönheit der Dinge
    lebt in der Seele dessen,
    der sie betrachtet.«
    David Hume



    In diesem Kapitel wird vermittelt:

    • Was Ästhetik ist
    • Was in der Geschichte unter Ästhetik verstanden wurde
    • Was Kunst im gegenwärtigen Verständnis ist
    • Was Musik ist


    Ästhetik (von gr. »aisthesis« = sinnliche Wahrnehmung) war ursprünglich die Lehre von den sinnlichen Wahrnehmungen. Heute ist sie in erster Linie die Lehre vom Schönen, von den Gesetzmäßigkeiten und der Harmonie in Natur und Kunst, im engeren Sinne Kunsttheorie. Ästhetik ist für die meisten Philosophen ein Teilgebiet der Philosophie. Einige Philosophen sehe sie als etwas gesondertes.

    Es wird unterschieden zwischen Subjektästhetik (z. B. Entstehung eines Kunstwerks im Individuum, Wirkung auf andere Subjekte, die Frage nach einer Allgemeingültigkeit von »gutem Geschmack«) und Objektästhetik (z. B. Untersuchung des künstlerischen Gegenstandes, des Verhältnisses der verschiedenen Kunstgattungen, das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit, Geschichte der Kunst).

    Ästhetizismus bedeutet, dem Ästhetischen Vorrang vor allen anderen Werten zu geben.


    Ästhetik in der Geschichte

    Schon in der Antike wurde über Schönheit und Kunst nachgedacht, ohne dass es bereits eine eigenständige Ästhetik gab.

    Für Platon ist das Schöne das Naturschöne, in der die Idee der Schönheit zum Ausdruck komme. Kunst sei nur »Mimese« (gr. Nachahmung) der Wirklichkeit, Wirklichkeit aber bereits Mimese der Ideen und damit sei Kunst nach Idee und Natur drittrangig.

    Aristoteles wertet die Kunst auf. Mimese ist für ihn ein schöpferischer Prozess, der zeige, was nach Notwendigkeit und Angemessenheit möglich wäre.

    Das christliche Mittelalter knüpfte weitgehend an Platons Vorstellung der Kunst an. (Die Rolle der platonischen Ideen hatte allerdings Gott inne.)

    Zu Beginn der Neuzeit, in der Renaissance und später im Deutschen Idealismus betrachtete, man in Anknüpfung an Aristoteles das Kunstwerk als Ideal und den Künstler als Genie.

    »Jeder trägt in sich das Urbild der Schönheit,
    deren Abbild er in der großen Welt sucht.«
    Blaise Pascal


    In seinem diesbezüglichen Hauptwerk, Kritik der Urteilskraft, bezeichnet Kant als schön, was in einem Subjekt Wohlgefallen auslöst. Kunst hat für ihn nur etwas mit Gefühl, nicht mit Erkenntnis zu tun.

    Für Schiller ist Kunst der höchste Ausdruck des Geistes, Schönheit etwas Objektives, das sich vernünftig begründen lasse. Kunst solle der Erziehung und der Veredelung der Menschen zur Freiheit dienen.

    Für Schelling ist Kunst das Gebiet, auf dem Welt und Ich, Reales und Ideales, bewusstes und unbewusstes Wirken der Natur in vollendeter Harmonie erscheine.

    Für Hegel ist Kunst – innerhalb seiner Vorstellung der Weltgeschichte als Rückkehrprozess des Weltgeistes – Entfaltung von Wahrheit, eine Erscheinungsform des Absoluten Geistes. Dort allerdings nach Philosophie und Religion drittrangig.

    Nach Schopenhauer ist Kunst – im Rahmen seiner Philosophie der absoluten Dominanz des Willens – die Betrachtung der Dinge losgelöst von Kausalität und Willen. Genialität sei vollkommenste Objektivität. In der Betrachtung der Kunst könnten wir uns dem Sklavendienst des Willens entziehen.

    Bei Marx und den an ihn abknüpfenden Philosophen werden Kunstwerke im Rahmen des Basis-Überbau Schemas zu Teilen des Überbaus. Sie spiegelten gesellschaftliche und ökonomische Verhältnisse wider und hätten in der Regel einen ideologischen Charakter. Allerdings gebe es auch Ausnahmen. Kunstwerke könnten ewige menschliche Werte, utopische Ziele und damit die Sehnsüchte der Volksmassen ausdrücken.

    Der Positivismus wendet sich – wie in anderen Bereichen der Philosophie auch – gegen einen den Empirismus übersteigenden Wahrheitsanspruch von Kunstwerken.

    Die Analytische Philosophie sieht – getreu ihrer Position von der überragenden Bedeutung der Sprache – in den Kunstwerken Sprach- und Zeichensysteme und bezeichnet – wie auf anderen Gebieten der Philosophie auch – viele ästhetische Fragen als Scheinprobleme.

    Adorno knüpft einerseits an Marx an, in dem er in den Kunstwerken ein Spiegelbild sozialer Verhältnisse sieht, die in ihrer befreiten Form mit dem Bestehenden in Konflikt geraten. Anderseits kommt auch seine Ablehnung der Instrumentellen Vernunft und damit der Beherrschung der Natur durch den Menschen in seiner Kunsttheorie zum Tragen. Durch die Kunstwerken, die uns die Beherrschung der Natur als positiv vermitteln wollen, könnten wir sowohl das Bewusstsein von dieser gewalttätigen Beherrschung erlangen, als auch ein Bild davon, wie eine Versöhnung von Mensch und Natur aussehen könnte.

    Bei Habermas tritt beim Kunstwerk anstelle der Wahrheit und/oder Schönheit die Authentizität.

    Ob wir etwas schön oder hässlich finden, hat – naturwissenschaftlich betrachtet – zumindest teilweise etwas zu tun mit Mustern, die in uns gespeichert sind und mit denen wir unbewusst Äußeres vergleichen. Im Rahmen einer rein philosophisch-ästhetischen Reflexion ist kein Grund dafür zu finden, dass wir einen Busen oder Po schön finden. Schon unser nächster Verwandter, der Schimpanse, wird die – aus unserer menschlichen Sicht hässliche – Schimpansin vorziehen. (Damit meine ich, dass die äußeren Geschlechtsmerkmale einer Schimpansin in der Regel auf einen Menschen abstoßend wirken.)


    Schönheit bei Menschen ist Mittelmaß.

    Mit Hilfe eines Computers wurden Hunderte von Frauengesichter »übereinander gelegt« um das absolute Durchschnittsgesicht zu erzeugen. (Größe und Form der Gesichtsbestandteile, Abstand zueinander, Symmetrie und ein Schuss Kindlichkeit.) Und je durchschnittlicher das Gesicht wurde, umso schöner wurde es empfunden. (Desto stärker hat es mit den Mustern in uns übereingestimmt.)


    Kunst im gegenwärtigen Verständnis

    Kunst ist ein Produkt von Menschen, die in der Regel einfach nur etwas Schönes schaffen wollen, etwas, das im Betrachter, Hörer etc. ein positives Gefühl auslöst. Da die Geschmäcker verschieden sind – (»De gustibus non est disputandum« = Über Geschmack lässt sich nichts streiten) – gibt es ganz unterschiedliche Kunstrichtungen.

    »Kunst« kommt von »können«. Käme es von »Wollen«, dann hieße es »Wunst«.


    Kunst wird aber auch definiert als »Gestaltung eines Inneren in eine äußere Form, die freilich, wenn es vollendet ist, das Ganze des Seins zum Ausdruck bringen kann, aber in gleichnishafter, symbolischer Weise ...« Häufig erheben Künstler den Anspruch, mit ihren Produkten etwas über das Sein auszusagen, mit ihren Produkten einen tieferen Einblick in das Sein oder Teilen davon zu ermöglichen. Sollte so etwas möglich sein, dann bestände hier aber ein ähnliches Problem wie bei der Vernunfterkenntnis. Wie uns die Vernunft täuschen kann, so kann uns auch das Gefühl täuschen.

    Die Kunst appelliert primär an das Gefühl und nicht an die Vernunft. Was nicht ausschließt, dass Kunst auch ein intellektuelles Erlebnis sein kann. Dagegen ist Philosophie etwas, jedenfalls für mich, das primär etwas mit Vernunft zu tun hat. Deshalb sollte Philosophie und Kunst voneinander unterschieden werden, wie ich im 1. Kapitel schon näher erläutert habe..

    Musik

    Eine besonders beliebte und weitverbreitete Kunstart ist die Musik. Sie kommt zustande durch zweierlei: 1. Absichtlich erzeugte systematisch aneinandergereihte unterschiedliche Schallwellen, die auf unsere Trommelfelle treffen und über mehrere Zwischenstufen Nervenimpulse erzeugen, die ins Gehirn fließen. 2. Unser Gehirn verarbeitet die ankommenden Impulse zu dem, was wir als Musik erleben.

    »Die Musik ist die Stenographie des Gefühls.«
    Leo Tolstoi (1828–1910)
    Russischer Schriftsteller


    Da die Ohren der verschiedenen Menschen die Schallwellen unterschiedlich aufnehmen, insbesondere aber die Gehirne der verschiedenen Menschen die Nervenimpulse unterschiedlich verarbeiten, erzeugen dieselben Schallwellen bei einigen Menschen angenehme, bei anderen unangenehme Gefühle. (Junge und alte Menschen, musikalisch Gebildete und musikalisch Ungebildete erleben unterschiedliche Schallwellen als angenehm. Das wird häufig nicht begriffen und dies führt oft zu Konflikten.)

    »Musik, da mit Geräusch verbunden,
    als störend häufig wird empfunden.«
    Wilhelm Busch


    Musik kann außer einem akustischen, melodischen auch ein intellektuelles Erlebnis sein, wenn man sich auf die Systematik konzentriert, mit der die verschiedenen Töne variiert und kombiniert werden. Außerirdische oder auf der Erde entstandene höhere Lebewesen würden wegen ihrer anders strukturierten Sinnesorgane und Gehirne die von uns erzeugten Schallwellen entweder gar nicht wahrnehmen oder anders verarbeiten. Sie hätten zu unserer Musik wahrscheinlich ein ganz anderes Verhältnis als wir Menschen. Die Musik als unmittelbare Abbildung des Weltwillens anzusehen, wie es Schopenhauer und Nietzsche machen, halte ich deshalb für eine anthropozentrische Vermessenheit.


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    14. Kapitel

    Die wichtigsten philosophischen
    Strömungen

    »Ich will von der Philosophie nichts
    weiter sagen, als dass ich sah, sie sei
    von den vorzüglichsten Geistern einer Reihe
    von Jahrhunderten gepflegt worden,
    und dennoch gebe es in ihr nicht
    eine Sache, die nicht strittig
    und mithin zweifelhaft ist.«
    René Descartes


    In diesem Kapitel wird vermittelt:

    • Was die bedeutendsten philosophischen Strömungen in der Geschichte sind.
    • Was die bedeutendsten bzw. am meisten diskutierten philosophischen Strömungen in der Gegenwartsphilosophie sind.

    Die philosophischen Strömungen habe ich alphabetisch geordnet, nicht in der Reihenfolge ihres erstmaligen historischen Auftretens. Das ist deshalb sinnvoll, weil viele dieser Strömungen parallel in der Gegenwartsphilosophie vorhanden sind.


    Analytische Philosophie

    Die Analytische Philosophie wird auch »Logischer Positivismus«, »Logischer Empirismus«, »Common Sense Philosophy«, »Ordinary Language Philosophy« und »Neopositivismus« genannt. Sie war die bedeutendste philosophische Strömung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zuerst in den angelsächsischen Ländern, dann auch auf dem europäischen Kontinent.

    Die Analytische Philosophie will analytisch sein, will Sachverhalte systematisch erforschen. Orientiert ist sie an den empirisch-naturwissenschaftlichen Einzelwissenschaften.

    Wie dort soll auch in der Philosophie logische Stimmigkeit, intersubjektive Überprüfbarkeit, Eindeutigkeit und erkennbarer Fortschritt als Kriterien für Wahrheit gelten. Faktisch ist es so, dass sich die Analytische Philosophie aber weniger mit Dingen, Sachverhalten, Ereignissen, Beziehungen, Eigenschaften etc. beschäftigt, sondern mit Aussagen, Begriffen, Prinzipien und deren Sinnerklärung.

    Im Gegensatz zur bisherigen Philosophie ist in der Analytischen Philosophie die Sprachphilosophie der wichtigste, wenn nicht sogar der einzige Bestandteil der Philosophie. Man ist bestrebt, die Bedeutung von Begriffen und Aussagen zu klären, Kriterien zu entwickeln, um sinnvoll über Wahrheit reden zu können und künstliche Sprachsysteme, ideale Modellsprachen, Objektsprachen oder Metasprachen zur (logischen) Analyse philosophischer und einzelwissenschaftlicher Problemstellungen zu entwickeln.

    »Stimmen Namen und Begriffe nicht, so ist
    die Sprache konfus. Ist die Sprache konfus,
    so entstehen Unordnung und Misserfolg.«
    Konfuzius


    Der von der Analytischen Philosophie vorgenommene »linguistic turn« (»Wendung zur Sprachanalyse«) war ein wichtiges und folgenschweres Ereignis in der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Philosophie wurde vielfach auf Sprachanalyse und Linguistik reduziert, große Teile dessen, was bisher zur Philosophie gehörte, wurde von vielen Philosophen aus der Philosophie »verstoßen«, zum Beispiel Ontologie, Ethik, Ästhetik und das Leib-Seele-Problem, bzw. die Grundfrage der Philosophie.


    Nach Wittgenstein ist Philosophie:

    Ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache.

    Eine Wolke von Philosophie wird zu einem Tropfen Sprachlehre.

    Die schwerpunktmäßige oder sehr intensive Beschäftigung mit der Sprache wird von anderen bedeutenden Philosophen wiederum kritisiert.

    »Ein Philosoph, der sich sein
    Leben lang mit der Sprache
    beschäftigt, ist wie ein
    Zimmermann, der seine ganze
    Arbeitszeit damit verbringt,
    seine Werkzeuge zu schärfen.«
    Karl Popper


    Abgelehnt wird die Metaphysik. Die bisherige Philosophie habe sich größtenteils mit Scheinproblemen beschäftigt, die sich aus einer Ungenauigkeit unserer Sprache ergeben hätten bzw. daraus, dass die benutzten Wörter keinen empirischen Gehalt haben, zum Beispiel das Wort »Gott«.

    Sätze wie »Gott existiert« oder »Gott existiert nicht« sind nicht wahr oder falsch, sondern sinnlos.


    Die Frage, ob die Welt primär ein geistiger oder ein materieller Tatbestand ist, sei ein Scheinproblem.

    Die bedeutenden Vertreter der Analytischen Philosophie sind fast alle Engländer oder US-Amerikaner. Unter anderem Bertrand Russell (der als Begründer gilt, sich aber in vielen Punkten von den meisten Vertretern dieser Strömung unterschied), George Edward Moore, der im 2. Kapitel schon als Vertreter des Neu-Realismus erwähnt wurde, Alfred Jules Ayer, Willard van Orman Quine (1908–2000), Hilary Putnam (geb. 1926), Rudolf Carnap (1891–1970) und Ludwig Wittgenstein. Bei den beiden Letztgenannten gibt es eine Überschneidung mit dem Neopositivismus.


    Aufklärung

    Unter »Zeit der Aufklärung« wird eine geistesgeschichtliche Epoche Europas verstanden, die vom Ende des 17. bis ins 19. Jahrhundert dauerte.

    Das wichtigste Merkmal der Aufklärung ist die hohe Bewertung der Vernunft. Die Vernunft sei das Wesen des Menschen. Die Welt sei in ihrer Gesamtheit vernünftig angelegt und könne von der menschlichen Vernunft erkannt werden. Die Vernunft sei die einzige und letzte Instanz, die über Wahrheit oder Falschheit einer Erkenntnis entscheide.


    Diese hohe Bewertung der Vernunft führt zur Kritik an allen autoritätsbezogenen, irrationalen Denkrichtungen wie Offenbarungsglaube, Metaphysik, Aberglaube, politischen Dogmatismus u. ä. Auch Traditionen und Institutionen (politische, gesellschaftliche) werden der Kritik unterzogen.

    »Begeisterung ist ein Feuer,
    das die Innenwelt in Fluss erhält.
    Aber Vernunft muss ihr die Gussform richten,
    in die sich das geschmolzene Metall ergießt,
    sonst verfließt alles halt- und gestaltlos.«
    Otto von Leixner


    Bedeutende Aufklärer waren:

    In Frankreich Pierre Bayle (1647–1706), Bernard le Bovier de Fontenelle (1657-1757), Voltaire, Charles-Louis de Secondat Montesquieu, Julien Offray de La Mettrie und Denis Diderot. In der Regel wird auch Jean-Jacques Rousseau dazugezählt, was viele Interpreten wegen dessen Vernunftfeindlichkeit für fragwürdig halten. Einige halten ihn für den Überwinder der Aufklärung.

    Als aus Sparsamkeitsgründen die Hälfte der Pferde in den Ställen des französischen Königs abgeschafft wurde, schlug Voltaire vor, man solle doch besser 50 Prozent der Esel entlassen, die den königlichen Hof bevölkern.


    In England Francis Bacon, Thomas Hobbes, John Locke und David Hume.

    In Deutschland Christian Thomasius (1655–1728), Christian Wolff (1679–1754), Friedrich der Große (1712–1786), Gotthold Ephraim Lessing und Immanuel Kant.

    Aufklärung ist immer eine Reaktion auf Unaufgeklärtheit, auf gesellschaftliche Zustände und Verhaltensweisen, die aus religiösen und politischen Dogmen, Autoritäten etc. resultieren und nicht aus vernünftiger Begründung oder Einsicht. In diesem Sinne hat es aufklärerische Bewegungen seit der Antike immer wieder gegeben. Für die Gegenwart kann Karl Popper als ein wichtiger Aufklärer genannt werden.


    Existentialismus

    Der Existentialismus oder die Existenzphilosophie ist eine philosophische Strömung, in der besonders das einzelne Individuum im Vordergrund steht.

    Existenz bedeutet im Existentialismus etwas anderes als in der Naturwissenschaft oder der Alltagssprache.

    Existenz ist das persönliche, individuelle, einmalige, subjektive Sein eines Menschen, ein letztes nicht hintergehbares Sein, das durch Faktizität, Endlichkeit, Geschichtlichkeit, Zeitlichkeit, Freiheit und Möglichkeit bestimmt ist, sich verlieren oder finden, sich entwerfen und wählen kann bzw. muss.


    Diese Existenz ist rational weder erfassbar noch erklärbar. Durch Gefühle wie Angst, Ekel, Langeweile oder Grenzsituationen wie Todesfurcht und Schuld erfahre man, was sie ist.

    »Philosophie ist nicht ohne Kälte denkbar.
    Wer nicht grausam gegen das eigene Gefühl
    sein kann, philosophiere nicht.
    Ernst von Feuchtersleben


    Besonders die Angst ist ein wichtiger Punkt des Existentialismus. Und zwar eine allgemeine unbestimmbare Angst, die sich nicht aus einer konkreten Lebenssituation eines Menschen erklären lässt, die keine Angst vor etwas Konkretem ist.

    Die meisten Existentialisten betonen die »Sinnlosigkeit des Seins«. Der Einzelne müsse für sich erst einen Sinn finden bzw. verwirklichen. Der Mensch sei kein unveränderliches statisches Wesen. Existenz sei etwas Dynamisches, sei Aufgabe und Vollzug.

    Der Existentialismus war in den Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg in Westeuropa, besonders aber in Frankreich eine Modeströmung, die große Teile der Intellektuellen und Künstler erfasst hatte. Als Ahnherr der Existenzphilosophie wird Sören Kierkegaard genannt.

    Bedeutende Vertreter des Existentialismus

    Die verschiedenen Vertreter des Existentialismus haben trotz gewisser gemeinsamer Grundauffassung zum Teil recht unterschiedliche Auffassungen gehabt und sich gegenseitig nicht gemocht.

    Der französische Schriftsteller, Bühnenautor und Philosoph Jean-Paul Sartre gilt als Hauptexponent des Existentialismus.

    Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt.

    Der Mensch sei in einer sinnlosen Welt dazu verurteilt, in völliger Freiheit eine Entscheidung zu treffen. Ohne eine solche sei er wie ein Spinngewebe, das der Wind losgerissen habe und das nun ohne Gewicht herumschwebe.

    Der französische Philosoph und Bühnenautor Albert Camus (1913–1960) gilt als ein weiterer Hauptvertreter des Existentialismus. Zentraler Begriff seiner Philosophie ist das Absurde. Dieses bestehe in der Kluft zwischen dem Menschen, der nach Einheit, Klarheit und Sinn strebe, und einer Welt ohne Gott, die dies alles verneine.

    Die Revolte ist der einzige Ausweg aus der Sinnlosigkeit des Seins.

    Diese gehe aber immer dann fehl, wenn sie ein absolutes Endziel anstrebe und im Nihilismus ende. Die Absurdität des Seins und das Glücksverlangen des Menschen müssten in Einklang gebracht werden. Dies sei möglich in der menschlichen Solidarität und Pflichterfüllung, im opferbereiten Einsatz für andere.

    Grausamkeit empört, Dummheit entmutigt. Albert Camus

    Der deutsche Philosoph Karl Jaspers (1883–1969) gilt als der bedeutendste deutsche Vertreter der Existenzphilosophie.

    Ziel der Philosophie ist Existenzerhellung. Zu dieser führen Grenzsituationen wie Schuld, Kampf, Leiden, Tod u. ä.


    Diese können einen Menschen aus einem unreflektierten Dahinleben herausreißen. Philosophie unterscheide sich grundsätzlich von Wissenschaft, Kunst und Religion.

    Auch Martin Heidegger wird des Öfteren der Existenzphilosophie zugerechnet, obwohl er selbst diese Zuordnung für sich ablehnte. Auf ihn wird in einem gesonderten Abschnitt näher eingegangen.


    Frankfurter Schule

    Die von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno begründete bzw. repräsentierte Frankfurter Schule wird auch »Kritische Sozialphilosophie« und »Kritische Theorie« genannt. Ausgegangen ist diese Denkrichtung vom »Institut für Sozialforschung in Frankfurt/M«, das seit 1923 existiert. Das bekannteste Buch dieser Richtung ist Dialektik der Aufklärung.

    Die wichtigste Grundaussage dieser Denkrichtung:

    Die Vernunft, die einst eine aufklärerische Rolle gespielt habe, sei in der modernen Welt zu einer instrumentellen Vernunft verkommen. Unter zunehmendem Verlust der Individualität würden die Menschen zu Vollzugsorganen und Objekten einer wissenschaftlich-technischen Naturbeherrschung und einer zunehmend bürokratisierten Welt.


    Wichtige Grundzüge dieser Richtung sind:

  • Die Theoretiker der Frankfurter Schule befinden sich in der Denktradition Marx/Hegel. (Unterschied zu den eher skeptizistischen Richtungen, die in der Tradition Kants stehen.)
  • Dies bedeutet auch eine Hochschätzung der Dialektik. (Unterschied zum Positivismus, zur Analytischen Philosophie und zu Karl Popper.)
  • Sie verbinden marxistische und psychoanalytische Gedanken. (Unterschied zum sowjetischen Marxismus-Leninismus.)
  • Kritische Betrachtung der Gesellschaft verbunden mit der Auffassung, dass Philosophie eine praktische Bedeutung haben müsse und der Erwartung (oder jedenfalls Hoffnung), dass in Zukunft bessere gesellschaftliche Verhältnisse existieren werden. (Unterschied zu den Philosophen, die sich mit der Gesellschaft gar nicht oder nur am Rande beschäftigen – zum Beispiel reine Logiker oder Sprachphilosophen – und denen, die eine Verbesserung der Gesellschaft für unmöglich halten oder ablehnen – zum Beispiel Schopenhauer oder Nietzsche. Allerdings haben Horkheimer und Adorno eine positive Veränderung der Gesellschaft in ihrer späteren Schaffenszeit auch nicht mehr für möglich gehalten.)

  • Die »Kritische Theorie« erforscht besonders drei Sphären:

    • die ökonomische Basis der Gesellschaft
    • die psychische Entwicklung des Individuums und
    • den kulturellen Bereich.

    Sie beschäftigt sich nicht mit der Natur und der Natur des Menschen. Die Existenz von natürlichen anthropologischen Konstanten wurde ausdrücklich verneint. Es ist eine gewisse »Biologiefeindlichkeit« feststellbar.

    Nach Auffassung der »Frankfurter« ist bürgerliche Wissenschaft bestrebt, Wertungen und Vorurteile zu vermeiden, sie wolle objektiv und wertfrei sein. Objektivität werde aber an der gegenwärtigen Realität gemessen. Diese würde dann nicht mehr als historisch gewordene, sondern ontologisch als Sein oder empirisch als Tatsache angesehen. Horkheimer sah darin eine parteiliche und interessengebundene Erkenntnisweise: Die gegenwärtigen Tatsachen würden zur Wahrheit.

    Bedeutende Vertreter der Frankfurter Schule

    Max Horkheimer

    Geistiges »Oberhaupt« der Frankfurter Schule und neben Adorno wichtigster Exponent der »Kritischen Theorie« ist der deutsche Philosoph und Gesellschaftstheoretiker Max Horkheimer (1895–1973). Auch wegen seiner jüdischen Abstammung immigrierte er während der Nazizeit in die USA.

    Horkheimers Schriften sind zu einem großen Teil eine Kritik der bürgerlichen Gesellschaft in ihren politischen, ökonomischen und ideologischen Widersprüchen, sozialpsychologische Analysen der bürgerlichen Lebensformen und Studien über den Zusammenhang von Kapitalismus und Faschismus.

    Zusätzlich zu dieser Kritik kommt – besonders im Früh- und Spätwerk – eine Art metaphysischer Pessimismus angesichts des »malum metaphysicums«, des Leidens in Natur und Geschichte generell, oder (wie im Sinne von Metaphysik) des über das materielle Leid hinausgehende allgemeine Leid im Sein. Hier gibt es eine gewisse Nähe Horkheimers zu Schopenhauer. In der mittleren Schaffensperiode überwog durch den Einfluss von Marx eine Zeit des Optimismus zumindest, was die Verringerung des »malum physicums«, des materiellen Elends anbetrifft. Aber auch in dieser Zeit klingt Schopenhauer immer mit an.

    Die Theorien Freuds haben – wie bei allen Vertretern der Frankfurter Schule – auch auf Horkheimer eine starke Wirkung ausgeübt, aber nicht im Sinne einer orthodoxen Übernahme.

    »Es gibt keine Definition der Philosophie. Ihre Definition ist identifiziert mit der expliziten Darstellung dessen, was sie zu sagen hat.« Max Horkheimer

    Theodor W. Adorno

    Der zweite wichtige Exponent der Frankfurter Schule ist der deutsche Philosoph, Soziologe, Musikkritiker und Musiktheoretiker Theodor W. Adorno (1903–1969). Er wandte sich gegen die »Instrumentelle Vernunft« und gegen blinden Fortschrittsglauben. Er ist in diesen Punkten ein Vorläufer der grünen Fundamentalisten. Hauptanliegen Adornos ist die »Rettung des Individuums« in der verwalteten und vermarkteten Welt. Diese würde jeden individuellen Spiel- und Freiraum beseitigen.

    Jürgen Habermas

    Jürgen Habermas (geb. 1929) ist gegenwärtig einer der bedeutendsten lebenden deutschen Philosophen. Er gilt vielfach als wichtigster jüngerer Vertreter der Frankfurter Schule. Kritiker dieser Zuordnung meinen:

    Es wäre absurd, Aristoteles einen Platoniker zu nennen, weil er 20 Jahre Schüler an der platonischen Akademie war. Genauso absurd sei es, Habermas als einen Vertreter der Frankfurter Schule zu bezeichnen.


    Habermas hat sich von den Grundlagen der Frankfurter Schule in vielen Punkten weit entfernt, was sich unter anderem darin zeigt, dass er die bürgerliche Gesellschaft erheblich positiver bewertet. (Allerdings haben auch Horkheimer und Adorno in ihren späten Jahren die bürgerliche Gesellschaft positiver gesehen, als in ihrer frühen und mittleren Schaffenszeit.)

    Doch auch er behauptet, dass keine objektive Einheitswissenschaft möglich sei, da verschiedene Interessen auch verschiedene Arten von Rationalität und Wissenschaft erzeugen würden.

    Habermas versucht eine Verbindung von Kants »transzendentalem Subjekt« (das in seinem Verstand die Instrumente hat, mit denen es sich seine Welt schafft) und Marx' »Menschen als arbeitendes, sich mit der Natur auseinandersetzendem Wesen«, das im Verlauf seiner Gattungsgeschichte erst die Natur und danach sich selbst konstituiere. Erkenntnis- und Gesellschaftstheorie fielen im Grunde zusammen.

    Habermas sieht eine große Rolle der Sprache als normative Grundlagen der Gesellschaft, vertritt die Konsenstheorie der Wahrheit und eine Diskursethik.


    Kynische Schule

    Begründet von Antisthenes (440–365 v. Chr.), der in vielem Rousseau glich. Propagiert wurde unter anderem Bedürfnislosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber Kunst, Wissenschaft und der herrschenden Moral. Praktiziert wurde Egoismus, Derbheit, Schamlosigkeit und Ähnliches. Der Begriff »Zyniker« kommt von hier.

    Die Kyniker waren die Aussteiger, die Punks der Antike.


    (Die Stoiker haben zum Teil hier angeknüpft.)

    Der bekannteste Vertreter der Kynischen Schule ist »Diogenes in der Tonne« (Diogenes von Sinope, 412–323 v. Chr.). Er soll öffentlich onaniert haben mit der Bemerkung, er sei nur betrübt, dass er seinen Hunger nicht auf ähnlich leichte Weise befriedigen könne.

    Alexander der Große trat eines Tages an Diogenes heran, der in seiner Tonne lag, und fragte diesen, ob er irgendetwas für ihn tun könne. Darauf antwortete Diogenes: »Ja, geh bitte aus der Sonne.«


    Alexander, über diese Respektlosigkeit nicht etwa entzürnt, sagte: »Wäre ich nicht Alexander, ich wollte Diogenes sein.«

    Diogenes

    Diogenes der Weise aber kroch ins Fass und sprach:
    »Ja ja! Das kommt von das!«


    Marxismus

    Karl Marx war ein deutscher Philosoph und Ökonom mit jüdischer Abstammung. Er lebte seit 1849 bis zu seinem Tode in London. Von philosophischem Interesse sind besonders die Frühwerke. Später überwogen ökonomische und politische Texte.

    Friedrich Engels war ein deutscher Philosoph und Ökonom, der eng mit Marx befreundet war und eng mit ihm zusammengearbeitet hat. In vielen Büchern hat er Auffassungen von Marx zusammengefasst und weiterentwickelt.

    Marx und Engels sind besonders bekannt für ihre Propagierung des Kommunismus. Das hatte zur Folge, dass sie vielfach mit dem identifiziert wurden, was im 20. Jahrhundert mit dem Begriff Kommunismus bezeichnet wurde und wie sich die Menschen, die sich Kommunisten nannten, verhielten. (Wie ich meine weitgehend zu Unrecht.)

    Marx und Engels waren ursprünglich Hegelianer, was sich besonders bei ihrem dialektischen Denken und ihrer Geschichtsphilosophie bemerkbar macht. Ohne Hegel hätte es den Marxismus, jedenfalls in seiner konkreten Form, nicht gegeben.

    Am Anfang des Marxismus steht der Protest gegen die »Selbstentfremdung des Menschen«. Marx und Engels kritisierten die klassische Philosophie, die in Hegel ihren Höhepunkt erreicht habe. Notwendig sei eine Veränderung der Wirklichkeit, die nicht mit der philosophischen Vernunft übereinstimme.

    Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern. Karl Marx

    Der Mensch sei ein Naturwesen, das sich über die Natur erhebe. Das Grundverhältnis des Menschen zur Natur sei Arbeit. In der Arbeit verwirkliche und schaffe sich der Mensch. Er könne sich aber auch in ihr entfremden. Arbeitsteilung und Entwicklung der Gebrauchsgegenstände zur Ware begründeten diese Entfremdung. In der kommunistischen Gesellschaft werde durch die Aufhebung der Arbeitsteilung die Entfremdung des Menschen überwunden. Es gehe darum, die Entfremdung nicht nur im theoretischen Denken zu überwinden, sondern in der Praxis. Man müsse Hegel vom Kopf auf die Füße stellen. Hier ist der Übergang vom Idealismus zum Materialismus.

    Dialektischer Materialismus

    Das materielle Organ Gehirn schaffe das menschliche Bewusstsein. Es sei mit diesem entstanden und werde mit diesem wieder vergehen. Eine individuelle Fortexistenz nach dem Tode sei unmöglich. Da Marx und Engels nun aber den Materialismus Feuerbachs mit dem dialektischen Denken Hegels verbanden – die Dialektik aber auch modifizierten, wie stark, ist umstritten –, nennt man ihre Philosophie Dialektischen Materialismus.

    Die Marxisten sind keine Erkenntnispessimisten. Eine Erkenntnis der Wahrheit (in der Bedeutung der Korrespondenztheorie) durch Sinne und Verstand sei möglich. Die Praxis sei der Maßstab, an dem die Wahrheit zu messen sei.

    Historischer Materialismus

    Die Gesellschafts- und Geschichtstheorie von Marx und Engels wird Historischer Materialismus genannt. Das bedeutet in seinem Kern, dass man die materialistische Antwort auf die Grundfrage der Philosophie auf die Geschichte und die Gesellschaft überträgt. Auch hier seien die materiellen Lebensverhältnisse das Ausschlaggebende, nicht der geistige Lebensprozess.

    Vielfach wurde der Mensch von den Marxisten darauf reduziert. ein gesellschaftliches, besonders ökonomisches Wesen zu sein. Dass menschliches Fühlen und Verhalten seine Ursache auch in seiner Natur hat, wurde häufig übersehen.

    Geschichte

    Die Geschichte verlaufe nach gewissen in der Ökonomie begründeten Regeln ab. Hier eine von Marx erstellte Kurzfassung des Historischen Materialismus:

    In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. – Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. – Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt. – Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolutionen ein. – Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheuere Überbau langsamer oder rascher um. [...] Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neuere höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, dass die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösungen schon vorhanden oder wenigstens im Prozess ihres Werdens begriffen sind.


    Für Marx und Engels war der Kommunismus das notwendige Ergebnis der Geschichte, er werde genauso unabänderlich eintreten wie die nächste Mondfinsternis, da die Menschen durch die Widersprüche des Lebens gezwungen sein werden, so zu handeln, wie es zur Erreichung des Kommunismus notwendig sei.

    Kommunismus

    Was sich Marx und Engels unter Kommunismus vorgestellt haben, ist die freieste, demokratischste und sozialste Gesellschaft, die überhaupt denkbar ist. In Marx' Schriften war die Rede vom Absterben des Staates nach der Revolution, von kommunaler Selbstverwaltung, von Wählbarkeit und Absetzbarkeit aller Verwaltungspersonen und keinerlei Privilegien für sie, von allgemeiner Volksbewaffnung und dezentralisierter Polizei, von der Umwandlung der Betriebe in Genossenschaften, die von den Arbeitern selbst verwaltet werden. Im Kommunismus würde jeder nach seinen Fähigkeiten arbeiten und jeder nach seinen Bedürfnissen von den erarbeiteten Gütern nehmen.

    Die schreibenden und redenden Zukunftsweltbaumeister von heute entwerfen zwar sehr verschiedene Gebäude. Aber alle stimmen in der Voraussetzung überein, dass die Menschen keine Leidenschaften haben. Und die Masse glaubt es nur zu gern, dass sie aus Engeln besteht. Otto von Leixner

    Die gesellschaftlichen Verhältnisse in vielen Ländern im 20. Jahrhundert, die von außen »kommunistische Länder« genannt wurden, hatten mit diesen Vorstellungen nichts zu tun. (Die Regierenden in diesen Ländern hatten ihre gesellschaftlichen Verhältnisse allerdings selbst nicht als kommunistisch bezeichnet, sondern betrachteten diese als Weg zum Kommunismus.)

    Marx und Engels hätten sich vor Gram im Grabe umgedreht, wenn sie mitbekommen hätten, was später unter dem Namen »Marxismus« und »Sozialismus« praktiziert wurde!


    Die regierenden »Marxisten« im 20. Jahrhundert hatten mit den kommunistischen Idealen im täglichen Leben ungefähr so viel zu tun wie die katholische Kirche des Mittelalters mit der Bergpredigt von Jesus Christus.

    »Das Gegenteil von gut ist nicht böse,
    sondern ›gut gemeint‹.«
    Kurt Tucholsky


    Kunst und Philosophie

    Da die Inhalte des Bewusstseins durch die gesellschaftlichen, besonders ökonomischen Verhältnisse bestimmt seien, seien auch die vorherrschenden Philosophien, Kunstrichtungen und religiösen Überzeugungen ein Spiegelbild dieser Verhältnisse.

    Marxismus

    Die Theorien von Marx und Engels wurden nach deren Tod von verschiedenen Menschen aufgenommen, unterschiedlich interpretiert und weiterentwickelt. Es gab nicht mehr den Marxismus, sondern viele mehr oder weniger verschiedene Marxismen.

    Lenin

    Wladimir Iljitsch Lenin war der bedeutendste Marxist des 20. Jahrhunderts. Jedenfalls was die Wirkung auf den Verlauf der Geschichte anbetrifft. Er war Russe, Gründer der bolschewistischen Partei, Führer der Oktoberrevolution und Gründer der Sowjetunion. Er war aber auch ein politischer und philosophischer Schriftsteller. Seine philosophischen Schriften waren vielfach eine Systematisierung und Zusammenfassung der marxistischen Philosophie. Lenin entwickelte aber auch Neues. Im Gegensatz zu Marx und Engels sollte bei Lenin die Kommunistische Partei und ein von den Kommunisten errichteter kommunistischer Staatsapparat eine entscheidende Rolle beim Aufbau des Kommunismus spielen.

    In der Staats- und Parteitheorie sowie der politischen Praxis weichen die Auffassungen Lenins vom ursprünglichen Marxismus stark ab. Er war voluntaristischer, als es dem klassischen Marxismus entsprach.


    Marx und Engels hatten von Parteien keine gute Meinung.

    Wie passen Leute wie wir [...] in eine Partei? [...] d. h. eine Bande von Eseln, die auf uns schwört, weil sie uns für ihresgleichen hält? Engels brieflich an Marx

    Oder um es mit einem anderen großen Denker zu sagen:

    Um ein tadelloses Mitglied einer Schafherde sein zu können, muss man vor allem ein Schaf sein. Albert Einstein

    Was auch immer man von Lenin als philosophischen Schriftsteller halten mag, politisch-gesellschaftlich steht er am Anfang einer schrecklichen Fehlentwicklung. Als Dogmatiker und Fanatiker ließ er neben seinen Auffassungen keine anderen gelten. Andersdenkende waren für ihn bestenfalls Dummköpfe, wenn sie nicht Schurken, Halunken, Kapitalistenknechte u. ä. waren. Nach der Oktoberrevolution, die faktisch die putschistische Machtergreifung der bolschewistischen Partei war, wurden Andersdenkende zu Kriminellen erklärt und zu Hunderttausenden liquidiert. (Die andere Seite war genauso brutal!)

    Der höchste denkbare Grad der Gleichheit, der Kommunismus, ist, weil er die Unterdrückung aller natürlichen Neigungen voraussetzt, der höchste denkbare Grad der Knechtschaft. Heinrich von Treitschke (1834–1896). Deutscher Historiker und Politiker

    Erst durch Lenin wurde der Stalinismus möglich, da Stalin den von Lenin theoretisch und praktisch begründeten Staats- und Parteiapparat übernahm, ihn dann allerdings in seinem Sinne umwandelte. Andere marxistische Theoretiker waren mit Lenins Vorgehen nicht einverstanden.

    Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus der ›Gerechtigkeit‹, sondern weil all das Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die Freiheit zum Privilegium wird. Rosa Luxemburg, Deutsch-Polnische Kommunistin und Journalistin (1871–1919)


    Metaphysik im 19. und 20. Jahrhundert

    Kant ging davon aus, mit seiner epochalen Schrift Kritik der reinen Vernunft der klassischen Metaphysik den Garaus gemacht zu haben, und viele Philosophen stimmten ihm zu. Alle im Grundtenor skeptischen und positivistischen Strömungen gehen mehr oder weniger auf Kant zurück.

    Aber es gab auch weiterhin metaphysische Strömungen, die an das idealistische Moment in der kantischen Philosophie anknüpften.

    Deutscher Idealismus

    Unter Deutschem Idealismus versteht man eine philosophische Strömung, die in der Zeit zwischen 1780 und 1830 in Deutschland ihren Höhepunkt hatte und von großer Bedeutung für die weitere Philosophiegeschichte ist. Wie der Begriff Idealismus bereits ausdrückt, wird in dieser Strömung die Welt als etwas primär Geistiges angesehen. Neben Kant – den einige Philosophie-Professoren und Autoren zum Deutschen Idealismus zählen – sind besonders Hegel, Fichte und Schelling zu erwähnen.

    Induktive Metaphysik

    Im Anschluss an den Deutschen Idealismus entwickelte der deutsche Philosoph Gustav Theodor Fechner eine Induktive Metaphysik. Diese unterscheidet sich von der Metaphysik der Antike und des Mittelalters dadurch, dass man von der Erfahrung ausgeht, dann aber über sie hinauszugelangen sucht. Aus wissenschaftlichen Einzelbeobachtungen glaubt man, induktiv metaphysische Aussagen herleiten zu können. Diese hätten nur einen hypothetischen Charakter, äußerten also Vermutungen, während die alte Metaphysik sicheres, beweisbares Wissen sein wollte. Ähnliche Auffassungen entwickelte der deutsche Philosoph Rudolf Hermann Lotze (1827–1881).

    Neue Ontologie

    Im 20. Jahrhundert entwickelten einige Philosophen spekulative philosophische Systeme, die unter dem Begriff Neue Metaphysik oder Neue Ontologie zusammengefasst werden. Diese Systeme sind unter den Gegenwartsphilosophien diejenigen, die am stärksten das sind, was man traditionell unter Philosophie verstand. Wie die Induktiven Metaphysiker wollen sie keine von der Erfahrung getrennte Spekulationen. Aber zusätzlich zur sinnlichen Erfahrung gebe es auch eine geistige Erfahrung. Auch der Rationalismus habe seine Bedeutung. Als Vertreter dieser Richtung sind zu nennen: Samuel Alexander, Hans Driesch (1867–1941), Paul Häberlin (1878–1960), Nicolai Hartmann, Günther Jacoby (1881–1969), George Santayana (1863–1952) und Alfred North Whitehead (1861–1947).

    Metaphysiknahe Strömungen

    Im 19. Jahrhundert traten in Deutschland zwei Philosophen auf, bei denen nicht die Vernunft, sondern der Wille den Kern des Seins darstellt: Schopenhauer und Nietzsche, die aus dieser Grundansicht aber unterschiedliche Konsequenzen zogen, unterschiedliche Philosophien entwickelten. Diese beiden Philosophen werden im 15. Kapitel näher vorgestellt.


    Neukantianismus

    Der Neukantianismus war eine an Kant bzw. an bestimmte Aspekte der kantischen Philosophie anknüpfende philosophische Strömung, die ihre Blütezeit in den Jahrzehnten vor und nach der Wende vom 19. auf das 20. Jahrhundert hatte und in dieser Zeit die bedeutendste philosophische Strömung war.

    Besonders drei Personen leiteten eine Rückbesinnung auf Kant ein:


    Zwei wichtige Grundzüge und Unterschiede zu Kant waren, dass der Neukantianismus weitgehend nur eine Erkenntnistheorie war und auf das »Ding an sich« (dem materialistischen Element der kantischen Philosophie) verzichtet wurde.


    Phänomenologie

    Phänomenologie bedeutet vom Wortsinn her »Lehre von den Erscheinungen«. Bei dem deutschen Philosophen Edmund Husserl (1859–1938), dem Begründer der Phänomenologie, wird daraus die »Lehre von den Gegenständen«, »Wesensschau«, da bei ihm die Erscheinungen mit den Gegenständen gleichgesetzt werden. Husserl forderte, man solle zu dem zurückkehren, was sich tatsächlich ereigne, vom Standpunkt desjenigen gesehen, der etwas Bestimmtes erlebe, und dieses Erlebte nicht schon von vornherein durch Interpretationen, Abstraktionen und Begriffsbildungen unkenntlich machen. Ein bekannter Ausspruch Husserls:

    Zurück zu den Sachen!

    Die Phänomenologie war eine der einflussreichsten philosophischen Strömungen im 20. Jahrhundert. Wichtige Vertreter sind zusätzlich zu Husserl: Martin Heidegger, der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty (1908–1961) und Max Scheler. Auch Nicolai Hartmann kann bedingt dazu gezählt werden. Nach Auffassung vieler Interpreten habe er eine »phänomenologische Ontologie« geschaffen. Die Phänomenologie beeinflusste auch stark den Existentialismus, wurde für viele Existentialisten die erkenntnistheoretische Basis.


    Positivismus und Neopositivismus

    Positivismus – Auguste Comte

    Positivismus ist eine von dem französischen Philosophen und Gesellschaftstheoretiker Auguste Comte (1798–1857) begründete Philosophie und Erkenntnistheorie, die fordert, sich unter Außerachtlassung aller metaphysischer Spekulationen mit den real gegebenen Erscheinungen zu beschäftigen. In Philosophie, Wissenschaft und Gesellschaft der Gegenwart ist der Positivismus von großer Bedeutung. Der Positivismus ging aus dem Empirismus hervor, wird aber auch als eine Spielart des Empirismus angesehen. Er ist eine Art »Mutterphilosophie« der Analytischen Philosophie.

    Der Begriff Positivismus kommt von dem Wort »positiv«. Dieses hat im Deutschen wie im Französischen eine dreifache Bedeutung:

    • Positiv als das Gute, Sinnvolle und Nützliche als Gegenpol zum Schlechten, Sinnlosen und Unnützen
    • Positiv als das einwandfrei Bestimmbare, das Sichere (z. B. »positives Recht«) als Gegenpol zum Nichtbestimmbaren, Unsicheren.
    • Positiv als das Wirkliche als Gegenpol zum Negativen als dem Nichtwirklichen (z. B. »HIV positiv« bedeutet, dass Aids-Viren vorhanden sind.)

    Diese drei Bedeutungen treffen nach Auffassung seiner Vertreter auf den Positivismus zu. Er halte sich an das gesellschaftlich Nützliche, an das sicher Bestimmbare und an die gegebenen Tatsachen.

    Ziel von Wissenschaft und Philosophie solle sein, die Wirklichkeit zu gestalten und zu beherrschen. Wissen, um vorher-zu-wissen, Wissen als Macht.

    Neopositivismus

    Eine an den klassischen Positivismus anknüpfende philosophische Richtung, in der aber Logik und Sprache eine größere Rolle spielen, ist der Neopositivismus. Dieser wird von vielen Interpreten zur Analytischen Philosophie gezählt, von anderen als dessen Vorstufe angesehen.

    Rudolf Carnap

    Rudolf Carnap (1891–1970), ein österreichisch-amerikanischer Philosoph, ist der Hauptvertreter des Neopositivismus. Nach seiner Ansicht ist eine Aussage nur dann sinnvoll, wenn sie anhand der Erfahrung als richtig oder falsch verifiziert werden könne. Sinnlos sei ein Satz, wenn er Wörter enthalte, deren Bedeutung nicht geklärt werden könnte. Zur Verdeutlichung dieser Auffassung erfand Carnap das Kunstwort »babig«. Ob man nun sage, etwas sei göttlich oder etwas sei babig, sei im Prinzip das Gleiche.

    Sinnlos sei ein Satz auch, wenn er zwar aus für sich sinnvollen Wörtern bestehe, aber gegen die Regeln der Syntax verstoße, zum Beispiel »Das Nichts nichtet« (Heidegger). Eine Verifikation müsse intersubjektiv sein. Metaphysische Sätze seien weder wahr noch falsch, sondern sinnlos.

    Metaphysik habe die Menschen zu allen Zeiten deshalb beeinflusst, weil sie ein gewisses Erleben wiedergebe. Aber dafür solle man sich der Sprache der Dichtung bedienen, damit nicht als Erkenntnis ausgegeben werde, was in Wirklichkeit Dichtung sei.

    Gegen Ende seines Lebens hat Carnap die – der Analytischen Philosophie entgegenstehende – Auffassung vertreten, gewisse Fragen der Philosophie seien keine Scheinprobleme, zum Beispiel das Leib-Seele-Problem oder die Frage nach einer philosophisch begründeten Ethik.


    Radikaler Konstruktivismus

    Konstruktivismus als philosophische Auffassung bedeutet in ihrem Kern, dass wir die materielle Welt, die verschiedenen Wissenschaften, die Mathematik, die Logik etc. selbst konstruieren. Diese Dinge würden von uns nicht etwa entdeckt, in der Wirklichkeit vorgefunden. Sie existierten nicht unabhängig vom Denken und Handeln der Menschen. Sie seien unsere Produkte.

    Eine in der Regel abgemilderte Form des Konstruktivismus ist die Konstitutionstheorie. Diese besagt im Grundsätzlichen: Die von uns erlebte Welt wird (nach bestimmten in uns liegenden Regeln) von uns »konstituiert«, oder anders ausgedrückt »geschaffen«. Die von uns erlebte Welt existiert unabhängig von diesem Prozess des Konstituierens überhaupt nicht. Und dies treffe nicht nur für die Teile der Welt zu, von denen wir auch ohne philosophische Überlegungen annehmen, dass wir sie schaffen – Häuser, Straßen, Kleidung, Maschinen etc. –, sondern auch für die Teile der Welt, von denen der »gesunde Menschenverstand« annimmt, dass sie unabhängig von unserem Schaffen existieren – Bäume, Tiere, Berge, Sterne etc. Dies ist eine Absage an jede Form des Naiven Realismus. Der bekannteste Vertreter einer solchen Auffassung ist Kant.

    Der Radikale Konstruktivismus war in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts besonders unter Philosophiestudenten eine weitverbreitete Modeströmung. Die Grundaussage ist:

    Die Welt, in der wir leben, ist unsere Erfindung.

    Eine Verbindung des Subjekts zur objektiven Realität – soweit eine solche überhaupt in Erwägung gezogen wird – sei so unmöglich wie Ontologie und Metaphysik. Der Radikale Konstruktivismus ist Skeptizismus, Pragmatismus und Subjektiver Idealismus. Einige Interpreten sagen auch Psychologismus und Mystizismus.

    Die Radikalen Konstruktivisten betrachten sich vielfach selbst nicht als solche, sondern werden von anderen als solche bezeichnet, bzw. sie betrachten den Begriff Konstruktivismus als unglücklich gewählt.

    Bekannte Vertreter des Radikalen Konstruktivismus – die sich in vielen Details unterscheiden! – sind unter anderen:

    Der im 2. Kapitel bereits als Subjektiver Idealist genannte Heinz von Förster.

    Ernst von Glasersfeld, (1917–2010), österreichisch-amerikanischer Philosoph, Kommunikations-Wissenschaftler, Psychotherapeut und Schriftsteller

    In der konstruktivistischen Perspektive ist das Subjekt grundsätzlich für seine gesamte Wirklichkeit zuständig und verantwortlich.

    Gerhard Roth (geb. 1942), deutscher Philosoph und Biologe. Aussagen:

    Die Wirklichkeit wird in der Realität durch das reale Hirn hervorgebracht.

    Mein Eindruck ist [...], dass manche Konstruktivisten schlicht und einfach Mystiker sind.

    Der bereits zitierte Paul Watzlawick. Konstruktivismus ist für ihn die

    Untersuchung der Art und Weise, wie wir Menschen uns unsere eigenen Wirklichkeiten erschaffen.

    Zu nennen sind noch die chilenischen Biologen und Philosophen Francisco Varela (1946–2001) und Humberto Maturana (geb. 1928).

    Ein häufig gar nicht bemerktes und ungelöstes Problem beim Radikalen Konstruktivismus – wie im Übrigen im Prinzip bei jeder Art von Subjektphilosophie – ist der Solipsismus. Wenn ich die Welt, zumindest so, wie sie für mich ist, konstruiere oder konstituiere – dann träfe dies auch für die anderen Menschen zu. Auch sie wären mein Konstrukt. Ich wäre nur noch alleine da. In der Regel umgehen die Radikalen Konstruktivisten dieses Problem dadurch, dass sie bezüglich der anderen Menschen – unbegründbar und inkonsequent – eine Ausnahme machen.

    Ein Radikaler Konstruktivist hat sich in der Wüste verirrt. Kurz vor dem Verdursten wird er von einem nach ihn ausgesandten Suchtrupp gerettet. Er bedankt sich mit den Worten: »Danke, dass ihr mich noch rechtzeitig erfunden habt.«


    Der Radikale Konstruktivismus ist innerhalb der Philosophie sehr umstritten, besonders von den Vertretern der verschiedenen Objektphilosophien wird er als Unsinn angesehen. Aber auch die etwas skeptischeren Philosophen kritisieren die angebliche Nichtverbindung des subjektiven Weltbildes mit einer objektiven Welt. Rupert Riedl, als Vertreter der Evolutionären Erkenntnistheorie meint: »Zu erwarten, dass [...] unser Weltbild mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben könne, wie die Konstruktivisten meinen (zum Beispiel Förster, Glasersfeld, Maturana;[...]), kann auch nicht richtig sein.«

    Methodischer Konstruktivismus

    Vom Radikalen Konstruktivismus zu unterscheiden ist der Methodische Konstruktivismus der Erlanger Schule. Wichtigster Vertreter ist der deutsche Philosoph, Mathematiker und Logiker Paul Lorenzen (1915–1994). Dabei handelt es sich in erster Linie um eine Wissenschaftstheorie. Im Verlaufe einer kritischen Rekonstruktion der sprachlichen Mittel der Wissenschaften soll eine strukturierte, widerspruchsfreie, vollständige »methodische« Begründung aller Wissenschaften erfolgen.


    Strukturalismus und Poststrukturalismus

    Strukturalismus und Poststrukturalismus sind seit den 60er, 70er Jahren des 20. Jahrhunderts bedeutende philosophische Strömungen. Vertreter dieser Denkrichtungen sind nicht nur in der philosophischen Welt, sondern auch im Feuilleton ständig präsent.

    Strukturalismus

    Strukturalismus ist eine in Frankreich entstandene wissenschaftliche Grundauffassung oder Forschungsmethode. Ihr Hauptanliegen ist das Aufdecken unbewusster universaler menschlicher Denkprinzipien.

    Strukturalismus wird aber auch als Sammelbezeichnung für bestimmte Methoden genannt, da die Aussagen verschiedener Strukturalisten nicht immer einheitlich sind.

    Struktur

    Struktur (von lat. »structura« = Bau, Aufbau, Bauart) bedeutet die – nicht immer sichtbare – Ordnung von Teilen zu einem Ganzen, die innere Gliederung, die Beziehungen der Teile untereinander und zum Ganzen, die gegenseitige Abhängigkeit der Teile. Der Begriff Struktur hat eine Ähnlichkeit zum Begriff System.

    Die vom schweizerischen Sprachforscher Ferdinand de Saussure (1857–1913) begründete strukturale Linguistik behauptet, dass Sprachen Zeichensysteme seien, denen eine unbewusste Struktur zugrunde liege, die aufdeckbar sei.

    Der von dem französischen Ethnologen und Kulturtheoretiker Claude Lévi-Strauss (1908–2009) begründete Strukturalismus besagt, dass nicht nur die Sprache, sondern auch andere kulturelle Produkte Zeichensysteme seien, bei denen man auch nach denen ihnen zugrunde liegenden Strukturen forschen könne. So wurde der Strukturalismus zu einer allgemeinen Forschungsmethode, besonders aber in den Bereichen der Linguistik, der Ethnologie, der Psychologie und der Mathematik.

    Der Strukturalismus geht davon aus, dass Phänomene nicht vereinzelt existieren, sondern in Verflechtung mit anderen Phänomenen. Die Verbindungen der vielen Phänomene bilden eine Struktur, die aufdeckbar sei. Genau betrachtet zeige sich aber, dass die Struktur vom Beobachter in die Wirklichkeit hineingetragen werde, sie unabhängig vom Beobachter nicht existiere. Bei diesem Vorgang würden universale menschliche Denkprinzipien aufgedeckt.

    Die Strukturalisten zerlegen das Gegebene (gedanklich) und setzen es anschließend wieder zusammen und erst bei dieser schöpferischen menschlichen Tätigkeit entstehe die Welt und ihre Bestandteile und würden diese verstanden. Die Vernunft bzw. der Logos liege nicht in den Objekten, sondern in den Subjekten.

    Die Strukturalisten wenden sich gegen die Subjektphilosophie.

    Es gebe objektive Strukturen, die das subjektive Denken beherrschten. Es geht also um universale menschliche Denkprinzipien, die aber nichtsdestotrotz nichts Subjektives, sondern etwas Objektives darstellen.

    Synchronie und Diachronie

    Da die Strukturalisten bestrebt sind, die vielen Phänomene gleichzeitig zu beschreiben und Strukturen als statische Gebilde ansehen, ist für den Strukturalismus die Synchronie im Gegensatz zur Diachronie kennzeichnend. Synchronie (von gr. »syn« = gleich und »chronos« = Zeit) bedeutet Gleichzeitigkeit. Dinge werden gleichzeitig beschrieben. Diachronie (von gr. »dia« = [hin]durch) meint Beschreibung der geschichtlichen Entwicklung.

    Signifikant und Signifikat

    Da für die Strukturalisten die vom Beobachter mit Sprache konstruierte Struktur gegenüber der Wirklichkeit das Wichtigere darstellt, ist für sie der Signifikant das Wichtigere gegenüber dem Signifikaten, der nur als Hilfsmittel dient. Beide Wörter kommen vom lateinischen Wort »significare« = bedeuten. Das/der Signifikat ist das Bezeichnete, der bezeichnete Inhalt. Der Signifikant ist der Bezeichner.

    In der Philosophie geht es dem Strukturalismus weniger um die Inhalte von Aussagen, als um die Struktur philosophischer Aussagen und Systeme.

    Poststrukturalismus

    Der Strukturalismus fand seine Weiterentwicklung bzw. »Widerlegung« im Poststrukturalismus. Die Grenze zwischen diesen beiden Strömungen ist fließend. Viele französische Philosophen und Wissenschaftler des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts werden in der philosophischen Literatur mal dem einen, mal dem anderen Lager zugeordnet.

    Der Poststrukturalismus – auch Neostrukturalismus oder Dekonstruktivismus – entstand in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts in Frankreich aus dem Bestreben der Überwindung bzw. der modifizierten Weiterentwicklung des Strukturalismus. Er ist keine einheitliche Schule, sondern definiert sich eher aus dem, was er ablehnt.

    Alle Richtungen des Poststrukturalismus betreiben eine rigorose Semiotisierung der Welt und der Wissenschaft. Semiotik ist die Lehre von den Zeichen. Die Wirklichkeit erschöpft sich für sie in Zeichen und Zeichensystemen. Oder noch drastischer: Sie behaupten:

    Es gibt keine Wirklichkeit außerhalb der Sprache.

    Die Trennung von Signifikant und Signifikat, wie im Strukturalismus besonders hervorgehoben, wird aufgegeben. Der Versuch, die Bedeutung eines Signifikanten festzustellen, führe nur zu weiteren Signifikanten usw. usf. Im Unterschied zum Strukturalismus geht der Poststrukturalismus von der Gleichrangigkeit der Ebenen des Signifikanten und des Signifikats aus, wobei allerdings auch hier der Sprecher unbedeutend bzw. sekundär bleibt.

    Ursprünglich in der Literaturwissenschaft beheimatet, wurde der Poststrukturalismus zu einer umfassenden Kulturtheorie weiterentwickelt, in der die Welt als Text betrachtet wird. Eine außersprachliche oder außersemiotische Wirklichkeit, auf die der Text verweise, existiere nicht.

    Der Poststrukturalismus behauptet den »Tod des Subjekts«: Das Subjekt sei ohne Ursprung und ohne Einheit, ein Zeichenprodukt, ein in der Sprache gefangenes und durch Sprache seiendes Wesen.

    Wieso werden Männer zum Zahlen von Alimente verdonnert, wenn das Subjekt ohne Ursprung ist?


    Außer dem Tod des Subjekts behaupten die Poststrukturalisten auch den Tod der Geschichte, der Vernunft, der Wahrheit, des Autors etc.

    Der Poststrukturalismus behauptet das Ende der subjektiven Verantwortung: Es gebe keinen Täter hinter der Tat.

    Hierarchisch organisierte Theorien und Systeme werden ebenso abgelehnt wie jeder Monismus und Universalismus. Stattdessen wird Partikularismus betrieben und Einzeluntersuchungen angestellt. Das Sein wird vorgestellt als aus verschiedenen, nicht auseinander ableitbaren und nicht unter gemeinsame Oberbegriffe zu bringende Ebenen oder Teilbereichen. Der aphoristische Stil Nietzsches gefällt den Poststrukturalisten von daher sehr.

    »Der Wille zum System ist ein
    Mangel an Rechtschaffenheit.«
    Friedrich Nietzsche


    Bedeutende Vertreter des Poststrukturalismus

    Viele französische Philosophen aus dem letzten Drittel der 20. Jahrhunderts werden dem Strukturalismus oder dem Poststrukturalismus zugeordnet, oft auch beiden Richtungen zugleich! Unter anderem sind dies:



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    15. Kapitel

    Die wichtigsten Philosophen

    »Die Philosophen sind eher Anatomen als Ärzte;
    sie zerlegen und heilen nicht.«
    Antoine Comte de Rivarol (1753–1801)
    Französischer Schriftsteller


    In diesem Kapitel wird vermittelt:

    • Welches die bedeutendsten bzw. am häufigsten gelesenen und diskutierten Philosophen sind und welche Grundauffassungen sie hatten.

    Hier habe ich keine alphabetische Ordnung gewählt, sondern ich stelle sie vor in der zeitlichen Reihenfolge.


    Heraklit

    Heraklit, aus der Stadt Ephesos in Kleinasien (heutige Westtürkei), lebte ungefähr im 6. und 5. vorchristlichen Jahrhundert. Er verachtete die Mehrheit der Menschen, lehnte die Demokratie ab und war im Alter Einsiedler.

    Zenon und Heraklit stehen am Beginn der Dialektik.


    Für Hegel war der antike griechische Philosoph Zenon von Elea (ca. 490–430 v. Chr.) der erste Dialektiker, bei dem sich schon die negierende Kraft der Dialektik zeige. Das positiv-affirmative Prinzip der Dialektik zeigt sich nach Hegel bei Heraklit. Das konträre oder polare Zusammenspiel gegensätzlicher Kräfte verursache ständige Veränderungen. Der Krieg sei der Vater aller Dinge. Jedes Ding setze sich aus gegensätzlichen Eigenschaften zusammen. Unter der Oberfläche gebe es aber eine tieferliegende, verborgene Einheit, ein Zusammengehören des Verschiedenen.

    Heraklit sah ein Einheitliches hinter der Vielheit, aber keinen Stoff – wie die milesischen Naturphilosophen –, sondern ein Gesetz, den Logos.

    Im Gegensatz zu Parmenides betont Heraklit das ständige Werden und Vergehen der Dinge.

    Heraklit steht am Beginn des Aktualismus.


    Leider sind von Heraklit, der eine ähnlich umfassende Schriftstellerei betrieben hat wie Platon und Aristoteles, nur wenige Äußerungen überliefert. Wäre mehr von seinen Schriften erhalten geblieben, würde man ihn in seiner Bedeutung wahrscheinlich den beiden an die Seite stellen. (So wird es jedenfalls häufig von Kennern der antiken Philosophie gesagt.)

    »Der Gott ist Tag-Nacht, Winter-Sommer, Krieg-Frieden, Sättigung-Hunger. – Verbindungen: Ganzheiten und keine Ganzheiten, Zusammentretendes – Sichabsonderndes, Zusammenklingendes – Auseinanderklingendes; somit aus allem eins wie aus einem alles. – Das Widerstreitende zusammentretend und aus dem Sichabsondernden die schönste Harmonie. – Krieg ist von allem der Vater, von allem der König. – Krankheit macht Gesundheit angenehm und gut, Hunger Sättigung, Ermüdung das Ausruhen. – Meer: das sauberste und zugleich das verfaulteste Wasser, für Fische trinkbar und lebenerhaltend, für Menschen nicht trinkbar und tödlich. – Auf der Peripherie des Kreises fallen Anfang und Ende zusammen. – Der Weg hinauf und hinab ist ein und derselbe. – Kaltes wird warm, Warmes kühlt sich ab, Feuchtes trocknet, Trocknes wird feucht. – Dasselbe ist: lebendig und tot und wach und schlafend und jung und alt. Denn dieses ist umschlagend in jenes und jenes umschlagend in dieses. – Diese Welt hat kein Gott und kein Mensch erschaffen, sondern sie war immer und ist und wird sein ein ewig lebendiges Feuer, nach Maßen erglimmend und nach Maßen erlöschend.« Heraklit


    Sokrates

    Sokrates (ca. 470–400 v. Chr.) war ein Philosoph in Athen, im antiken Griechenland. Er stammte aus einer Handwerkerfamilie und vernachlässigte schon früh den erlernten Beruf des Steinmetzen. Die Vorwürfe seiner Frau Xanthippe sind sprichwörtlich geworden. Er lebte als Lehrer der Philosophie von den freiwilligen Spenden seiner Schüler. Sokrates nahm an mehreren Feldzügen teil und zeichnete sich durch besondere Tapferkeit aus. Im Alter von 70 Jahren wurde er der Gottlosigkeit und der Verderbung der Jugend angeklagt und zum Tode verurteilt. (Er musste den Schierlingsbecher trinken. Der Schierling ist eine hochgiftige Pflanze.)

    Ich weiß, dass ich nichts weiß.

    Seine Methode war ein Frage-und-Antwort-Spiel, bei dem er immer der Fragende war. Beginnend mit einfachen Fragen kam er zu immer komplizierteren. Was ist Gut? Wie können wir Wahrheit erlangen? Wie sollte der Staat beschaffen sein? Im Verlaufe des Gesprächs versuchte er, den Gesprächspartner dessen Unwissen erkennen zu lassen. Die Mutter des Sokrates war Hebamme. Er übertrug ihren Beruf auf seine philosophische Tätigkeit: geistige Hebammenkunst. Er wollte selbst nichts – keine Wahrheit – gebären. Er wollte lediglich anderen dabei helfen, die Unschlüssigkeit ihrer Auffassungen zu erkennen. In diesem Zusammenhang erfand er den philosophischen Dialog (in der modernen Philosophie »Diskurs« genannt) als einen ergebnisoffenen Erkenntnisprozess.

    Überliefert ist von ihm der Satz:

    Ich bin lieber ein unglücklicher Sokrates als ein zufriedenes Schwein.

    Die skeptische Grundeinstellung führte Sokrates aber nicht dazu, ein Mensch ohne Ethik zu sein. Er fühlte in sich eine Stimme, die ihn leitete und von ungerechten Handlungen abhielt. Er nannte sie »Der Gott in meiner Brust«. Sokrates war der Auffassung, es sei unmöglich, das Gute nicht zu tun, wenn man es kenne.

    Es ist besser, Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun.

    Sokrates verdankt seine Berühmtheit nicht zuletzt der Tatsache, dass er in den Büchern seines großen Schülers Platon meistens die Hauptrolle spielt. Da Sokrates selbst keine Schriften hinterlassen hat, ist es problematisch, seine eigenen Vorstellungen von denen zu trennen, die Platon in seinen Dialogen den platonisch idealisierten Sokrates äußern lässt.

    »Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein
    zufriedenes Schwein; besser ein unzufriedener Sokrates
    als ein zufriedener Narr. Und wenn der Narr oder
    das Schwein anderer Ansicht sind, dann deshalb,
    weil sie nur die eine Seite der Angelegenheit kennen.
    Die andere Partei hingegen kennt beide Seiten.«
    John Stuart Mill (1806–1873)
    Englischer Philosoph


    Platon

    Platon (427–347 v. Chr.) ist der erste große Meilenstein in der Geschichte der Philosophie. Zusammen mit seinem Schüler Aristoteles ist er einer der beiden größten Philosophen der Antike. Platon, Aristoteles und die beiden deutschen Philosophen Kant und Hegel sind die vier am häufigsten rezipierten und diskutierten Philosophen weltweit. Platons Schriften hatten eine gewaltige Wirkung auf die Philosophiegeschichte und die Geschichte insgesamt. Im Unterschied zu seinem Lehrer Sokrates hatte er keine skeptische Grundhaltung.

    Platon stammte aus einer der führenden Familien Athens. Nach der Verurteilung des Sokrates floh er und machte ausgedehnte Reisen, auf denen er viele Gelehrten und Philosophen kennenlernte und von ihnen beeinflusst wurde. Auf einer dieser Reisen wurde er von dem Tyrannen Dionysios gefangen genommen und auf dem Sklavenmarkt angeboten. Zu seinem Glück wurde er von einem ihm bekannten Sokratiker freigekauft und kehrte nach Athen zurück. Da der Käufer sich die Summe nicht erstatten lassen wollte, kaufte Platon von dem Geld einen Garten in der Nähe des Heiligtums des Heroen Akademos und gründete dort im Jahre 387 v. Chr. seine »Akademie« und damit die erste Universität in Europa.

    »Alle abendländische Philosophie ist als eine
    ›Fußnote zu Platon‹ zu verstehen.«
    Alfred North Whitehead


    Die Schriften Platons sind zum größten Teil in Dialogform abgefasst. Das heißt, eine Gruppe von Menschen diskutiert über ein bestimmtes Thema, wobei verschiedene Positionen vertreten werden. Der von Platon platonisch idealisierte Sokrates vertritt dabei die von Platon für richtig gehaltenen Auffassungen.

    Der wichtigste Teil der Philosophie Platons ist die Ideenlehre. Die von uns wahrgenommenen materiellen Dinge glichen bloßen Schatten, denen keine wahre Wirklichkeit zukomme. Sie seien nur Abbilder der Ideen. Diese seien Formen, Strukturen, Gattungen, Allgemeinheiten des Seins. Nur ihnen komme wahre Identität zu. Die Einzeldinge vergingen, aber die Ideen blieben als ewige Urbilder erhalten. Platon gilt als Begründer des Objektiven Idealismus.

    »Das Beste bei Freud finden Sie schon bei Platon.«
    Jean-Paul Sartre


    Ein weiterer wichtiger Aspekt der platonischen Philosophie ist der Glaube an eine unsterbliche Seele, die jeder Mensch habe. Diese Seele habe bereits vor der Geburt eines Menschen in der Sphäre der Ideen existiert und werde nach dem Tod eines Menschen dorthin zurückkehren, sich in Zukunft aber erneut inkarnieren (das heißt, die Seele wird in einem neuen Körper in die Welt zurückkehren). Erkenntnis sei Wiedererinnern von etwas, das die Seele im Reich der Ideen bereits geschaut habe.

    Platon behauptete, die Menschen und die Welt bzw. das Sein schlechthin, seien – im ethisch/moralischen Sinne – im Prinzip gut. (Womit er aber nicht behauptete, dass Welt und Menschen tatsächlich gut seien.) Die Idee des Guten sei die oberste Idee, die Idee der Ideen. Während es zu allen anderen Ideen immer die entgegengesetzte Idee gebe – Dialektik –, gebe es zur Idee des Guten keine Entgegensetzung. Eine Idee des Schlechten existiere nicht. Das Schlechte sei ein Nichtseiendes, immer nur ein Fehlen des Guten. Und weil die Welt im Prinzip gut sei, könne sie auch in der Realität gut sein. Die Menschen müssten sich nur auf das Gute besinnen, dann würden sie es praktizieren.

    Die in den griechischen Stadtstaaten bestehenden politischen und gesellschaftlichen Ordnungen kritisierte Platon und lehnte sowohl die Demokratie, die Oligarchie (die Herrschaft Weniger) und die Tyrannis (die Diktatur eines Einzelnen) ab. Er entwarf das Bild eines idealen Zukunftsstaates, in dem durch Auslese von Kindheit an und ohne ererbte Vorrechte die Besten zu Philosophenkönigen werden, während die Masse des Volkes von jeder Herrschaft und Mitbestimmung ausgeschlossen bliebe. Die weisen und guten Philosophenkönige wüssten am besten, was für die Menschen gut sei. Da es in einer solchen Gesellschaft keinen Platz für politische, philosophische, religiöse, kulturelle und pädagogische Selbstbestimmung und Vielfalt gäbe, wird Platon vielfach als Ahnherr totalitärer Gesellschaftskonzeptionen betrachtet, zum Beispiel von Popper.


    Aristoteles

    Platons großer Schüler Aristoteles (384–322 v. Chr.), der später in vielen Dingen andere Wege ging als sein Lehrer, ist in seiner Wirkung auf die Nachwelt, die Philosophie und Religion, die Wissenschaft und die Gesellschaft der wichtigste Philosoph aller Zeiten. Im Mittelalter galten die Schriften des Aristoteles sowohl in der islamischen wie in der christlichen Welt als unüberbietbare Weisheiten.

    Zu sagen, dass das Seiende sei und das Nichtseiende nicht sei, darin besteht die Wahrheit. Die Wahrheit sagt, wer das Getrennte für getrennt, das Verbundene für verbunden hält. Einen Irrtum hingegen begeht, wer sich in Gegensatz zur Wirklichkeit setzt. Aristoteles

    Aristoteles war 20 Jahre lang Schüler an der Akademie. (40 Semester! Heute würde man sagen »ein Langzeitstudent« ;-) Danach war er Lehrer Alexander des Großen und gründete anschließend in Athen, in einem »peripatos«, einem »überdachten Wandelgang«, seine eigene Schule. Aristoteliker werden auch Peripatetiker genannt.

    Ist Platon mehr Metaphysiker, so ist Aristoteles in erster Linie Wissenschaftler. Aber über der empirischen Forschung, der Sammlung und Beschreibung der Tatsachen, die vor ihm wohl keiner in diesem Umfang betrieben hatte, sieht auch Aristoteles im philosophischen Erkennen, das alles Bestehende unter einheitliche Prinzipien ordnet, die Krone des Wissens.

    Platon und Aristoteles ist gemeinsam die Überzeugung, dass wir mit Denken und Sprache die Struktur des Seins erfassen können. Sie sind also beide keine Erkenntnispessimisten. Unterschiede gibt es aber in den Erkenntnismethoden. Im Gegensatz zu Platon ist Aristoteles Empiriker und verteidigt ausdrücklich die Fähigkeiten der Sinne, uns sicheres Wissen zu vermitteln.

    Jeder einzelne Sinn vermittle uns allerdings nur bestimmte Eigenschaften der Dinge. Erst der »Allgemeinsinn« vermittle uns ein einheitliches Bild der Wirklichkeit. (»Allgemeinsinn« kann man auch mit »Vernunft« übersetzen. Damit wäre Aristoteles erstaunlich nahe den heutigen naturwissenschaftlichen Auffassungen über den Erkenntnisprozess.)

    Wie bereits weiter vorne erwähnt, hat Aristoteles die Logik, bei ihm heißt sie »Analytik«, begründet.

    Ein weiterer wichtiger Teil der Philosophie des Aristoteles ist die Theorie von Form und Stoff, die weiter vorn im Kapitel über die Grundfrage der Philosophie bereits als ein Dualismus, der letztlich ein Idealismus ist, dargestellt wurde.

    Bei seiner Naturbeobachtung kam Aristoteles zu dem Schluss, dass überall eine wunderbare Zweckmäßigkeit zu erkennen sei. Der eigentliche Grund der Dinge liege in ihren Endursachen, in ihrer Zweckbestimmung. Eine solche Auffassung, die in der Philosophiegeschichte häufig vertreten wurde, nennt man Teleologie, nach gr. »Telos« gleich »Ziel«. (Das Wort darf man nicht verwechseln mit Theologie!)

    Damit die Endursachen oder die Zwecke erreicht werden können, sei Bewegung nötig. War für Platon Bewegung nur etwas in der Welt der Erscheinungen Vorkommendes, das das wahre Sein nicht berühre, so ist für Aristoteles gerade die Bewegung das, was die Möglichkeiten im Sein erst realisiere.

    Aristoteles lehrt einen Gott, der als erster Beweger selbst nicht bewegt sei. Er sei die reine Form ohne Stoff. Er sei reines Denken, reiner Geist. Gott denkt nur das Höchste und Vollkommenste und da er selbst das Vollkommene ist, denke er sich selbst.

    In seiner Staatstheorie ist Aristoteles gegenüber Platon der Realist. Er ging davon aus, dass der Mensch von Natur aus ein Staaten bildendes Wesen sei. Man solle nicht nur den idealen Staat bedenken, sondern auch den möglichen. Aus der Unvollkommenheit der verschiedenen Regierungsformen (Monarchie, Aristokratie und Demokratie) zog Aristoteles den Schluss, dass man eine Mischung dieser Regierungsformen anstreben sollte. Am besten sei eine Mischung von demokratischen und aristokratischen Elementen, so dass der Mittelstand den Schwerpunkt des Staates bilde. Er propagierte damit eine gewisse Form von Gewaltenteilung. Der Staat sei dann gerechtfertigt, wenn er das Glück seiner Mitglieder gewährleiste.

    Denn von den Extremen ist das eine mehr, das andere weniger fehlerhaft. Aristoteles


    Descartes

    René Descartes (1596–1650), lat. Renatus Cartesius, (deshalb auch »cartesische Philosophie«) war Franzose, verfasste seine philosophischen Schriften in Holland, war Physiker und hervorragender Mathematiker. Widmete sein Hauptwerk der theologischen Fakultät der Pariser Universität, da er überzeugt war, der Religion einen Dienst zu erweisen. Die Religiösen waren allerdings anderer Ansicht und setzten seine Schriften auf den Index der verbotenen Bücher. Auch von protestantischer und staatlicher Seite wurde er verdammt.

    Gut hat gelebt, wer sich gut versteckt hat. Ich habe gar keine Lust, in der Welt angesehen zu sein, ich werde den Genuss ungestörter Muße stets für eine größere Wohltat halten als die ehrenvollsten Ämter der Erde. René Descartes

    Das Werk Descartes' war von außerordentlicher geschichtlicher Wirksamkeit. Descartes gilt den meisten Fachleuten als Begründer der modernen Philosophie.

    Descartes will seine Philosophie auf unerschütterlichen Grund bauen und deshalb alles ausschalten, was eventuell falsch sein könnte. Deshalb beginnt er am Anfang alles zu bezweifeln. Nicht nur, was man von anderen Menschen gelernt hat, auch was uns unsere Sinne und unser Verstand vermitteln. Denn es gibt ja vielerlei Sinnestäuschungen und auch beim Verstand kann ich mir nicht sicher sein, ob er mich nicht dauernd in die Irre führt.

    Cogito ergo sum. – Ich denke, also bin ich.

    Wenn man an allem zweifelt, dann kann man aber schon eine sichere Aussage machen: Ich zweifle! Und da zweifeln so etwas wie denken bedeutet, schloss Descartes »Ich denke, also bin ich.« Denn wenn ich denke, dann muss ich (auf welche Weise auch immer) existieren. (Schon Augustinus hatte diesen Grundsatz und es ist anzunehmen, dass Descartes das wusste. Sein Zweifel war ein methodischer und das Ergebnis kannte er auch schon.)

    Mit dieser Gewissheit habe man bereits das Kriterium und Musterbeispiel der Wahrheit in der Hand. Alles, was man ebenso unmittelbar, klar und deutlich erkennen kann wie diesen Satz, muss ebenso wahr sein.

    Klar und deutlich erkennbar ist nach Descartes die Existenz Gottes. Dazu bringt er zwei »Gottesbeweise«:

    1. Gottesbeweis: Descartes entdeckt in sich die Idee Gottes als des allervollkommensten Wesens. Diesem Wesen muss Existenz zukommen, denn sonst wäre es ja nicht vollkommen. (Ontologischer Gottesbeweis wie bei Anselm von Canterbury.)
    2. Gottesbeweis: Eine Wirkung kann nie vollkommener sein als ihre Ursache. Die Idee eines unendlichen Wesens kann nicht von meinem Verstand hervorgebracht werden, da dieser endlich ist. Die Idee des unendlichen Wesens setzt deshalb dessen tatsächliche Existenz voraus, dessen Abbild diese Idee ist.

    Außer diesen beiden »Gottesbeweisen« hat Descartes aber noch weitere, zum Beispiel den ersten Beweger (den hatte auch schon Thomas von Aquin) und die Notwendigkeit eines unendlich starken und unendlichen intelligenten Mathematikers.

    Es gibt in der heutigen philosophischen Welt so gut wie niemanden mehr, der die »Gottesbeweise« von Descartes als schlüssig ansieht.

    Zur Vollkommenheit Gottes gehört nach Descartes auch seine Wahrhaftigkeit. Ein böser Täuschergott, der uns die Welt nur vortäuscht, wäre kein vollkommener Gott. Zur Vollkommenheit Gottes gehört also auch, dass dieser Gott so funktioniert, wie es der Ethik Descartes entspricht.

    Die Welt um uns herum kann also nicht vorgetäuscht sein.

    Wenn Gott uns in seiner Wahrhaftigkeit nicht täuscht, woran liegt es dann, dass wir uns so oft täuschen? Die Willensfreiheit, die Gott uns gegeben hat, ermöglicht es dem Menschen, die eine Vorstellung als wahr, die andere als falsch zu bezeichnen. Nur aus diesem Willen, nicht aus den Vorstellungen selbst entspringt der Irrtum. Wir haben es selbst in der Hand, richtig oder falsch zu denken. Wenn wir uns nur auf das verlassen, was wir unmittelbar, klar und deutlich erkennen können und uns allem anderen gegenüber skeptisch verhalten, dann werden wir denkend ein richtiges Bild von der Welt erhalten.

    Was uns die Sinne an Eigenschaften der Dinge zeigen, genügt dem cartesischen Anspruch auf Klarheit und Deutlichkeit nicht. Richtige Erkenntnis sei nur das, was der denkende Verstand in völlig durchsichtigen, rationalen, mathematischen Begriffen ausdrücken kann. Descartes vertritt den Rationalismus.

    Ein wichtiger Begriff der cartesischen Philosophie ist die Substanz. Substanz sei, was zu seiner Existenz eines anderen Dinges nicht bedarf. Genau genommen ist nur Gott Substanz. Wie weiter vorn im Kapitel über die Grundfrage der Philosophie schon erläutert, vertritt Descartes mit seiner Lehre von »res cogitans« und »res extensa« einen Dualismus, der letztlich aber einen Idealismus darstellt.


    Spinoza

    Baruch de Spinoza (1632–1677) war ein in Holland lebender Philosoph jüdischer Abstammung, der wegen seiner pantheistischen Gesinnung aus der jüdischen Gemeinde ausgestoßen wurde.

    »Spinoza ist einer der tiefsten und
    reinsten Menschen, welche unser
    jüdisches Volk hervorgebracht hat.«
    Albert Einstein


    Der zentrale Begriff in der spinozistischen Philosophie ist die »Substanz«, im Wortsinne das »Darunterstehende«. Das Eine und Unendliche, das unter und hinter allen Dingen steht, das alles Sein in sich vereint. Die Substanz sei ewig, unendlich, aus sich selbst existierend und aus sich selbst bewegt.

    Am Anfang der spinozistischen Philosophie steht die Gleichung:

    Substanz = Gott = Natur

    Spinoza vertritt im Gegensatz zu Descartes den Monismus. Die beiden Substanzen der dualistischen Philosophie Descartes' »res cogitans« und »res extensa« sind bei Spinoza Attribute der einen Substanz:

    Ungeschaffene Substanz: Gott
    Dem Menschen bekannte Attribute dieser Substanz:
    Ausdehnung
    Grundmodi:
    Gestalt, Bewegung
    Denkung
    Grundmodi:
    Idee, Willensakt


    Auch die Einzelwesen könnten unter diesen beiden Gesichtspunkten betrachtet werden: Aus Sicht des Denkens erschienen sie als Bewusstsein, aus Sicht der Ausdehnung erschienen sie als Materie. Der Mensch bestehe nicht aus den zwei getrennten Substanzen Körper und Seele, sondern beides seien zwei Seiten ein und desselben Wesens (Parallelismus von Körper und Geist).

    Da alles Gott ist, ist eine menschliche Seele die Idee eines existierenden menschlichen Körpers im göttlichen Bewusstsein.


    In dem Moment, wo die Idee eines bestimmten Körpers im göttlichen Bewusstsein nicht mehr vorhanden ist, hört damit automatisch auch die Seele dieses Körpers auf zu existieren. Deshalb ist die menschliche Seele vergänglich. Dies ist aber für den Menschen keine Katastrophe, da er ja nicht nur eine Idee Gottes ist, sondern auch dieser Gott selbst!

    Auch die Natur sei beseelt. Von allen existierenden Dingen gebe es Ideen im göttlichen Verstand, sonst existierten sie nicht. Steine, Pflanzen, Tiere usw. hätten also Seelen. Jeder Gestalt im Attribut der Ausdehnung entspreche notwendig eine Idee im Attribut der Denkung. Und wegen der zwischen den Attributen bestehenden Synchronie, werden die Seelen mit Notwendigkeit alles widerspiegeln, was ihren Körpern passiert.

    Die Selbstbejahung der Idee des Körpers bzw. der Seele äußert sich in dem Streben, im Sein zu verharren. Dieses Streben nennt Spinoza Wille, wenn es sich nur auf die Seele bezieht, und Trieb, wenn es sich auf Seele und Körper gleichermaßen bezieht. Bewusster Trieb heißt Begierde und Begierde ist der erste Grundaffekt. (Statt Begierde kann man auch Bedürfnis sagen.)

    Jedes Wesen versucht also, sein Dasein zu behaupten und die damit verbundenen Bedürfnisse zu befriedigen. Gelingt dies, entsteht Freude, misslingt dies, entsteht Trauer. Von den beiden inneren Grundbefindlichkeiten Freude und Trauer leitet Spinoza alle weiteren Gefühle der Menschen ab.

    »Liebe ist Freude
    verbunden mit der Vorstellung
    einer äußeren Ursache.«
    Baruch de Spinoza


    Hass ist Trauer verbunden mit der Vorstellung einer äußeren Ursache.

    Alles menschliche Handeln sei in seiner konkreten Form notwendig. Spinoza bestreitet die Existenz von Willensfreiheit und echten Zufällen.

    Nach Spinoza gibt es keine allgemeingültigen Begriffe des Guten und des Bösen. Was die Selbstbehauptung des Einzelnen fördert, nennt der Betreffende »gut«, was die Selbstbehauptung hemmt, »schlecht«.

    Tugend sei nichts anderes, als sein Streben nach Selbsterhaltung durchzusetzen. Unbedingt aus Tugend handeln sei dasselbe, wie nach den Gesetzen der eigenen Natur handeln. Tugend sei dasselbe wie Macht. So viel Macht einer habe, so viel Recht habe er auch. Das natürliche Recht sei nichts anderes als die Naturgesetze.

    Spinoza war ein Vertreter des Rationalismus. Den Sinnen misstraute er.

    Für Spinoza gibt es drei Erkenntnisarten:

    • Die empirische Erkenntnis liefert uns verworrenes und ungeordnetes Material. Hier ist die Quelle von Irrtümern.
    • Die rationale Erkenntnis arbeitet folgernd mit Allgemeinbegriffen (wie bei Aristoteles).
    • Die intuitive Erkenntnis liefert uns Erkenntnisse in Bezug auf das Absolute, zum Beispiel über Gott als das alles Umfassende.

    Der Mensch sei von seiner Natur her ein Vernunftwesen. Seiner Natur nach handele der Mensch, wenn sein Streben nach Nutzen unter der Leitung der Vernunft geschehe. Und da die Vernunft nach Erkenntnis strebe, sei »Einsicht [...] die erste und einzige Grundlage der Tugend.«

    Der Mensch sei aber nicht nur ein Vernunftwesen, er werde stark bestimmt von Instinkten, Trieben, Leidenschaften. Ein Affekt könne nur gehemmt oder aufgehoben werden durch einen anderen Affekt, der entgegengesetzt und stärker sei.

    Jede einzelne Leidenschaft strebe nach vollendeter Befriedigung ohne Rücksicht auf andere Leidenschaften und die Interessen der Gesamtperson. In der Leidenschaft lebe der Mensch den Augenblick und denkt nicht an die Zukunft. Als Antrieb des Lebens brauchen wir den Trieb, die Vernunft muss aber die verschiedenen Triebe koordinieren. Die Leidenschaften sollten durch das Licht der Vernunft im Interesse der Gesamtperson geordnet und geführt werden.

    Die Vernunft kann aber noch mehr: Sie kann selbst zur Leidenschaft, sogar zur stärksten Leidenschaft werden!

    Die Vernunft kann die Leidenschaften überwinden, indem sie selbst zur Leidenschaft wird. Baruch de Spinoza



    Kant

    Der deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) ist für die Gegenwartsphilosophie der bedeutendste Philosoph überhaupt. Seine Schriften hatten eine gewaltige Wirkung auf die weitere Philosophiegeschichte. Die Auseinandersetzung mit seinen Positionen ist ein bedeutender Teil der heutigen Philosophie. Wer sich mit Gegenwartsphilosophie beschäftigen will, der kommt an Kant nicht vorbei. Ob er ihm zustimmt oder nicht bzw. wo er ihm zustimmt und wo nicht, das ist eine andere Frage.

    »Das Feld der Philosophie lässt sich auf
    folgende Fragen bringen:
    Was kann ich wissen?
    Was soll ich tun?
    Was darf ich hoffen?
    Was ist der Mensch?«
    Immanuel Kant

    Kant war Professor in seiner Heimat- und Wirkungsstadt Königsberg, in Ostpreußen. Diese Stadt gehörte bis zum 2. Weltkrieg zu Deutschland. Heute gehört sie zu Russland und heißt Kaliningrad. Kant wuchs unter pietistischem Einfluss auf. Der Pietismus war eine besonders fromme und strenge Strömung innerhalb des Protestantismus, das heißt, der evangelischen Variante des Christentums. Das Pflichtbewusstsein hatte hier eine große Bedeutung.

    Mit seinem Hauptwerk, der Kritik der reinen Vernunft, wollte Kant eine kopernikanische Wende in der Philosophie herbeiführen.

    In der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft schrieb Kant, was er unter dieser »Kopernikanischen Wende« versteht:

    Es ist hiermit ebenso, als mit den ersten Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ. In der Metaphysik kann man nun, was die Anschauung der Gegenstände betrifft, es auf ähnliche Weise versuchen. Wenn die Anschauung sich nach der Beschaffenheit der Gegenstände richten müsste, so sehe ich nicht ein, wie man a priori von ihr etwas wissen könne; richtet sich aber der Gegenstand (als Objekt der Sinne) nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens, so kann ich mir diese Möglichkeit ganz wohl vorstellen.

    Kant kritisierte den nach seiner Auffassung naiven Glauben sowohl des Rationalismus wie des Empirismus an der Objektivität der Erkenntnisse. Seine Transzendentalphilosophie beschäftigt sich nicht mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart der Gegenstände. Vor aller Erfahrung, apriorisch, lägen in unserem Verstand Formen, Kategorien etc., nach denen wir das Objektive erfahren und ordnen würden. Alles objektive sei subjektiv geformt. Hinter der Welt unserer Erfahrung läge eine Welt der Dinge an sich, über die wir nichts wissen könnten. Raum und Zeit würden vom Menschen in die Welt hineingetragen, existierten also unabhängig von uns nicht. Ebenso verhielte es sich mit den Naturgesetzen. In dieser Schrift kommt Kant zu der Auffassung, dass Metaphysik als Wissenschaft unmöglich sei, da Gott und Seele außerhalb unserer Erfahrung lägen.

    (Die Kürze der Darstellung dieses bedeutenden Philosophen liegt daran, dass in den bisherigen Kapiteln schon viel über ihn gesagt wurde. Das alles hier zu wiederholen, wäre unsinnig.)

    »Habe Mut, frei zu sein
    und dich deines eigenen
    Verstandes zu bedienen.«
    Immanuel Kant



    Hegel

    Der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) ist bekannt und umstritten besonders wegen der von ihm zwar nicht begründeten, aber ausgebauten Dialektik und wegen seiner teleologischen Geschichtsauffassung. Seine Schriften hatten eine gewaltige Wirkung auf die weitere Philosophiegeschichte.

    Hegel ist der am häufigsten sowohl hoch verehrte, wie schroff abgelehnte Philosoph überhaupt.


    Er vertrat nach eigenen Angaben einen Absoluten Idealismus, in dem subjektiver und objektiver Idealismus aufgehoben seien. Da bei ihm dialektisch der subjektive Geist und der Weltgeist bzw. Gott sowohl identisch, wie nicht identisch sind.

    Das Wahre ist das Ganze

    Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Hegel

    Die einzelnen Gegenstände sind nur Momente am Ganzen und für sich allein betrachtet unwahr. Die Antithese ist in der These enthalten, weil beide Begriffe qualitativ auf ein höheres Gemeinsames bezogen sind. Man braucht den Durchgang durch das andere, weil alles Einzelne nur erkannt wird aus seiner Verwobenheit in das Ganze. Das Einzelne existiert nur, weil auch das Andere existiert und alles zusammen das Ganze bildet.

    »Wie alles sich zum Ganzen webt,
    Eins in dem andern wirkt und lebt!«
    Johann Wolfgang von Goethe


    In der hegelschen Philosophie ist die Dialektik nicht nur die Art, wie wir denken, sondern die Dialektik ist die Form, in der das Sein sich entwickelt.

    »Ein sehr tiefgründiger,
    doch etwas phantasiereicher
    Erforscher der Bewegungsgesetze
    der Menschheit.«
    Karl Marx über Hegel


    Diese Entwicklung vollzieht sich nach Hegel immer in einem Dreischritt:

    These – Antithese – Synthese.

    Selbstentfaltung des Weltgeistes

    Die Weltgeschichte ist nach Hegel die Selbstentfaltung des Weltgeistes. Hegels Idealismus ist eine Philosophie des Werdens. Das Absolute sei Resultat von Entwicklung, also Bewegung. Es sei erst am Ende das, was es in Wahrheit ist.

    Aufgabe der Philosophie sei es, die Selbstentfaltung des Geistes denkend zu betrachten. Dabei erkenne aber nicht nur der Philosoph den Weltgeist in seiner Entwicklung, der Weltgeist selbst sei es, der im Philosophen denkt.


    Im ersten Stadium befände sich der Geist im Zustand des »An-sich-Seins«. Diesen Zustand beschreibt Hegel in der Philosophie der Logik.

    Im zweiten Stadium befände sich der Geist im Zustand des »Anders-Seins«. Der Geist entäußere sich in die Form der an Raum und Zeit gebundenen Natur. Er habe sich ins Materielle entfremdet, sein Selbstbewusstsein verloren. Dieses Stadium beschreibt Hegel in der Philosophie der Natur.

    Erstaunlich ist die Ähnlichkeit zur Urknalltheorie, die erst lange nach Hegels Wirken aufgestellt wurde. Nach dieser Theorie ist in einem Urknall das Universum und damit erst Materie, Raum und Zeit entstanden.


    Im dritten Stadium kehre der Geist zu sich selbst zurück. Im einzelnen Menschen, noch nicht im Tier, beginne der Geist sich seiner selbst bewusst zu werden.

    Der Mensch weiß von Gott in dem Sinne, dass Gott im Menschen von sich selber weiß.

    Über den Subjektiven Geist des Menschen und den Objektiven Geist der menschlichen Gesellschaft (was bei Hegel bedeutet: Familie, Gesellschaftssystem und Staat) entwickle sich der Geist zum Absoluten Geist (was bei Hegel bedeutet: Kunst, Religion und Philosophie). An der Spitze steht nach Hegel die hegelsche Philosophie. In ihr hat sich nach Hegel der Weltgeist zum ersten Mal voll und ganz wiedergefunden.

    Hegel war der Überzeugung, dass seine Philosophie die höchste Existenzstufe des absoluten Geistes sei.


    »Es gibt kein großes Genie
    ohne einen Schuss Verrücktheit.«
    Aristoteles


    Die Auffassung, Gott, Welt, Menschen und alles weitere seien letztendlich dasselbe, nennt man Pantheismus. Hegel hat sich vom Pantheismus abgegrenzt, war aber nach Auffassung vieler Kenner seiner Philosophie ein pantheistischer Philosoph wie Spinoza. So sagte Hegel auch über die philosophischen Systeme vor ihm, die Philosophie Spinozas könne als einzige als wahr bezeichnet werden.

    Hegel, ein platter, geistloser, ekelhaft-widerlicher, unwissender Scharlatan, der, mit beispielloser Frechheit, Aberwitz und Unsinn zusammenschmierte, welche von seinen feilen Anhängern als unsterbliche Weisheit ausposaunt und von Dummköpfen richtig dafür genommen wurden [...] hat den Verderb einer ganzen gelehrten Generation zur Folge. Arthur Schopenhauer

    Geschichtsphilosophie

    Die Geschichte der Menschheit ist für Hegel ein Teil der Weltgeschichte, die Entfaltung des Objektiven Geistes. Geschichte ist für Hegel politische Geschichte.

    Sinn und Wert habe das Dasein des Einzelnen nur in seiner Ein- und Unterordnung unter die geschichtlichen Mächte, besonders dem Staat. Nicht der Einzelne handle, sondern der Weltgeist handle durch den Einzelnen und zwar häufig wider dessen Absichten und Zielen. Es gebe eine »List der Vernunft«, die bewirke, dass der Einzelne das im jeweiligen Entwicklungsstadium geschichtlich Notwendige tue.

    Die großen geschichtlichen Persönlichkeiten sind »Werkzeuge des Weltgeistes«.


    Individuen, Völker, Epochen seien notwendige Durchgangsstadien im großen welthistorischen Prozess. Sie hätten Sinn und Wert nur bezogen auf das Ziel der Geschichte.

    Marx war ursprünglich ein Hegelianer und den Marxismus hätte es ohne die hegelsche Philosophie wahrscheinlich nicht gegeben. (Die regierenden »Marxisten« des 20. Jahrhunderts waren in der Staatsfrage viel stärker Hegelianer, als sie Marxisten waren!)

    Hegel hatte die These, die Antithese und die Synthese. Was fehlte, war die Hypothese. Seine Philosophie ist nämlich nicht mehr – aber auch nicht weniger! – als eine interessante philosophische Hypothese.



    Schopenhauer

    Der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer (1788–1860) war der erste Philosoph, der in aller Konsequenz den Kern des Seins nicht in der Vernunft, sondern im Willen sah, in einem irrationalen Weltwillen.

    Ursprünglich war Schopenhauer ein Schüler Kants. Daneben gab es Einflüsse von Platon und besonders von der indischen Philosophie, dem Brahmanismus und Buddhismus, die zu seinen Lebzeiten den Europäern nach und nach bekannt wurden.

    »Ein unaufhörliches Entzücken
    über Schopenhauer – eine
    Reihe von geistigen Genüssen,
    wie ich sie nie gekostet habe.
    Ich bin überzeugt, dass
    Schopenhauer der
    genialste Mensch ist.«
    Leo Tolstoi (1828–1910)
    Russischer Schriftsteller


    Schopenhauer wusste um seine Bedeutung in der Philosophie und war nicht gerade bescheiden.

    Ein Denkmal wird die Nachwelt mir errichten.


    Die Welt ist meine Vorstellung.

    Mit diesem Satz beginnt Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung. Wenn irgendeine Wahrheit a priori ausgesprochen werden könne, so sei es diese.

    Allerdings die Welt nur als Vorstellung zu sehen, das wollte Schopenhauer nicht. Solipsisten gehörten ins Tollhaus.

    Metaphysik sei möglich, weil sie empirisch begründbar sei. Dazu müsse man nur innere und äußere Erfahrung am richtigen Punkt verbinden.

    Dann würden wir sehen, dass die Welt außer Vorstellung auch Wille sei. Wir erlebten unseren Leib unmittelbar als Vorstellung und als Wille.

    Der Leib ist der in Raum und Zeit objektivierte Wille.

    Diese Erkenntnis sei die unmittelbarste, sie ist die eigentliche philosophische Wahrheit.

    Das Wesen des Menschen liege nicht in Denken, Bewusstsein, Vernunft, wie die idealistischen Philosophen vor Schopenhauer behauptet hatten. Unsere bewussten Gedanken seien nur die Oberfläche. Der Intellekt sei ein Diener des Willens.

    Aber nicht nur der Mensch sei seinem Wesen nach Wille.

    Der Wille ist das Wesen der Welt.

    Alle uns in Raum und Zeit umgebenden Erscheinungen seien Objektivationen eines blinden Weltwillens.

    »Der Irrtum der Kirchenväter,
    Gott sei die Weisheit,
    hat gar manchen Anstoß gegeben:
    Denn Gott ist die Leidenschaft.«
    Bettina von Arnim (1785–1859)
    Deutsche Schriftstellerin


    Während die Idealisten das Letzte und Absolute im Geist, in der Idee, in der Vernunft sehen, die sich in der Welt entfalte, ist für Schopenhauer das Letzte und Absolute der blinde Wille, ist Vernunft lediglich der Diener des irrationalen Weltwillens. Hier liegt die theoretische Begründung des Pessimismus.

    »Pessimismus mit der erklärten
    Richtung auf Keimzerstörung.
    Und in der Richtung auf
    Keimzerstörung gipfelt er
    dann in Schopenhauer.«
    Gottfried Benn (1886–1956)
    Deutscher Dichter


    Das kantische »Ding an sich« sei der Wille. Die »platonischen Ideen« seien die ewigen Urbilder, in denen der unendliche Wille in Erscheinung trete.

    In meinem 17ten Jahre, ohne alle gelehrte Schulbildung, wurde ich vom Jammer des Lebens so ergriffen wie Buddha in seiner Jugend, als er Krankheit, Alter, Schmerz und Tod erblickte. Die Wahrheit, welche laut und deutlich aus der Welt sprach, überwand bald auch die mir eingeprägten jüdischen Dogmen, und mein Resultat war, dass diese Welt kein Werk eines allgütigen Wesens sein könnte, wohl aber das eines Teufels, der Geschöpfe ins Dasein gerufen, um am Anblick ihrer Qual sich zu weiden; darauf deuteten die Data, und der Glaube, dass es so sei, gewann die Oberhand. Arthur Schopenhauer

    Das Leben sei nicht lebenswert. Not sei die beständige Geisel des größten Teils der Menschheit. In letzter Instanz sei jeder allein. Fressen und Gefressenwerden sei das Gesetz der Natur. Unser Leben eile unaufhaltsam dem Tode entgegen.

    Eine Philosophie, in der man zwischen den Seiten nicht die Tränen, das Heulen und Zähneklappern und das furchtbare Getöse des gegenseitigen allgemeinen Mordens hört, ist keine Philosophie. Arthur Schopenhauer

    Erkenntnis sei keine Erlösung. Je höher die Erscheinungsform des Lebens sei, umso größer und offenbarer sei das Leid, umso größer sei die Empfindsamkeit.

    Das Genie leidet am meisten.

    Ästhetik könne eine partielle Erlösung sein. Kunst sei die Betrachtung der Dinge losgelöst von Kausalität und Willen. Genialität sei vollkommenste Objektivität. In der Betrachtung der Kunst könnten wir uns dem Sklavendienst des Willens entziehen.

    Unter den verschiedenen Kunstarten nehme die Musik eine besondere Rolle ein. Sie sei das unmittelbare Abbild des Willens selbst und damit des Wesens der Welt.

    Ethik könne eine partielle Erlösung sein durch Verneinung des Willens. Wünschen und Trieben hingegeben würden wir nie Glück und Ruhe finden. Askese als vorsätzliche Brechung des Willens sei der Weg der Erlösung.

    Hegel und Schopenhauer

    Hegel und Schopenhauer haben voneinander nicht viel gehalten. Später haben viele Philosophen versucht, aus der Philosophie Hegels und der Philosophie Schopenhauers eine Synthese zu ziehen.


    Man kann ganz unmetaphysisch den Weltwillen Schopenhauers mit der im Sein vorhandenen Energie gleichsetzen und die Weltvernunft Hegels mit der Gesamtheit aller im Sein vorhandenen Naturgesetze (der uns bekannten und der uns nicht bekannten) und der mathematisch/logisch/dialektischen Gesetze und Beziehungen. Der Weltwille und die Weltvernunft befinden sich im ewigen Kampf miteinander. Wie im Einzelmenschen Trieb und Vernunft. Im Menschen kann sich dieser Kampf seiner selbst bewusst werden und kann bewusst gesteuert und beeinflusst werden.


    Nietzsche

    Der deutsche Philosoph Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844–1900) wurde als Sohn eines Pfarrers in Röcken (damals Preußen, heute Sachsen-Anhalt) geboren, wuchs in rein weiblicher Gemeinschaft auf und wurde im Geiste protestantischer Frömmigkeit erzogen. Er studierte klassische Philologie und liebte das griechische Altertum. Bereits mit 24 wurde er 1868 Professor in Basel, musste aber bereits mit 35, 1877, krankheitshalber in Pension gehen. 1889 fiel er in geistige Umnachtung. Viele Autoren und Philosophie-Professoren gehen aber davon aus, dass die Geisteskrankheit schon viel früher bei ihm auftrat und dass seine – besonders späte – Philosophie sogar zu großen Teilen das Produkt seines psychopathischen Innenlebens war.

    Ursprünglich Schüler Schopenhauers kam Nietzsche später zu vielfach entgegengesetzten Ansichten. Gemeinsam mit Schopenhauer ist ihm, dass auch seine Philosophie eine Philosophie des Willens ist. Der einzige Philosoph, mit dem er sich später verbunden sah, war Heraklit. Alle Philosophie danach war für Nietzsche ein Irrweg.

    Glück, Wohlfahrt, Mitleid etc. waren für Nietzsche pöbelhafte Instinkte und Naivitäten. Sehr häufig grenzt er sich vom Eudämonismus der englischen Utilitaristen, von Sozialismus und Altruismus ab. Besonders greift er das Christentum und dessen Forderung der Nächstenliebe an und propagierte die Mitleidlosigkeit. Nietzsche wollte nicht das Leid abschaffen, im Gegenteil: Er wollte es »schlimmer haben, als je es war«, da nur Leid eine Erhöhung der Menschen herbeiführen würde.

    Der Nietzsche der frühen und mittleren Schaffensperiode war ein vielfach skeptizistischer und aufklärerischer Schriftsteller, Philosoph und Psychologe, der auf Widersprüchlichkeiten und Scheinheiligkeiten in vorhandenen Weltbildern und Verhaltensweisen hinwies und in dessen Aphorismen man viele interessante Einsichten findet. Aber auch zu dieser Zeit klingen reaktionär-faschistische Gedanken mit an. Der Nietzsche der späten Schaffensperiode entwickelte sich dann zu einem geistigen Wegbereiter des Faschismus und der Menschenvernichtung.

    Die Größe eines »Fortschritts« bemisst sich sogar nach der Masse dessen, was ihm Alles geopfert werden musste; die Menschheit als Masse dem Gedeihen einer einzelnen stärkeren Spezies Mensch geopfert – das wäre ein Fortschritt. Friedrich Nietzsche

    Im Willen zur Macht findet Nietzsche ein letztes Prinzip aller Wertungen. Aber Macht wofür? Nietzsche spricht von der »Unschuld des Werdens«, das eigentlich Wertvolle scheint ihm das nackte Dasein, das Werden an sich zu sein.

    Um einen Eindruck von Nietzsches Sprachgewalt zu bekommen, hier der Schlussaphorismus des fragmentarischen Werks Der Wille zur Macht.

    Und wisst ihr auch, was mir »die Welt« ist? Soll ich sie Euch in meinem Spiegel zeigen? Diese Welt: Ein Ungeheuer an Kraft, welche nicht größer, nicht kleiner wird, die sich nicht verbraucht, sondern nur verwandelt, als Ganzes unveränderlich groß, ein Haushalt ohne Ausgaben und Einbußen, aber ebenso ohne Zuwachs, ohne Einnahmen, vom »Nichts« umschlossen als von seiner Grenze, nichts Verschwimmendes, nichts Unendlich-Ausgedehntes, sondern als bestimmte Kraft einem bestimmten Raum eingelegt, und nicht einem Raume, der irgendwo »leer« wäre, vielmehr als Kraft überall, als Spiel von Kräften und Kraftwellen zugleich eins und vieles, hier sich häufend und zugleich dort sich mindernd, ein Meer in sich selber stürmender und flutender Kräfte, ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend, mit ungeheuren Jahren der Wiederkehr, mit einer Ebbe und Flut seiner Gestaltungen, aus den einfachsten in die vielfältigsten hinaustreibend, aus dem Stillsten, Starrsten, Kältesten hinaus in das Glühendste, Wildeste, Sich-selber-Widersprechendste, und dann wieder aus der Fülle heimkehrend zum Einfachen, aus dem Spiel der Widersprüche zurück bis zur Lust des Einklangs, sich selber bejahend noch in dieser Gleichheit seiner Bahnen und Jahre, sich selber segnend als das, was ewig wiederkommen muss, als ein Werden, das kein Sattwerden, keinen Überdruss, keine Müdigkeit kennt: diese meine dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens, diese Geheimniswelt der doppelten Wollüste, dies mein »Jenseits von Gut und Böse«, ohne Ziel, wenn nicht im Glück des Kreises ein Ziel liegt, ohne Willen, wenn nicht ein Ring zu sich selber guten Willen hat –, wollt ihr einen Namen für diese Welt? Eine Lösung für alle ihre Rätsel? Ein Licht für euch, ihr Verborgensten, Stärksten, Unerschrockensten, Mitternächtlichsten? – Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!


    »Bei keinem Philosophen
    ist die Gefahr so groß,
    dass der Leser sich von
    der Sprachmusik berauschen
    lässt und sich mit großen
    Worten zufrieden gibt.
    Was man da für Tiefe hält,
    ist oft genug nur Stimmung
    und Affekt, die zu suggerieren
    Nietzsche ein Meister ist.«
    Johannes Hirschberger (1900–1990)
    Deutscher Philosophiehistoriker


    In einem begrenzten Raum mit einer begrenzten Menge Materie bzw. Kraft muss, wenn die Zeit ewig, ohne Anfang und Ende ist, jede mögliche Kombination schon einmal erreicht gewesen sein – viel mehr, jede mögliche Kombination war schon unendlich oft erreicht und wird noch unendlich oft erreicht werden. Das nennt Nietzsche die »ewige Wiederkehr«.

    »Ich bin zu dem Schluss gekommen,
    dass Nietzsche höchstwahrscheinlich
    ein bedeutenderer Denker ist als Marx.«
    Max Horkheimer


    Nach Nietzsche gibt es zwei Kräfte im Sein: Der gestaltlose Urwille ist das Dionysische in der Welt. Benannt nach Dionysos, dem griechischen Gott des Weines und der Ekstase. Am ehesten mit dem Rausch vergleichbar. Die Kraft des Maßes und der Harmonie (ganz entfernt so etwas wie ein bisschen Vernunft) ist das Apollinische in der Welt. Benannt nach Apollon, dem griechischen Gott des Lichts, der Künste und der Mäßigung.

    Nietzsche liebte die Musik und war ursprünglich ein leidenschaftlicher Verehrer Wagners. Wie Schopenhauer sah auch er die Musik als unmittelbares Abbild des Weltwillens. Später warf Nietzsche Wagner vor, er sei mit seiner Oper Parsifal vor den lebensverneinenden Idealen des Christentums zu Kreuze gekrochen.

    Nietzsches Begeisterung für die Tragödie ging so weit, dass er sich das Leben, die Weltgeschichte als große Tragödie dachte und wünschte.

    Nietzsche war kein Antisemit, wie aus vielen seiner Äußerungen hervorgeht, obwohl er viele Vorurteile gegen die Juden, die zu seiner Zeit große Verbreitung hatten, geteilt hat. Insbesondere machte er das Judentum, besonders deren Propheten, für das von ihm heftig bekämpfte Christentum (mit)verantwortlich. Man könnte Nietzsche »anti-jüdisch« und »anti-antisemitisch« nennen. Aber das ist nur ein weiterer Aspekt der Widersprüchlichkeit Nietzsches.

    Nietzsches Philosophie ist ein achtfaches Anti-: antimoralisch, antidemokratisch, antisozialistisch, antifeministisch, antiintellektualistisch, antipessimistisch, antichristlich und antimetaphysisch.

    Was ist gut? – Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht. / Was ist schlecht? – Alles, was aus der Schwäche stammt. / Was ist Glück? – Das Gefühl davon, dass die Macht wächst, dass ein Widerstand überwunden wird. / Nicht Zufriedenheit, sondern mehr Macht; nicht Friede überhaupt, sondern Krieg; nicht Tugend, sondern Tüchtigkeit (Tugend im Renaissance-Stile, virtù, moralinfreie Tugend) / Die Schwachen und Missratenen sollen zu Grunde gehen: erster Satz unsrer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen. / Was ist schädlicher als irgendein Laster? – Das Mitleiden der Tat mit allen Missratenen und Schwachen – das Christentum. Nietzsche, Antichrist, 2. Kapitel

    Nietzsches Lehre vom Übermenschen: Die eigentlichen Philosophen sind Befehlshaber, sie bestimmen das Wohin und Wozu. Der freie Mensch ist ein Krieger. Tot sind alle Götter. Nun soll der Übermensch leben.

    Seht, ich lehre euch den Übermenschen! Der Übermensch ist der Sinn der Erde. [...] Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht. Verächter des Lebens sind es, Absterbende und selber Vergiftete, deren die Erde müde ist: So mögen sie dahinfahren! [...] Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch – ein Seil über einem Abgrunde. Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-dem-Wege, ein gefährliches Zurückblicken, ein gefährliches Schaudern und Stehenbleiben. Was groß ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist: Was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und ein Untergang ist. Ich liebe die, welche nicht zu leben wissen, es sei denn als Untergehende, denn es sind die Hinübergehenden. Ich liebe die großen Verachtenden, weil sie die großen Verehrenden sind und Pfeile der Sehnsucht nach dem andern Ufer. Ich liebe die, welche nicht erst hinter den Sternen einen Grund suchen, unterzugehen und Opfer zu sein: sondern die sich der Erde opfern, dass die Erde einst der Übermenschen werde. Nietzsche, Also sprach Zarathustra


    (Das hat man vielleicht wortwörtlich auf den Appellplätzen der Großdeutschen Wehrmacht und der SS vorgelesen!)

    Ich verachte Nietzsche, weil er die Meditation über Schmerz liebt, weil er Dünkel zur Pflicht erhebt, weil die Männer, die er am meisten bewundert, Eroberer sind, deren Ruhm darin besteht, dass sie so gerissen sind, Männer in den Tod zu treiben. Bertrand Russell

    Ob Nietzsche die Nazis unterstützt hätte, ist hypothetisch. Viele seiner Äußerungen, besonders aus seinen Spätwerken, waren faschistoid, ohne in allen Punkten mit der Nazi-Ideologie identisch zu sein. Ähnlich war es später bei dem deutschen reaktionären Schriftsteller Oswald Spengler.

    Karl Jaspers schreibt über Nietzsche sinngemäß:

    Bei Nietzsche findet man alsbald das Gegenteil des irgendwo Gesagten und findet nicht die Entscheidung. Sätze erstaunlicher Tiefe und Weite stehen neben solchen erstaunlicher Plattheit. Neben großartigen soziologischen Einsichten findet man Urteile, die alle realen Faktoren übersehen, und Bausch-und-Bogen-Urteile, die nur noch durch Ausdruckskraft bezaubern.

    Einige Analphabeten der Nazis, die wohl deshalb unter die Hitler'schen Schriftgelehrten aufgenommen worden sind, weil sie einmal einem politischen Gegner mit dem Telefonbuch auf den Kopf gehauen haben, nehmen Nietzsche heute als den Ihren in Anspruch. Wer kann ihn nicht in Anspruch nehmen! Sage mir, was Sie brauchst, und ich will dir dafür ein Nietzsche-Zitat besorgen. Kurt Tucholsky


    Heidegger

    Der deutsche Philosoph Martin Heidegger (1889–1976) war einer der bedeutendsten, meistdiskutierten Philosophen des 20. Jahrhunderts, und in der Bundesrepublik Deutschland war er in den ersten Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg über die von ihm beeinflussten Professoren, Gymnasiallehrer etc. wohl der bedeutendste Philosoph überhaupt, was bis in die Gegenwart nachwirkt.

    Heidegger war anfänglich Student der katholischen Theologie. Dann wandte er sich der Philosophie zu und wurde stark von der Phänomenologie Husserls beeinflusst, dessen Assistent er zeitweilig war. Er brachte sein Leben größtenteils im Schwarzwald zu. Am Hang des Feldbergs besaß er eine kärgliche Hütte, in der er sich gerne aufhielt. Diese drei Punkte machen viele seiner späteren philosophischen Auffassungen verständlicher.

    Heidegger war ein führender Vertreter der deutschen Existenzphilosophie. (Er selbst lehnte diesen Begriff für seine Philosophie allerdings ab.) In seinem Hauptwerk Sein und Zeit fragt er nach dem »Sinn des Seins« und wendet diese Frage so, dass sie zur Frage nach dem menschlichen »Dasein« wird, das von allem sonstigen Seienden unterschieden wird.

    Heidegger wendet die von Husserl entwickelte phänomenologische Methode an, die durch die Losung »Zu den Sachen selbst!« gekennzeichnet ist. Man solle sich nicht durch bereits vorhandene Begriffe, Interpretationen, Lehren früherer Philosophen etc. den Blick auf das versperren lassen, was sich aus Sicht des Individuums unmittelbar ereigne bzw. ihm unmittelbar gegeben sei.

    Das Sein des Menschen nennt Heidegger Dasein. Die Untersuchung dieses Daseins nennt er »Fundamentalontologie«.

    Da Heidegger das Dasein der Menschen untersucht, nennt er seine Grundbegriffe nicht Kategorien, sondern »Existenzialien«, von denen die »Angst« vor dem »In-der-Welt-Sein« eine der wichtigsten ist.

    Heidegger kritisiert, dass in der rationalistischen Philosophie, die grundlegende sinnliche Erfahrung zu Gunsten des rationalen Denkens abgewertet werde. (Anders ausgedrückt: Die Empirie soll gegenüber der Ratio wieder ein stärkeres Gewicht bekommen.)

    Heidegger unterscheidet zwischen Sein und Seiendem. Das Sein sei der Quellgrund alles Seienden. Den Unterschied zwischen allem Seienden und dem Sein nennt Heidegger die »ontologische Differenz«.

    »Doch das Sein – was ist das Sein?
    Es ist es selbst.
    Dies zu erfahren und zu sagen,
    muss das zukünftige Denken lernen.«
    Martin Heidegger


    Dass immer nur nach Seiendem und nicht nach dem Sein gefragt würde, bezeichnet Heidegger als »Seinsvergessenheit«.

    Die abendländische Metaphysik ist seinem Wesen nach Nihilismus, so Heidegger, da das Sein am Seienden nicht beachtet wurde, »mit dem Sein selbst nichts ist«.

    Die große Rolle, die der Mensch in Heideggers Philosophie spielt, kommt in einem seiner zentralen Sätze zum Vorschein:

    Der Mensch ist der Hirte des Seins.

    Heidegger nimmt in gewisser Weise den »linguistic turn« vorweg: »Das Wort verschafft dem Ding erst das Sein.« »So ist denn das Sprechen nicht zugleich, sondern zuvor ein Hören.« Der Mensch habe die Sprache dem Sein abgelauscht.

    Der späte Heidegger wollte, dass der Mensch als wollendes, aktiv-tätiges Subjekt abgelöst wird durch ein passiv-hörendes, sich zurücknehmendes Wesen, das sich auf das beschränkt, was das Sein (oder eben Gott) ihm zuteilwerden lässt.

    Die Philosophie wird keine unmittelbare Veränderung des jetzigen Weltzustandes bewirken können. Dies gilt nicht nur von der Philosophie, sondern von allem bloß menschlichen Sinnen und Trachten. Nur noch ein Gott kann uns retten. Uns bleibt die einzige Möglichkeit, im Denken und im Dichten eine Bereitschaft vorzubereiten für die Erscheinung des Gottes oder für die Abwesenheit des Gottes im Untergang. Martin Heidegger

    Wegen seiner kritischen Haltung zur Technik wird Heidegger auch mitunter als früher Grüner bezeichnet.


    Russell

    Bertrand Russell (1872–1970) war ein britischer Philosoph, Mathematiker, Logiker, Schriftsteller, Sozialist und Pazifist. Er war Professor, Dozent u. ä. an vielen Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen, besonders in Großbritannien und den USA. Sein bekanntester Schüler und zeitweiliger wissenschaftlich-philosophischer Wegbegleiter war Ludwig Wittgenstein.

    Die Russells waren über Jahrhunderte hinweg eine der führenden liberalen Familien Großbritanniens. Russells Taufpate war John Stuart Mill. Seine Eltern starben früh, kurz darauf sein Großvater (ehemals liberaler Premierminister). Russell kam in die Obhut seiner religiösen Großmutter. Seine Kindheit und Jugendzeit war durch Einsamkeit geprägt. Oft dachte er daran, sich das Leben zu nehmen.

    Neben seinen sehr umfangreichen wissenschaftlich-philosophischen Arbeiten war Russell ein politisch und gesellschaftlich sehr interessierter und aktiver Mensch. Seine umfangreichen Aktivitäten brachten ihm viele Verehrer, aber auch viele Feinde. Unter anderem kämpfte er gegen die Beteiligung Englands am 1. Weltkrieg, für die Emanzipation der Frau, für freie Sexualität, für die Tolerierung der Homosexualität, für die Verbesserung der Lebensverhältnisse der nichtprivilegierten Mehrheit der Bevölkerung, gegen das Christentum, den Vietnam-Krieg und Weiteres mehr. Er verfasste zusammen mit seinem Freund Einstein das Einstein-Russell-Manifest gegen das Wettrüsten. Mit der Pugwash-Bewegung initiierte er eine Art Gelehrtenkonferenz. Er unterstützte mit seinem ererbten Vermögen Notleidende, Verfolgte und politische Organisationen, bis er verarmt nur noch von seiner Schriftstellerei lebte. Mehrere Male verlor er wegen seiner Aktivitäten und Gesinnungen seine Stellung als Hochschullehrer. Wegen seines Pazifismus war er während des 1. Weltkrieges sechs Monate inhaftiert.

    Aufgabe der Philosophie ist es, mit etwas zu beginnen, das so einfach ist, dass man es nicht für wert hält, es zu bemerken, und dann zu etwas zu kommen, das so paradox ist, dass keiner es glauben will. Bertrand Russell

    Russell schrieb über 70 Bücher und Hunderte von Aufsätzen zur Mathematik, Philosophie, Politik, Pädagogik, Gesellschaft etc., darunter sehr komplizierte, nur Fachleuten verständliche, aber auch viele populärwissenschaftliche, in denen er Laien mit der Philosophie und den modernen wissenschaftlichen Theorien vertraut machte. Spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts war Russell einer der bekanntesten intellektuellen Außenseiter und weltweit auf Vortragsreisen unterwegs. Im Jahr 1950 erhielt er den Nobelpreis für Literatur.

    Philosophie solle in einer zusammenfassenden Erklärung der Welt der Wissenschaften und des Alltagslebens bestehen. Die Wirklichkeit sei etwas sehr Kompliziertes, Zusammengesetztes und könne nur durch die Zerlegung in Grundbestandteile erkannt werden. Russell nannte seine Methode »Logischen Atomismus«. Nach seinen Worten ist »Philosophie, besondere logische Analyse gefolgt von logischer Synthese«. Mit der Auffassung nur in Empirie und Logik gebe es Gewissheit, wurde Russell zum Begründer des logischen Empirismus bzw. der Analytischen Philosophie. (Er unterschied sich aber in vielen Punkten von vielen späteren Vertretern dieser philosophischen Richtung.) Seine philosophisch-erkenntnistheoretische Position wird auch als Szientismus bezeichnet bzw. kritisiert.


    Russell schrieb zu Beginn seiner Autobiographie:

    Drei einfache, doch übermenschliche Leidenschaften haben mein Leben bestimmt: das Verlangen nach Liebe, der Drang nach Erkenntnis und ein unerträgliches Mitgefühl für die Leiden der Menschheit.

    Russell hat im Laufe seines langen Forscherlebens seine Auffassungen mehrfach revidiert und erweitert. Womit er demonstrierte, dass er kein Dogmatiker ist. Bei der Darstellung seiner Positionen beschränke ich mich auf das Wichtigste.

    Russell beschäftigte sich mit den Grundlagen der Mathematik und schrieb zusammen mit Whitehead die Principia Mathematica, ein sehr schweres dreibändiges Werk, das man als das Grundbuch der modernen Mathematik bezeichnen kann. Russell und Whitehead bemühten sich in dieser Schrift darum, eine nur mengentheoretische Axiomatisierung der Mathematik zu entwickeln, eine formallogische Beschreibung ihrer Vorgehensweisen zu betreiben und aufzuzeigen, dass sich die Mathematik aus der Logik herleiten lasse.

    Russell wurde so (neben Frege) zum Hauptvertreter des Logizismus, nach dem alle mathematischen Probleme auf logische reduzierbar seien. Mathematik sei ihrem Wesen nach Logik. Im weiteren Verlauf der Entwicklung des Logizismus zeigte sich dann aber, dass für den deduktiven Aufbau der Mathematik Axiome nötig waren, die von ihrem Wesen her nicht nur logisch waren.

    Im Verlaufe seiner mengentheoretischen Überlegungen entdeckte Russell das nach ihm benannte Russell-Paradoxon: Die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten, enthält sowohl sich selbst als auch sich selbst nicht.

    Der Barbier eines kleinen Ortes rasiert nur die Männer, die sich nicht selbst rasieren. Er rasiert sich selbst. Dadurch gehört er zu denen, die sich selbst rasieren, und zu denen, die sich nicht selbst rasieren.


    Um dieses Paradoxon zu umgehen, entwickelte Russell eine Typentheorie, eine Hierarchie der Mengen. Nach dieser Theorie dürfen Mengen keine Glieder enthalten, die nur in Bezug auf diese Menge definierbar sind.

    Nach dem Abwenden vom Idealismus, dem Russell ganz zu Beginn seiner geistigen Tätigkeiten angehangen hatte, begründete er zusammen mit seinem Kommilitonen Moore den Neurealismus, nach dem die Dinge, ihre Eigenschaften und ihre Relationen zueinander bewusstseinsunabhängige Tatsachen sind. Später vertrat Russell einen neutralen Monismus. Es gebe keine zwingenden Gründe, Bewusstseinsinhalte und Dinge etc. voneinander zu trennen.

    Die Wirklichkeit könne (analytisch) in ihre atomaren Einzelheiten zerlegt werden. Das nennt Russell »Logischen Atomismus«. Zu jeder dieser atomaren Einzelheiten könne dann ein wahrer atomarer Satz gebildet werden. Die Umgangssprache sei dazu aber zu ungenau. Deshalb müsse für die richtige Beschreibung der Welt eine Idealsprache gebildet werden. Als Russell diese Position vertrat, gab es bei ihm keinerlei Erkenntnispessimismus, sondern radikalen Empirismus. Zwischen atomaren Tatsachen und atomaren Sätzen gebe es eine Isomorphie.

    Nach der logischen (gedanklichen) Zerlegung (Analyse) der Welt in die atomaren Tatsachen müsse nun die logische Zusammensetzung (Synthese) folgen, um ein korrektes Weltbild zu erhalten. Als Russell diese Auffassungen vertrat, waren für ihn (wie zu dieser Zeit auch für Wittgenstein) alle echten philosophischen Probleme auf logische Probleme zurückführbar.

    Ethik und Ästhetik haben in einer solchen Philosophie keinen Platz. Auch keine Metaphysik.

    Später hat Russell ausdrücklich dazu aufgerufen, den Versuch einer metaphysischen Welterklärung nicht aufzugeben. Was ihn von vielen anderen Vertretern der Analytischen Philosophie und der modernen Philosophie generell unterscheidet.

    Es gebe Wissen durch Bekanntschaft und Wissen durch Beschreibung. Wissen aus Bekanntschaft ergebe sich aus den Wahrnehmungen (Sinnesdaten), Gefühlen (innere Empfindungen) und Erinnerungen. Auch das »Ich« kenne man aus unmittelbarer Bekanntschaft. Dinge und deren Zusammenhänge, andere Menschen und deren Beziehungen würden wir nur aus Beschreibung kennen. Dies alles sei nicht von selber her wahr.

    Daneben gebe es unmittelbar einleuchtende Grundsätze der Logik und der Geometrie. Zeitweilig zählte Russell auch die Allgemeinbegriffe dazu, die Universalien. (Ähnlichkeit, Gerechtigkeit, Farbigkeit, viereckig etc.)

    Durch Induktion könnten wir Wissen erringen, das aber nie sicher, sondern nur wahrscheinlich sei.

    Später war Russell ein radikaler Skeptizist. Es sei kein logischer Beweis dafür möglich, dass die Welt nicht erst vor fünf Minuten entstanden ist, inklusive aller Menschen und aller ihrer Erinnerungen an eine Vergangenheit.

    Ich glaube übrigens, dass das gesamte Universum mitsamt allen unseren Erinnerungen, Theorien und Religionen vor 20 Minuten vom Gott Quitzlipochtli erschaffen wurde. Wer kann mir das Gegenteil beweisen? Bertrand Russell

    Es sei kein logischer Beweis dafür möglich, dass es außer mir noch weitere Subjekte gibt (Solipsismus). Es sei kein logischer Beweis dafür möglich, dass die Welt nicht zur Gänze mein Traum ist. Hier nun wendet Russell Ockhams Rasiermesser an: Das Prinzip der Einfachheit und der Kohärenz spräche gegen diese Annahmen. Dass die Welt nicht mein Traum ist, dass es eine Vergangenheit gab und dass es andere Menschen gibt, sei die einfachere Erklärung.

    »Wer ein Philosoph werden will,
    darf sich nicht vor Absurditäten fürchten.«
    Bertrand Russell


    Russell hatte eine sehr hochstehende Ethik und hat auch viel über Ethik geschrieben. Er war aber der Überzeugung, dass Ethik kein Teil der Philosophie sei. Anfänglich vertrat Russell die Position von Moore, nach der es objektive ethische Werte gebe, die wir intuitiv erkennen würden. Später entwickelte er sich dann aber in Richtung Humes, nach dem Ethik etwas Subjektives sei. Der ethische Subjektivismus sei zwar unzulänglich, aber nicht inkonsistent. Russell glaubte zeitweise an die Möglichkeit grundsätzlicher Übereinstimmungen bezüglich ethischer Werte, nicht aber daran, dass sich diese theoretisch erzwingen ließen. Moralische Dispute seien letztlich nicht entscheidbar.

    Obwohl Russell der Vernunft einen hohen Stellenwert gab und die Ethik als nicht zur Philosophie gehörig ansah, war er der Überzeugung, die Vernunft müsse der Ethik untergeordnet werden.

    Unsere Ethik gehe letztlich aus unseren Wünschen hervor. Und der Mensch habe nicht nur egoistische, sondern auch altruistische Wünsche (zum Beispiel anderen zu helfen, andere vor Leid zu schützen etc.). Wünsche an sich seien nie schlecht. Aber die Wunscherfüllung könne unter bestimmten Umständen für andere Menschen unakzeptable Konsequenzen haben und müsse dann unterbunden werden. Strafe sei nur als Instrument (zur Abschreckung oder zur Resozialisierung) sinnvoll. Strafe habe für sich allein keinen Wert. Nur als Rache lehnte Russell sie ab.

    Religion war für Russell nicht wesentlich mehr als Aberglaube und ihre negativen Wirkungen würden ihre positiven bei Weitem übertreffen. Auch hier folgte er weitgehend seinem Landsmann Hume. Die Ursache der Religion sah er in der Angst und in dem Wunsch, einen großen Bruder zu haben, der einem in Notlagen beisteht. Im Übrigen waren für Russell alle systematischen Ideologien, also auch der Kommunismus, Formen von Religion.

    »Die Religion stützt sich vor allem
    und hauptsächlich auf die Angst.«
    Bertrand Russell


    Russell hatte trotz oder gerade wegen seiner vielfältigen Aktivität für Frieden, Freiheit, soziale Gerechtigkeit etc. nie eine besondere Nähe zum Kommunismus und zum Marxismus, obwohl es nicht wenige entsprechende Vereinnahmungsversuche gab. Den Historischen Materialismus lehnte er ab. Er könne in der Geschichte kein dialektisches Prinzip entdecken. Schon sein erster Besuch in Sowjetrussland 1920 desillusionierte ihn. Lenin hielt er für einen Fanatiker. Seine Auffassungen von individueller Freiheit standen konträr zum diktatorischen Sowjetsystem.

    Wer wie ich glaubt, dass der freie Geist der wichtigste Motor des menschlichen Fortschritts ist, kann nur in fundamentalem Gegensatz zum Bolschewismus stehen, wie gegen die katholische Kirche. Die Hoffnungen, die den Kommunismus inspirieren, sind so bewundernswert wie die der Bergpredigt. Aber genauso wie diese werden sie fanatisch vertreten und werden genauso viel Schaden anrichten. Bertrand Russell


    Popper

    (Auf Popper wurde in dieser Einführung schon oft verwiesen. Es wird hier nicht alles wiederholt, was in früheren Kapiteln bereits erläutert worden ist.)

    Karl Popper (1902–1994) war ein österreichisch-britischer Philosoph jüdischer Abstammung, Sohn eines liberalen, sozial engagierten Rechtsanwalts mit geschichtlicher und philosophischer Bildung, der Mitglied der illegalen Freimaurerloge in Wien war. Seit seiner Kindheit bekannt mit Konrad Lorenz. Stammte aus einer sehr musikalischen (Groß-)Familie. Machte selbst Musik. So sehr ihm auch Bücher wichtig waren, nichts ging ihm näher als die Meisterwerke der klassischen Musik.

    Um sich gegen die poetische Weltflucht und den Kulturpessimismus seiner gesellschaftlichen Umgebung (im Gefolge des Untergangs des Habsburger Reiches nach dem 1. Weltkrieg) und gegen intellektuelle Anmaßung abzugrenzen, entschloss Popper sich, Arbeiter zu werden und ein Handwerk zu erlernen. So machte er neben seiner Ausbildung zum Grundschullehrer eine Tischlerlehre. Anschließend war er Hauptschullehrer für Mathematik und Physik in Wien.

    Wegen seiner starken philosophischen und wissenschaftlichen Interessen und seiner intellektuellen Leistungsfähigkeit blieb er dort allerdings nicht stehen, sondern entwickelte sich zu einem der wichtigsten Erkenntnis- und Gesellschaftstheoretiker des 20. Jahrhunderts. Während der Nazizeit nach Neuseeland emigriert, lebte er seit 1946 bis zu seinem Tode in Großbritannien, wo er Professor an der »London School of Economics and Political Science« war.

    Ein ganz zentraler Teil der Erkenntnistheorie Poppers ist das Falsifikationsprinzip. Dieses wurde im 4. Kapitel bereits beschrieben.

    Im Gegensatz zu den Positivisten, die sagen: »Sätze, die nicht verifizierbar sind, sind sinnlos«, sagt Popper: »Sätze, die sich nicht falsifizieren lassen, sind unwissenschaftlich, aber deshalb nicht gleich unsinnig.« Viele heutige Wissenschaften seien aus vorwissenschaftlicher Mystik hervorgegangen. Außerdem bestehe das Leben nicht nur aus Wissenschaft.

    Die Falsifikationstheorie ist, in die politische und gesellschaftliche Praxis übertragen, eine ständige antidogmatische und antikonservative Strategie. Die immerwährende Fehlersuche führt zu einem reformistischen Vorgehen.


    Alles, was das Leben lebenswert mache, habe etwas mit Gefühlen zu tun. Der Verstand solle aber in keinem Lebensbereich völlig fehlen.

    Popper mochte nicht als Philosoph bezeichnet werden, da in der Philosophie mehr verzapft worden sei, für das man sich schämen müsse, als auf was man stolz sein könne.


    Kritischer Rationalismus

    Popper prägte den Begriff Kritischer Rationalismus. Dies sei die Form der Aufklärung in unserer heutigen Zeit. Die rationalistische Einstellung sei aber selbst nicht rational beweisbar. Sie beruhe auf einem irrationalen Glauben an die Vernunft. Wir sollen von unserer Vernunft einen vorsichtigen, kritischen Gebrauch machen. Die Ergebnisse unseres Forschens seien vorläufig. Die Kritik ist für den kritischen Rationalismus das, was der Rechfertigungsprozess in der traditionellen Philosophie war.

    Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie

    Popper kritisierte das Induktionsprinzip. Wir könnten niemals aus einzelnen Erfahrungen allgemeingültige Sätze ableiten. Allgemeingültige Sätze seien Hypothesen, Vermutungen, die unser schöpferischer Verstand aufstelle, aus denen wir uns eine Welt erschaffen würden, gleichsam geistige Netze, mit denen wir versuchten, die wirkliche Welt einzufangen.

    Hier besteht eine starke Nähe zu Kant. Im Gegensatz zu Kant betont Popper aber ausdrücklich den Versuchscharakter dieser Verstandesschöpfungen. Kants »Kritik« sei nicht kritisch genug gewesen.

    Wir wissen viel weniger, als Kant geglaubt hat.


    Wenn dem aber so sei, wie lasse sich dann Wissenschaft von metaphysischer, vor- und pseudowissenschaftlicher Spekulation abgrenzen? Nach Popper darin:

    Wissenschaft lässt sich einer kritischen Prüfung unterziehen, an deren Ergebnissen sie scheitern kann.

    Gerade die Anerkennung der Fehlbarkeit und Widerlegbarkeit unseres Vermutungswissens sei Voraussetzung des Fortschritts unserer Hypothesen.

    Wir können aus unseren Fehlern lernen.


    Dogmatiker setzten ihre Auffassungen einer solchen kritischen Prüfung gerade nicht aus. Sie suchten nach Bestätigungen ihrer Theorien, die Dinge und Ereignisse werden so interpretiert, dass sie in die Theorie passen. Widersprechendes wird ignoriert, uminterpretiert oder als untypisch abgetan.

    Das, was Wissenschaft und Gesellschaft voranbringe, Kritik, wird übel genommen.


    Aber genauso, wie sich Popper gegen den Dogmatismus wandte, genauso wandte er sich gegen Subjektivismus und Relativismus. So stimmte er zum Beispiel Heisenberg nicht zu, der behauptete, dass im subatomaren Bereich keine Kausalität mehr feststellbar bzw. messbar sei. Dem nach seiner Meinung daraus folgenden Zufallsprinzip setzte er später seine »Theorie der Propensitäten« entgegen, nach der es in der Welt reale Verwirklichungstendenzen gebe.

    Popper übernahm den »semantischen Wahrheitsbegriff« des polnischen Mathematikers und Logikers Alfred Tarski (1902–1983). Es gebe Wahrheit (im Sinne der Korrespondenztheorie), aber der Mensch könne sich nie sicher sein, ob er sie gefunden habe.

    Wissenschaft ist Wahrheitssuche! Nicht der Besitz von Wahrheit.

    Wahrheit ist wie ein Berggipfel, der oft hinter Wolken verborgen ist, dem wir entgegenstreben, aber nicht unbedingt erreichen. Wahrheit ist wie der magnetische Pol, nach dem der Seefahrer seine Richtung bestimmt. Nie ist diese Richtung ganz korrekt. Oft muss er seine Route ändern. Die Wahrheit ist ein regulatives Prinzip.


    Im weiteren Verlauf seiner erkenntnistheoretischen Überlegungen vertrat Popper dann unter anderem die Evolutionäre Erkenntnistheorie.

    Gesellschaftsphilosophie

    Popper war mehr an Natur, Naturwissenschaft und Wissenschaftstheorie interessiert, weniger an Gesellschaftswissenschaft und Philosophie. Auf Grund der totalitären Regime in Europa und dem 2. Weltkrieg entschloss er sich dazu, seinen »Kriegsbeitrag« in Form einer Kampfschrift gegen den Totalitarismus zu leisten. Seine in Neuseeland geschriebenen Bücher Das Elend des Historizismus und Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde waren eigentlich gegen Hitler und Stalin geschrieben, aber Popper hasste die beiden zu sehr, um ihre Namen zu erwähnen.

    Popper kritisierte stattdessen diejenigen, die er als geistige Vorläufer des Totalitarismus ansah: Platon, Hegel und Marx.

    Offene Gesellschaft

    Die gesellschaftlichen Institutionen sollen so beschaffen sein, dass, wenn ein Verbrecher an die Macht kommt, er möglichst wenig Schaden anrichten kann.

    Gewaltanwendung sei nur aus zwei Gründen gerechtfertigt: Zur Verteidigung freier Institutionen, wo sie bereits bestehen, und zur Errichtung freier Institutionen, wo es sie noch nicht gibt. Gewalt sei gerechtfertigt, um eine Tyrannei zu vermeiden oder eine bestehende Tyrannei zu beseitigen und einen Zustand herzustellen, in dem friedlicher Wandel möglich ist.

    Nicht das größte Glück, sondern das geringste Leid soll Ziel unserer Anstrengungen sein.

    (Unterschied zu Bentham.) Was Glück sei bzw. was glücklich mache, darüber hätten die Menschen ganz unterschiedliche Vorstellungen. Einem anderem Menschen das aufzwingen, was man selbst für gut hält, womit man selbst glücklich wird oder von dem man glaubt, damit glücklich zu werden, kann bei anderen Leid erzeugen. Deshalb sollten wir uns darauf konzentrieren, Leiden zu lindern. Denn was Leid sei, darauf könnten sich die Menschen viel schneller einigen als auf das, was Glück sei.

    Auf welche Weise der Einzelne nach Glück strebt, solle ihm selbst überlassen bleiben.

    Im engeren Familien- oder Freundeskreis könne man in dieser Richtung Vorschläge machen. Mehr nicht.

    Kritik an Marx und den Marxisten

    Marx hatte angenommen, dass es gesellschaftliche, ökonomische und geschichtliche Gesetzmäßigkeiten gebe, die er in seinen Theorien beschreibe. Er hat viele falsifizierbare Aussagen gemacht. Popper behauptete schon in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts, dass die meisten dieser Aussagen inzwischen falsifiziert seien, die Marxisten dies aber nicht zur Kenntnis nehmen würden.

    Popper hat in den 40er Jahren bereits die spätere Entwicklung in Osteuropa, China, Kuba etc. beschrieben, natürlich auch wegen der Kenntnis dessen, was seit 1917 in Russland ablief. Wie Dogmatiker mit edlen Zielen die Macht ergreifen und aus der inneren Logik dieser Entwicklung heraus dann Abschaffung der freien Institutionen und Unterdrückung Andersdenkender folgten; die Nichterreichung der utopischen Ziele mit anschließendem Herumgewurstel, sprich ineffektiver Stückwerk-Technologie auf unterster Ebene, da keine erlaubte Opposition und freie Diskussion möglich war (leider zum Teil auch noch ist).

    Gegen Marx' Vorstellung der historischen Gesetzmäßigkeiten und des Sozialismus als unabwendbarem Entwicklungsprodukt der Geschichte setzte Popper seine »Stückwerk-Technologie« oder »Sozialtechnik der kleinen Schritte«.

    Popper wendet sich als Indeterminist gegen die Vorstellung, es gebe unabänderliche historische Gesetzmäßigkeiten. Sein Buch Das Elend des Historizismus schrieb er gegen den negativen Fatalismus von Oswald Spengler und dem positiven Fatalismus von Karl Marx. Der weitere Verlauf der Geschichte werde wahrscheinlich stark von unseren zukünftigen wissenschaftlichen Erkenntnissen abhängen.

    Da wir heute nicht wissen können, welche Erkenntnisse wir morgen haben werden (sonst hätten wir sie ja heute schon), können wir den Verlauf der Geschichte nicht vorhersagen. Die Menschen des 19. Jahrhunderts haben Computer, Atomspaltung, Gentechnologie u. w. nicht vorausgesehen. Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse und technischen Erfindungen des 21. Jahrhunderts sehen wir heute noch nicht voraus?


    Wie die Zukunft aussehen werde, hänge davon ab, wofür wir uns einsetzten. Unser Handeln habe aber auch immer unbeabsichtigte Nebenfolgen, die wir nie ganz voraussehen könnten.

    »Trial-and-error-Methode«

    Wir machen einen Versuch, ein bestimmtes Problem zu lösen oder ein bestimmtes Phänomen zu erklären. Dann suchen wir nach den Fehlern in dem Versuch. Anschließend machen wir einen erneuten Versuch, der den Fehler des ersten Versuchs vermeidet. Auch der zweite Versuch wird irgendwo fehlerhaft sein. Nach Beseitigung dieser Fehler machen wir einen weiteren Versuch usw. usf. Auf diese Weise kommen wir nie zu einer letzten Wahrheit aber:

    Durch Fehlerkorrektur nähern wir uns der Wahrheit an, finden wir einen gangbaren Weg, um ein Problem zu lösen.


    Sprachphilosophie

    Nach Popper ist die Forderung, dass vor einer sinnvollen Diskussion zuerst einmal die verwendeten Begriffe definiert werden müssen, inkonsequent, da sie zu einem endlosen Regress führen würde. (Wir definieren Begriffe mit anderen Begriffen, die wir wiederum definieren müssten usw. usf.) Deshalb verzichten Wissenschaftler in der Regel darauf, ihre Begriffe zu definieren, zum Beispiel in der Physik die Begriffe »Licht« oder »Energie«. Je weniger über den Sinn von Wörter diskutiert werde, umso nützlichere Erkenntnisse gebe es auf einem Forschungsgebiet.

    Die Präzision einer Sprache hängt gerade davon ab, dass sie ihre Begriffe nicht mit der Aufgabe belastet, präzise zu sein.


    Popper bringt als Beispiele noch »Düne« und »Wind«. Wie viel Zentimeter muss ein Sandberg hoch sein, damit er eine Düne ist? Wie schnell muss sich die Luft bewegen, damit diese Bewegung ein Wind ist?

    Die Theorie der drei Welten

    Die Welt 1 ist für Popper die physikalische Welt. Die Welt 2 ist für ihn die psychische Welt, die Welt der subjektiven Erfahrungen.

    Die Welt 3 sind nach Popper die von den Menschen geschaffenen objektiven Strukturen, die dann aber unabhängig vom Menschen existieren.


    Die (nicht unbedingt beabsichtigten) Schöpfungen des menschlichen Geistes sind zum Beispiel Sprachen, Religionen, Ethik, Gesetzeswerke, Gebräuche, Philosophie, Kunst, Wissenschaft, regelmäßig wiederkehrende Verhaltensweisen, das objektivierte Wissen der Menschheit in Form des Geschriebenen, Gedruckten und auf Magnetbändern gespeicherten etc. Sind diese objektiven Dinge bzw. Strukturen einmal vom Menschen hervorgebracht, wird der Mensch wiederum von ihnen geformt.

    Objektive Erkenntnis

    Mit der Theorie von der Welt 3 hängt Poppers Begriff der Objektiven Erkenntnis (Titel eines seiner Werke) zusammen. Traditionelle Erkenntnistheorie habe sich immer mit Erkenntnis als einem subjektiven Zustand beschäftigt, als etwas, das mit Bewusstsein zu tun habe. Mit dieser Tradition will Popper brechen. Er vertritt die Auffassung, dass wissenschaftliche Erkenntnis etwas Objektives, nicht etwas Subjektives sei. Sie gehöre der »Welt 3« an, nicht der »Welt 2«. Das Wissen, das die Menschheit als Ganzes habe, könne kein einzelner Mensch haben. Wissen in Bibliotheken, Archiven und Dokumentationen sei meist in keinem Menschenkopf vorhanden. Selbst ein einzelner Mensch habe nicht ständig im Bewusstsein, was er alles (potenziell) weiß.

    Wissen im objektiven Sinne ist Wissen ohne einen Wissenden.



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    16. Kapitel

    Sach- und Personenlexikon

    »Die Philosophie ist eigentlich Heimweh –
    Trieb überall zu Hause zu sein.«
    Novalis (1772–1801)
    Deutscher Schriftsteller


    In diesem Kapitel wird vermittelt:

    • Philosophische Begriffe und Philosophen bzw. andere bedeutende Personen, die in dieser Einführung erwähnt, aber in keinem Kapitel näher erläutert bzw. vorgestellt werden.
    • Außerdem werden hier philosophische Begriffe und Philosophen kurz vorgestellt, die in der aktuellen philosophischen Diskussion und Berichterstattung häufig erwähnt werden, in dieser Einführung aber nicht erklärt werden.

    Begriffe und Personen, die in den vorhergehenden Kapiteln näher erläutert wurden, werden hier in der Regel nicht noch einmal aufgeführt.


    Abstraktion (von lat. »abstrahere« = ab-, wegziehen) Begriffsbildung, Verallgemeinern, damit zugleich auch von etwas oder von vielem absehen.

    »Tier« ist eine Abstraktion, da es das Tier nicht gibt.


    Es gibt nur konkrete Tiere, von der Mücke bis zum Elefanten. Zum Beispiel lässt sich Tier so bestimmen: Lebewesen, das – im Gegensatz zur Pflanze – zur eigenständigen Ortsveränderung fähig ist.

    Absurd (von lat. »absurdus« = misstönend) Unvernünftig, in sich widersprüchlich.

    Der »Quadratische Kreis« ist absurd.


    Was absurd ist, hängt aber auch vom Entwicklungsstand der Erkenntnisse ab. Manche Aussage der Relativitätstheorie, zum Beispiel die Relativität von Raum, Zeit und Bewegung, war für die Physiker vor Einstein absurd. Aus Sicht des Alltagsverstandes sind sie es weiterhin.

    Ad absurdum (lat.) in die Widersinnigkeit.

    Agape (von gr. »agapi« = Liebe) Liebe, Zufriedensein, Zuwendung zum Einfachen. Herabsteigende, unmotivierte Liebe. Wichtiger Begriff bei Aristoteles, Plotin und im Christentum. Dort die Liebe Gottes zum Menschen, besonders zu den Schwachen, Armen, Sündern. Nächstenliebe, Feindesliebe, Gottesliebe etc. (Der lat. Begriff hierfür ist »caritas«.) Siehe auch Eros und Philia.

    Albert, Hans (geb. 1921) Deutscher Philosoph. Bedeutendster deutscher Vertreter des Kritischen Rationalismus. Bekannt ist Albert besonders wegen des von ihm aufgestellten Münchhausen-Trilemmas: Jeder Versuch, eine These zweifelsfrei zu begründen, ende entweder

  • in einem endlosen Regress,
  • einer dogmatischen Setzung oder
  • einem Zirkel.

  • Letztbegründung sei deshalb nicht möglich, jede These fallibel.

    Einer Theorie kann nichts Schlimmeres passieren, als konkurrenzlos zu bleiben.

    Nach Albert läuft die Anerkennung des wissenschaftlichen Weltbildes als einer angemessenen Wiedergabe wirklicher Zusammenhänge von selbst auf den Materialismus bzw. Realismus hinaus.

    Alexander, Samuel (1859–1938) In England wirkender australischer Philosoph jüdischer Abstammung. Vertrat eine evolutionistische Metaphysik mit Nähe zum Neuplatonismus und mit starker Orientierung an den Erfahrungswissenschaften. Wird der Neuen Metaphysik zugerechnet.

    Allegorie (von gr. »alligoreo« = etwas anders darstellen) Eine Art indirekter Aussage, die nicht wörtlich genommen werden darf, sondern auf einen anderen Sinn hinweisen soll. Beispiele: der Tod als Sensenmann, die Gerechtigkeit als Frau mit verbundenen Augen. Es gibt eine Ähnlichkeit zur Metapher.

    Allegorese Der Versuch bzw. die Methode, hinter dem Wortlaut eines Textes einen verborgenen Sinn zu suchen, zum Beispiel in der Bibel, dem Koran und anderen religiösen Schriften. Allegorische Auslegung eines Textes bedeutet, dass man ihn nicht wörtlich nimmt. Siehe auch Hermeneutik

    Allgemeine, das Dasjenige, das vielen Einzeldingen gemeinsam ist. Die Suche und die Bestimmung des Allgemeinen ist ein wichtiger Gegenstand philosophischer Überlegungen und Diskussionen. Gegenteil: das Besondere.

    Das Allgemeine bei allen Menschen ist zum Beispiel, dass sie ein Großhirn besitzen, das dreimal so groß ist wie das unserer nächsten Verwandten im Tierreich, den Schimpansen.


    Siehe auch Abstraktion und Definition.

    Altruismus (von lat. »alter« = der Eine oder der Andere von beiden, der Nächste) Selbstlosigkeit, eine durch Rücksicht auf andere gekennzeichnete Denk- und Verhaltensweise.

    Ambivalenz (von lat. »ambo« = beide und »valere« = gelten) Doppelwertigkeit. Vieles auf der Welt ist ambivalent, nicht eindeutig positiv oder negativ, gut oder böse etc.

    Der Mensch ist ein ambivalentes Wesen, da er sowohl zu Geselligkeit, Liebe und Produktivität fähig ist wie auch zu Ungeselligkeit, Hass, Destruktivität und Sadismus.


    Analogie (von gr. »analogos« = dem »logos« entsprechend) Ähnlichkeit verschiedener Dinge bezüglich eines oder mehrerer ihrer Merkmale. Eine analoge Erkenntnis erringen Sie nicht dadurch, dass Sie an einem bestimmten Gegenstand oder Prozess etwas erkennen, sondern dadurch, dass Sie diesen Gegenstand oder Prozess mit etwas vergleichen, das Ihnen bekannt ist.

    Wenn Sie sich einmal die Finger verbrannt haben, wissen Sie, dass es weh tut. Wenn sich ein anderer Mensch die Finger verbrennt, dann spüren Sie den Schmerz nicht. Im Analogieschluss gehen Sie davon aus, dass auch dem anderen Menschen die Finger weh tun.


    Analyse (von gr. »analysi« = Auflösung) Systematische Erforschung eines Sachverhaltes durch gedankliche Zergliederung.

    Apel, Karl-Otto (geb. 1922) Deutscher Philosoph, Gegner des Relativismus, Vertreter der Diskursethik. Moralische Normen würden von allen Teilnehmern in einem offenen Diskurs anerkannt. Grundlage sei die reale Kommunikationsgemeinschaft aller Menschen, die es zu erhalten gelte, und die ideale Kommunikationsgemeinschaft, die es anzustreben gelte, in der für alle rational begründbaren Ansprüche eine Übereinkunft erzielbar sei. Hält Letztbegründung für möglich und ist der Auffassung, den Fallibilismus widerlegt zu haben.

    Wer nämlich überhaupt an der philosophischen Argumentation teilnimmt, der hat die [...] Voraussetzungen bereits implizit als Apriori der Argumentation anerkannt, und er kann sie nicht bestreiten, ohne sich zugleich selbst die argumentative Kompetenz streitig zu machen. Karl-Otto Apel

    Aphorismus (von gr. »aphorisein« = erklären) Schriftlich gefasster knapper, treffender, geistreicher Gedanke. Wird auch verwendet, wenn – wie bei Nietzsche – philosophische Auffassungen nicht systematisch oder in Essays dargestellt werden, sondern in kürzeren, aus einem oder mehreren Sätzen bestehenden Texten.

    A posteriori (lat.) »vom Späteren her«, im Nachhinein, nach der Erfahrung.

    Apperzeption (von lat. »adpercipere« = in etwa hinzuerfassen). Nach der sinnlichen Perzeption die zweite Stufe der Erkenntnis, das begrifflich urteilende Erfassen.

    A priori (lat.) »vom Früheren her«, von vornherein, vor aller Erfahrung. Zentraler Begriff der Erkenntnistheorie Kants.

    Aquin, Thomas von (1224–1274) Der bedeutendste christliche Theologe und Philosoph des Mittelalters versuchte, Glaube und Vernunft, Philosophie und Theologie zusammenzubringen. Seine Philosophie ist weitgehend ein christlich eingekleideter Aristotelismus. Die von ihm geschaffene Lehre ist bis heute die offizielle Philosophie der katholischen Kirche.

    Die größte Wohltat, die man einem Menschen erweisen kann, besteht darin, dass man ihn vom Irrtum zur Wahrheit führt. Thomas von Aquin

    Arendt, Hannah (1906–1975) Deutsch-amerikanische Sozialwissenschaftlerin jüdischer Abstammung. Handeln und Sprechen sei ein herrschaftsfreier Raum, politische Macht daher Fähigkeit zu kommunikativem Handeln, die aber durch Gewalt zerstört werden könne. Untersuchte die Entstehungsbedingungen des Totalitarismus und behauptete die strukturelle Gleichheit von Faschismus und Stalinismus.

    Attribut (von lat. »attribuere« = zuordnen) 1. Eigenschaft oder Merkmal einer Sache. 2. Grammatik: Beifügung. zum Beispiel: das große Haus, der dunkle Wald.

    Augustinus von Hippo (354–430). Wichtiger Philosoph und Theologe der Spätantike, dessen Hauptwerk Civitas Dei (Der Gottesstaat) zum theoretischen Fundament des aufstrebenden Christentums wurde. Seine Theorie von der Zeit war zukunftsweisend. Bekannt und umstritten u. a. wegen seiner Prädestinationslehre. Steht am Beginn des Mittelalters.

    Weniger zu brauchen ist besser, als mehr zu haben. Augustinus von Hippo

    Avenarius, Richard (1843–1896) Deutscher Philosoph, Begründer des Empiriokritizismus (zusammen mit Mach), einer Richtung des Positivismus. Durch die bloße Beschreibung des empirisch Gegebenen solle ein »natürliches Weltbild« erstellt werden. Ziel sei, das in den Erfahrungen Gegebene mit dem geringsten Kraftaufwand zu denken. Es gebe keine Dualität von Körperlichem und Geistigem.

    Axiom (von gr. »axioma« = Richtigkeit) Absolute, unbezweifelbare Wahrheit, die nicht bewiesen zu werden braucht. Grundaussage einer Wissenschaft, die nicht aus anderen Aussagen abgeleitet, deduziert ist, aus der aber andere Aussagen abgeleitet werden. Siehe auch Postulat.

    Ayer, Alfred Jules (1910–1989) Englischer Philosoph. Einer der führenden Vertreter der Analytischen Philosophie. Aussagen der Mathematik und der Logik seien nur aufgrund der konventionellen Festlegung der Bedeutungen ihrer Grundbegriffe wahr, nicht etwa, weil ihre Aussagen auf irgendwelche Gegenstände oder platonische Ideen etc. hinwiesen. Ethische und ähnliche Aussagen seien weder empirisch beweisbar, noch analysierbar, sie seien Pseudobegriffe, wie die Sätze der Religion und der Theologie. Ein verbindlicher ethischer Diskurs sei aussichtslos.

    Bacon, Francis (1561–1626) Englischer Philosoph und hoher Politiker. Erkannte als einer der Ersten die große Bedeutung von Wissenschaft und Technik. Besonders bekannt ist seine Lehre von den Idolen, den Trugbildern. Es gebe vier Quellen: 1. Die allgemeine menschliche Natur (»idola tribus« = Trugbilder des Stammes). 2. Die Beschaffenheit und die Lebensumstände des einzelnen Individuums (»idola specus« = Trugbilder der Höhle – Zu dieser Bezeichnung kommt Bacon durch das Platonische Höhlengleichnis) 3. Die Gesellschaftlichkeit des Menschen, besonders die Sprache (»idola fori« = Trugbilder des Marktes). 4. Die Traditionen und überlieferten Lehrsätze (»idola theatri« = Trugbilder des Theaters).

    »Die Hoffnung ist ein gutes Frühstück,
    aber ein schlechtes Abendbrot.«
    Francis Bacon


    Bacon, Roger (etwa 1214–1292 ) Englischer Theologe, Philosoph und Naturwissenschaftler. Ein früher Vertreter des Empirismus. Für die damalige Zeit ein ungewöhnlichen Bezug zu den Naturwissenschaften. In seiner Vorhersage des wissenschaftlich-technischen Fortschritts ist er mit Leonardo da Vinci gleichzustellen. Er schrieb: »Maschinen für die Schifffahrt ohne Ruderer können so gebaut werden, dass die größten Schiffe auf Flüssen und Meeren von einem einzigen Mann mit größerer Geschwindigkeit fortbewegt werden können, als wenn sie vollbemannt wären. Auch Wagen können so gebaut werden, dass sie sich ohne Zugtiere mit unglaublicher Schnelligkeit bewegen.« Auch die Flugzeuge wurden von ihm vorhergesagt.

    Bergpredigt Eine der bekanntesten Predigten von Jesus Christus, die für die christliche Ethik von großer Bedeutung ist. Gefordert wird dort u. a. Gerechtigkeit, Sanftmut, Barmherzigkeit, Vergebung, Hilfsbereitschaft, Pazifismus, Feindesliebe, Leidensbereitschaft,

    »Sammelt euch nicht Schätze auf
    der Erde [...] denn wo Dein Schatz ist,
    da wird auch Dein Herz sein. [...]
    Ihr könnt nicht Gott dienen
    und dem Mammon.«
    Jesus Christus


    Berkeley, George (1685–1753) Irischer Theologe und Philosoph. Vertreter des Idealismus. Ein Ding sei weiter gar nichts als eine konstante Summe von Empfindungen im Bewusstsein. Ein materielles Ding könnte keine Bewusstseinsinhalte erzeugen, da man nur geben könne, was man habe. Der über den menschlichen Geistern stehende göttliche Geist gebe die allen Menschen gemeinsamen Bewusstseinsinhalte vor. Geträumtes sei nur in einem Menschen vorhanden, Vorgestelltes nur in einem Menschen, wenn er es wolle. Die Naturgesetze seien die Regeln, nach denen Gott die Bewusstseinsinhalte verknüpfe.

    Besondere Das, was ein Einzelding von anderen Einzeldingen unterscheidet. Gegensatz Allgemeines. So hat zum Beispiel jeder Mensch einen einmaligen Fingerabdruck.

    Bloch, Ernst (1885–1977) Deutscher Philosoph, Marxist mit starken Neigungen zum Idealismus. (So wird er jedenfalls häufig interpretiert.) Nach eigenem Bekunden Materialist bezeichnete er den herkömmlichen Materialismus als »Klotzmaterialismus«. Beeinflusst von Hegel und Schelling. (Wird auch als »Marxistischer Schelling« bezeichnet.) Sein Hauptwerk heißt Prinzip Hoffnung. Beginnend mit der Kategorie des »Noch-Nicht« untersuchte er die Kategorien Hoffnung, Utopie, Möglichkeit, Prozess, um eine Kulturgeschichte der Hoffnung in einer »unfertigen Welt« zu schreiben.

    »Man muss ins Gelingen verliebt sein,
    nicht ins Scheitern.«
    Ernst Bloch


    Boethius, Anicius (ca. 480–524) Römischer Staatsmann und Philosoph der Spätantike. Wird als »letzter Römer und erster Scholastiker« bezeichnet. Von Neuplatonismus und Stoizismus beeinflusst. Gott sei Schöpfer und Lenker der Welt. Unterschied zwischen göttlicher Vorsehung und Schicksal, das aus einer Distanzierung zu Gott entstehe. Der Mensch gründe in der Vernunft und solle den äußeren Ereignissen mit Gleichmütigkeit begegnen. Verfasste im Kerker sein berühmtes Werk Der Trost der Philosophie.

    Bolzano, Bernhard (1781–1848) Böhmischer katholischer Theologe, Philosoph und Mathematiker. Die Logik sei unabhängig von der Psychologie. Sätze der Logik seien raum- und zeitlose Wahrheiten, ideelle Wesenheiten. Wurde so zu einem Gegner des Psychologismus und ein Vorläufer der Phänomenologie.

    Brentano, Franz (1838–1917) Deutscher Philosoph, Vertreter eines entschiedenen Empirismus. Behauptete, dass psychische Phänomene im Unterschied zu physischen immer auf etwas gerichtet seien, das heißt Bewusstsein von etwas seien, über dessen Existenz oder Nichtexistenz damit aber noch nichts ausgesagt sei. Husserl knüpfte stark an diesen Gedanken an und entwickelte ihn zur Theorie der »Intentionalität des Bewusstseins«.

    Buber, Martin (1878–1965) In Wien geborener jüdischer Sozial- und Religionsphilosoph, aktiver Zionist. Versuchte eine Synthese aus westlicher Philosophie und östlicher Mystik. Wichtig für seine pädagogischen, politischen und religiösen Auffassungen ist das »Dialogische Prinzip« sowohl im zwischenmenschlichen Bereich wie in der Beziehung des Menschen zu Gott. Beeinflusste mit seinen Gedanken die moderne Pädagogik, Philosophie, Psychiatrie und Theologie. Wird auch als Vertreter der Existenzphilosophie angesehen.

    Der Mensch wird am Du zum Ich. Martin Buber

    China Die Philosophie Chinas hat sich völlig unabhängig von der in Europa entwickelt. In ihr treten im Prinzip die gleichen Grundpositionen auf wie in der abendländischen Philosophie. Es gibt aber einige Besonderheiten:

    1. In China hat sich keine wissenschaftliche Logik entwickelt, was an der chinesischen Sprache liegt, die ganz anders aufgebaut ist als die europäischen Sprachen.
    2. Chinesische Philosophie war immer sehr praxisorientiert. Im Gegensatz zur indischen Philosophie waren hier metaphysische Spekulationen eher die Ausnahme als die Regel.
    3. So gibt es auch zumeist keine Erkenntnis um der Erkenntnis willen, sondern um Handeln anzuleiten und die Wirklichkeit zu gestalten.
    4. Ein Grundzug chinesischer Philosophie ist das Streben nach Harmonie, nach dem »Goldenen Mittelweg« oder nach »Maß und Mitte«. Damit hängt zusammen die Gegnerschaft zur Einseitigkeit und zum Extrem. Chinesische Philosophie ist tolerant. Es wird zwar von vielen geistigen Auseinandersetzungen berichtet, aber gewaltsame Bekehrungs- und Unterdrückungsversuche hat es von wenigen Ausnahmen abgesehen nicht gegeben. Das änderte sich erst, als zu Beginn des 20. Jahrhunderts intolerante Ideologien, die in Europa entstanden waren, in China Fuß fassten.

    Chomsky, Noam Avram (geb. 1928), bedeutender amerikanischer Sprachforscher und Philosoph. Versucht aus den Grammatiken der einzelnen Sprachen eine Universalgrammatik zu schaffen. Im Unterschied zum Behaviorismus vertritt er den Mentalismus, indem er behauptet, dass Sprachstrukturen angeboren seien. Es gebe im Menschen eine unabhängig von Umwelteinflüssen bestehende angeborene »Kompetenz«, aus einer endlichen Menge von Sprachelementen nach festen Regeln kreativ unendlich viele auch neue Sätze zu bilden.

    Croce, Benedetto (1866–1952) Bedeutender italienischer Philosoph. Stark von Hegel beeinflusst. Für ihn war Wirklichkeit und Geschichte sowie Geschichte und Philosophie das Gleiche (»Absoluter Historismus«). Betonte die immanente Erfahrung des Geistes. Philosophie sei Aufeinanderfolge von offenen »Systemationen« und unabgeschlossen. Wirklichkeit sei die unendliche, dialektische Entwicklung des »Objektiven Geistes«. Bekämpfte den Positivismus.

    Definition (von lat. »definito« = Umgrenzung) Abgrenzung. Genaue Erklärung eines Dinges, Vorgangs oder Begriffs. Nach Popper führen Definitionen zu einem endlosen Regress, einem ewigen Nachfragen, da Begriffe mit anderen Begriffen definiert werden, die ihrerseits wieder definiert werden müssten.

    »Eine Definition ist das Einfassen
    der Wildnis einer Idee
    mit einem Wall von Worten.«
    Samuel Butler (1835–1902)
    Englischer Schriftsteller


    Demokrit (um 460–370 v. Chr.) Antiker griechischer Philosoph. Mit Leukipp Begründer des klassischen Materialismus und der Atomtheorie. Das Sein bestehe aus verschiedenen winzig kleinen unteilbaren Körperchen, Atomen, die nicht entstünden und nicht vergingen. Alles Entstehen und Vergehen sei ein Sichzusammenschließen und ein Sichtrennen von verschiedenen Atomen.

    Nur scheinbar hat ein Ding eine Farbe, nur scheinbar ist es süß oder bitter; in Wirklichkeit gibt es nur Atome und leeren Raum. Demokrit

    Dependenz (von lat. »dependere« = abhängen) Abhängigkeit eines Dinges, Tatbestandes etc. von einem anderen Ding, Tatbestand, Eigenschaft etc. oder der Bezug des einen Dinges zum anderen Ding. Siehe auch Interdependenz.

    Deschner, Karlheinz (1924–2014) Bedeutender deutscher Kirchen- und Christentums Kritiker.

    Ein Gott, der die Hölle gemacht, verdient als Einziger, darin zu braten. Karlheinz Deschner

    Disjunktion (von lat. »dis« = auseinander und »iungere« = verknüpfen, verbinden) Trennung, Sonderung. In der Logik ausschließendes und nicht ausschließendes »oder«.

    Diskurs (von lat. »discurrere« = hin- und herlaufen) 1. Diskussion (sprachlich oder schriftlich vor sich gehender) Gedankenaustausch. (Diskursethik: Habermas, Apel) 2. Methodisch aufgebaute wissenschaftliche Abhandlung.

    Eddington, Arthur Stanley (1882–1944) Englischer Astrophysiker. Lieferte 1919 während einer Sonnenfinsternis eine empirische Bestätigung für Einsteins Behauptung, Lichtstrahlen würden sich unter Einwirkung starker Massen krümmen.

    Einstein, Albert (1879–1955) Deutsch-schweizerisch-amerikanischer Physiker jüdischer Abstammung.

    Wenn ich mit meiner Relativitätstheorie recht behalte, werden die Deutschen sagen, ich sei Deutscher, und die Franzosen, ich sei Weltbürger. Erweist sich meine Theorie als falsch, werden die Franzosen sagen, ich sei Deutscher, und die Deutschen, ich sei Jude. Albert Einstein

    Revolutionierte mit seiner Relativitätstheorie die Grundlagen der Physik und damit das Bild, das die moderne Naturwissenschaft von der Welt, von Raum, Zeit, Materie und Bewegung hat. Da dies alles zentrale philosophische Begriffe sind, haben seine Theorien große Bedeutung für die Philosophie.

    Zwei Dinge sind unendlich: das Universum und die menschliche Dummheit. Wobei ich mir beim Universum nicht sicher bin. Albert Einstein

    Eklektizismus (von gr. »eklektos« = ausgewählt) Eklektiker wählen aus den vorhandenen philosophischen Systemen einzelne Gedanken aus und bilden daraus ihre eigene Theorie. Dabei wird ihnen dann häufig von den Vertretern dieser philosophischen Systeme Inkonsequenz und/oder geistiger Diebstahl vorgeworfen.

    Emanation (von lat. »emanare« = herausfließen) In der Philosophie die Auffassung, dass alles Existierende aus einer unveränderlichen, vollkommenen Gottheit hervorgeht. Vertreter dieser Auffassung sind u. a. Aristoteles, Plotin und Meister Eckhart.

    Entelechie (von gr. »enteles« = vervollkommnen und »echein« = haben) Etwas, das sein Ziel (gr. »Telos«) in sich beinhaltet.

    Jedes Lebewesen hat in seinen Zellen Gene, Erbfaktoren, die schon bei der Entstehung der Zelle festlegen, wie die ausgewachsene Gestalt aussehen und funktionieren wird. Die Entelechie des Baumes ist, Früchte zu tragen. Die Entelechie des Tieres, Junge zu haben. Die Entelechie des Menschen zu denken.


    (Letzterem Satz werden aber nicht alle Philosophen zustimmen.) Bei Aristoteles sind die Dinge durch ihren Zweck bestimmt.

    Epikur (341–270 v. Chr.) Griechischer Philosoph, Begründer des Epikureismus.

    Epikureismus Eine der zwei vorherrschenden Lebensphilosophien in der Antike (neben dem Stoizismus). Das Ziel des Lebens sei die Gewinnung von Lust und die Vermeidung von Unlust. Da hemmungslose Bedürfnisbefriedigung aber nicht zu Lust, sondern zu Unlust führe, müsse die Vernunft das Streben nach Glück leiten und zügeln (wie später bei Spinoza). Aber auch bei aller vernünftigen Beschränkung, im Gegensatz zu den Stoikern, ist Glück, Freude, Lust (oder welche Wörter man auch immer benutzen mag) und nicht die Leidenschaftslosigkeit das Ziel oder der Zweck des Lebens. Menschen, die nur auf Sinnenlust aus sind, werden noch heute vielfach Epikureer genannt. Zu Unrecht, denn für Epikur bestand die höchste Lust im philosophischen Erkennen. Ein Motto der Epikureer war: »Lebe verborgen!« Staat und Politik wurden gering geschätzt. Das Leben im privaten Kreis wurde vorgezogen.

    Erfahrung Im weitesten Sinne synonym oder ähnlich wie Erlebnis, Wahrnehmung, Gefühle, Erkenntnis. Erfahrung im weiten Sinne ist alles, was ein Mensch bewusst erlebt. Im engeren Sinne bedeutet Erfahrung »in geordneten Zusammenhang gebrachte Erlebnisse, Gefühle etc.«.

    Der Mensch hat dreierlei Wege, klug zu handeln: erstens durch Nachdenken, das ist der edelste; zweitens durch Nachahmen, das ist der leichteste; und drittens durch Erfahrung, das ist der bitterste. Konfuzius

    Eristik (nach Eris, der griechischen Göttin der Zwietracht) Redestreit. Das Geschick zum (philosophischen und wissenschaftlichen) Streitgespräch.

    Eros In der griechischen Mythologie Gott der Liebe dargestellt als geflügelter Jüngling mit Pfeil und Bogen. Begierde, Verlangen, Streben. Heraufsteigende, motivierte Liebe. (Gegensatz: »agape«, siehe auch philia) Bei Platon Antrieb zum philosophischen Erkennen. Bei Freud der Lebenstrieb im Gegensatz zum Todestrieb. Außerhalb der Philosophie Liebe verbunden mit Sexualität.

    Eschatologie (von gr. »eschaton« = das Letzte) Religiöse oder philosophische Aussagen über (angenommene) letzte Ereignisse, vom Endschicksal des einzelnen Menschen und der Welt.

    Esoterik (von gr. »esoterikos« = innerlich) Grenz- oder Geheimwissenschaft. Unter dem Begriff Esoterik werden jede Menge von Praktiken, Techniken und Denkrichtungen zusammengefasst, die zum Teil nur lose verbunden sind oder sich zum Teil widersprechen. In der Regel zeichnen sich esoterische Auffassungen dadurch aus, dass versucht wird, über die materielle Welt und über das praktische tägliche Leben hinaus auf das Geistige, Seelische des Menschen und der Welt insgesamt hinzuweisen. Die Naturwissenschaften, aber auch die traditionellen Religionen werden als zu eng angesehen, um dieses Geistige, Seelische des Menschen und der Welt zu begreifen und die Welt vollständig zu erklären. Die esoterischen Lehren gleichen in der Regel Mythen, wie sie auch in den Religionen vorhanden sind. Unter philosophisch gebildeten und denkenden Menschen findet man in der Regel keine Esoteriker, da Philosophie eine höhere Form des Herangehens an das Sein darstellt. Viele Tatbestände, Erscheinungen, Erlebnisse, Ereignisse (oder welche Wörter man dafür auch immer benutzen mag), die in vielen philosophischen Theorien diskutiert und problematisiert werden, werden in der Esoterik unreflektiert benutzt (zum Beispiel Gott, Seele, Ich, Welt, Sein, Raum, Zeit).

    Essay (von franz. »essai« = Versuch) Anspruchsvoller Aufsatz.

    Essenz (von lat. »essentia« = Wesen oder wahre Natur einer Sache) Das Wesentliche an einer Sache.

    Eudämonismus (von gr. »eudaimonia« = Glück) Die philosophische Auffassung, dass das Glück des Einzelnen oder aller Menschen der Sinn menschlicher Existenz ist. Siehe auch Utilitarismus und Pragmatismus.

    Evidenz (von lat. »e-videns« = einsichtig, offenbar) Gewissheit, Klarheit.

    Evolution (von lat. »evolvere« = herausrollen, -wälzen, entwickeln) Entwicklung, die langsam und kontinuierlich vor sich geht (Gegensatz Revolution) und in deren Verlauf es zu qualitativ höheren Entwicklungsstufen kommt. Evolution gibt es im gesamten Universum und im übertragenen Sinne im geistigen Bereich. Besonders wichtig nicht nur für die Biologie, sondern auch für die Philosophie ist die Evolutionstheorie Darwins und die aus ihr hervorgegangene Evolutionäre Erkenntnistheorie.

    Exekutiv (von lat. »exsequi« = ausführen, vollstrecken) ausführend.

    Exekutive Regierung. Ausführende Macht in einem Staat.

    Bild dient nur der Auflockerung der Textwüste.
    Ähnlichkeiten mit irgendeiner Regierung wären rein zufällig.

    Existenz (von lat. »existentia« = Dasein) Vorhandensein, Dasein, Leben.

    Existenzial Bei Heidegger ein Grundtatbestand menschlichen Daseins, zum Beispiel Angst und Sorge.

    Fatalismus (von lat. »fatalis« = durch das Schicksal bestimmt) Sich ins als unabwendbar angesehene Schicksal ergeben.

    Feuerbach, Ludwig (1804–1872) Deutscher Philosoph und Religionskritiker,. Vertreter des Materialismus. Die bisherige Philosophie sei Hirngespinsten nachgejagt (Gott, Jenseits, Welt der Ideen etc.). Es gehe darum, die Wirklichkeit des Diesseits, den Menschen und die Natur zum Gegenstand der Philosophie zu machen. Die sinnlich wahrgenommene Welt, das Hier und Jetzt ist für Feuerbach die einzige Wirklichkeit. Wahrheit, Wirklichkeit und Sinnlichkeit seien identisch.

    »Nicht Gott schuf den Menschen
    nach seinem Bilde [...],
    sondern der Mensch schuf [...]
    Gott nach seinem Bilde.«
    Ludwig Feuerbach


    Fichte, Johann Gottlieb (1762–1814) Deutscher Philosoph, Vertreter des subjektiven Idealismus. In einem vorbewussten Stadion setze das Ich sein eigenes Sein. Als Nächstes setze es sich ebenfalls unbewusst ein Nicht-Ich, die Welt, entgegen, um an etwas tätig sein zu können. Da das Nicht-Ich eine unbewusste, dem bewussten Wollen entzogene Schöpfung des Ichs sei, erscheine es als etwas Fremdes und deshalb könne das Ich auch nicht nach Belieben darüber verfügen, zum Beispiel sich nicht über die Naturgesetze hinwegsetzen.

    Was für eine Philosophie man wählt, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist. Johann Gottlieb Fichte

    Fideismus (von lat. »fides« = Glauben, Vertrauen) Auffassung, dass nur durch den Glauben an die göttliche Offenbarung Wahrheit erkennbar ist, nicht durch Vernunft und Wissenschaft. Gegensatz: Szientismus.

    Fiktionalismus (von lat. »fictio« = etwas, das nur in der Einbildung existiert) Philosophische Vorstellung, das alles Wahrgenommene nur Fiktionen sind.

    Finalität (von lat. »final« = der Schluss bzw. das Ende von etwas) Die Erklärung einer Handlung oder eines Geschehens aus Sicht des Zwecks oder des Ziels, nicht aus den Ursachen wie bei der Kausalität. Die Finalität neigt dem Determinismus zu, muss aber nicht notwendigerweise mit ihm verbunden sein.

    Frege, Friedrich Ludwig Gottlob (1848–1925) Deutscher Philosoph, Mathematiker und Logiker. Begründer der modernen Logik und der Sprachanalyse. Hatte eine große Bedeutung für die Philosophie des 20. Jahrhunderts, besonders im angelsächsischen Raum. Beeinflusste u. a. Russell und Wittgenstein.

    Galilei, Galileo (1564–1642). Sehr bedeutender italienischer Astronom, Mathematiker und Physiker, der auf verschiedenen Gebieten der Naturwissenschaft Bahnbrechendes geleistet hat. Er benutzte als erster ein Fernrohr zur Himmelsbeobachtung und machte dabei bedeutende astronomische Entdeckungen, die das kopernikanische Weltbild stützte. Wurde unter Androhung der Folter von der Katholischen Kirche gezwungen, zu widerrufen, dass sich die Erde um die Sonne dreht. Nach dem Inquisitionsprozess soll er trotzig gesagt haben: »Und sie bewegt sich doch!« (Und gedacht hat er vielleicht: »Aber deshalb werde ich mich doch nicht von diesen mittelalterlichen Trotteln foltern lassen.«)

    Genealogie (von gr. »genesis« = Geburt, Schöpfung. Ursprung, Werden) Lehre vom Ursprung, der Aufeinanderfolge und der Verwandtschaft (in der Regel von Menschen. Möglicherweise aber auch von anderem, zum Beispiel bei Nietzsche »Genealogie der Moral«).

    Gide, André (1869–1951) Französischer Schriftsteller, Literatur-Nobelpreisträger. Stand zeitweilig dem Kommunismus nahe und wandte sich unter dem Eindruck der Entwicklung in der stalinistischen Sowjetunion von diesem ab.

    Glucksmann, André (1937–2015) Französischer Philosoph (Sohn österreichisch-jüdischer Emigranten), Vertreter der französischen »Neuen Philosophie«, die eine entschiedene Kritik totalitärer Systeme betreibt. Philosophen seien verantwortlich für die Folgen ihres Denkens, zum Beispiel Marx und Nietzsche. »Ideologien sind das Alibi des Hasses.«

    Goethe, Johann Wolfgang von (1749–1832). Deutscher Dichter, Schriftsteller, Naturwissenschaftler, Kunsttheoretiker, Beamter und Staatsmann. Er gilt als der größte deutsche Dichter und als eine der hervorragendsten Personen der Weltliteratur. Für Goethe war Religion und Philosophie eine Sache des Gefühls, nicht des Denkens. Goethe wollte eine heilige Scheu und Ehrfurcht vor dem Ewigen, dem Geheimnis, dem Unerforschlichen. Er wendete sich gegen jede rationale Bestimmung und Deutung der religiösen Erlebnisse und des religiösen Glaubens. Er bekannte sich zu Spinozas Pantheismus und glaubte an die Wiedergeburt. In seinen Gesellschaftspolitischen Auffassungen war er voraufklärerisch. Seine Äußerungen zu Religion und Philosophie sind so vielfältig und zum Teil widersprüchlich, dass Menschen unterschiedlicher Auffassungen aus seinem reichen Zitatenschatz schöpfen können.

    Es ist nicht genug zu wissen – man muss auch anwenden. Es ist nicht genug zu wollen – man muss auch tun. Johann Wolfgang von Goethe

    Haeckel, Ernst (1834–1919) Deutscher Biologe und Naturphilosoph, Vertreter eines Naturwissenschaftlichen Materialismus, bedeutendster deutscher Schüler Darwins. Vertrat einen monistisch-atheistischen Standpunkt. Wie in der Natur gebe es auch in der Gesellschaft, Kultur, Politik etc. einen evolutiven Fortschritt. Formulierte das »Biogenetische Grundgesetz«:

    Die Ontogenese ist die verkürzte Rekapitulation der Phylogenese.

    Das heißt auf die Menschheit bezogen, die Entwicklung des einzelnen Menschen von der befruchteten Eizelle zum geschlechtsreifen Erwachsenen ist die verkürzte und allerdings etwas abgewandelte Wiederholung der Entwicklung von der Urzelle zur menschlichen Gattung.

    Hawking, Stephen (geb. 1942) Bedeutender englischer Physiker, der vielbeachtete Bücher zu kosmologischen Themen veröffentlicht hat. Sitzt fast bewegungsunfähig im Rollstuhl und wird in der Fachwelt oft als einer der klügsten derzeit lebenden Menschen angesehen.

    Hedonismus (von gr. »hedone« = Lust) Philosophische Auffassung, nach der Sinnengenuss oder Lust das höchste ethische Prinzip ist.

    Hermeneutik (von gr. »hermeneutike techne« = Auslegekunst) Ein wissenschaftlich-philosophisches Verfahren der Interpretation von Texten, Kunstwerken oder weitergehend des menschlichen Lebens. Die Symbolfigur ist der Götterbote Hermes. Die moderne Hermeneutik versucht Sinnzusammenhänge in Lebensäußerungen jeglicher Art zu verstehen (Kunstwerke, Handlungen, geschichtliche Ereignisse, Institutionen etc.). Die Hermeneutiker gehen in der Regel davon aus, dass der Sinn von den Interpreten in die Ereignisse hineingelegt würde. Auch hier wieder treffen wir auf ein subjektiv-idealistisches Element in der Gegenwartsphilosophie.

    Heuristik (von gr. »heuriskein« = finden) Lehre von den Verfahren, Erkenntnisse zu gewinnen und Probleme zu lösen.

    Hobbes, Thomas (1588–1679) Englischer Philosoph, Vertreter des Staatsabsolutismus. Der Staat sei ein sterblicher Gott, der von seinen Untertanen absoluten Gehorsam erwarten könne. Anders sei Frieden und Sicherheit nicht zu erreichen. Im Unterschied zu den damaligen Gepflogenheiten waren seine Auffassungen in der Ethik und der Politik frei von allen religiösen und theologischen Gesichtspunkten. Er versuchte als Erster, die mechanische und mathematische Naturerklärung Galileis auf die Geschichte und Gesellschaft anzuwenden. Hatte ein sehr negatives Menschenbild.

    Holismus (von gr. »holon« = das Ganze) Eine philosophische Grundhaltung, nach der alle Wirklichkeitsbereiche eine aus Stufen bestehende echte Ganzheit darstellen. Keine besondere philosophische Lehre, sondern eine Auffassung, die in verschiedenen, divergierenden Lehren auftauchen kann, zum Beispiel sowohl in materialistischen wie idealistischen Lehren. Eine Gegenposition vertritt der Poststrukturalismus mit dem Partikularismus.

    Hume, David (1711–1776) Englischer Philosoph, Vertreter des Empirismus und des Skeptizismus. Kausalität und Substanz seien nicht wahrnehmbar, sondern unsere Konstrukte, ohne die wir im Alltagsleben allerdings nicht auskämen. Vertreter des psychologischen Aktualismus. Wenn man alle konkreten Bewusstseinsinhalte ausklammere, dann bliebe kein »Ich« mehr übrig. Beeinflusste stark den Radikalen Konstruktivismus. Vorläufer des Utilitarismus. Moralisches Handeln zeige sich in seiner Nützlichkeit. Gegner der Religion. Die meisten Menschen verbänden die Religion unabänderlich mit Fanatismus, Aberglauben, scheinheiliger Frömmigkeit, Intoleranz etc. Das alles sei schlimmer, als wenn es gar keine Religion gäbe.

    Bleib nüchtern und vergiss nicht, skeptisch zu sein! David Hume

    Hutcheson, Francis (1694–1747) Irisch-schottischer Philosoph, der besonders wegen der von ihm vertretenen Gefühlsethik von Bedeutung ist. Er bestritt, dass Vernunft Ethik begründen könne. Stattdessen vertrat er die Auffassung, dass der Mensch angeborene, altruistische Gefühle habe. Er sorge nicht nur für sein eigenes, sondern auch für das Wohlergehen anderer, weil dies in ihm Freude auslöse. Er strebe deshalb Zustände an, in der das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl erreicht werde. Damit wurde Hutcheson zu einem der Begründer des Utilitarismus. Schönheit käme nicht den Dingen zu, sondern sei das Ergebnis eines ästhetischen Sinns im Menschen.

    Schönheit liegt im Auge des Betrachters.

    Hypothese (von gr. »hypo« = unter/unten und »thesis« = Platz, Stelle, »unterhalb einer Behauptung«) Annahme, unbewiesene wissenschaftliche Aussage, die aber auf Basis von Wahrnehmungen und Denken aufgestellt wird. Religiöse Aussagen sind keine Hypothesen.

    Implikation (von lat. »implicare« = einwickeln) Verflechtung. Bezeichnung für eine logische »Wenn ..., dann ...«-Beziehung.

    Implizieren Bedeuten, einbeziehen.

    Indien Die Philosophie Indiens hat sich völlig unabhängig von der in Europa entwickelt. In ihr treten im Prinzip die gleichen Grundpositionen auf wie in der abendländischen Philosophie. Die Gewichtungen waren allerdings etwas anders. Folgende Grundzüge sind erkennbar:

    1. Die Verbindung zwischen Philosophie und Religion war im alten Indien wesentlich stärker als im antiken Griechenland. Eine Grenze ist häufig nicht feststellbar. Bis in die Gegenwart hinein ist das Verhältnis von Philosophie und Religion in Indien sehr eng, ganz anders als in Europa.
    2. Einzelne Philosophen treten seltener hervor. Die Theorien sind oft nicht konkreten Personen zuzuordnen.
    3. Indische Philosophie wurde häufig wie eine Geheimlehre behandelt, die nur wenigen mitgeteilt und nicht öffentlich diskutiert wurde.
    4. Verbreiteter als in Europa ist in Indien
      • der Glaube an die Wiedergeburt, an die Seelenwanderung,
      • das Leben als Leiden ansehen
      • Erlösungen vom Leiden als Ziel allen Handelns ansehen
      • Geringschätzung des Irdischen, Abwendung vom tätigen Leben, Askese.

    Zwei wichtige in Indien entstandene religiös-philosophische Lehren sind der Brahmanismus und der Buddhismus.

    Individualismus (von lat. »individuus« = unteilbar) Eine Person, ein Individuum (ein »unteilbares Subjekt«) praktiziert seinen eigenen Lebensstil, ohne danach zu fragen, inwieweit er mit dem allgemein praktizierten Leben übereinstimmt. Kann (muss aber nicht automatisch) bedeuten, dass man die eigenen Interessen über die Interessen der Gesamtheit stellt. Von Menschen, die die (angeblichen oder tatsächlichen) Interessen der Gesamtheit in den Vordergrund stellen, wird Individualismus oft mit Egoismus gleichgesetzt, was in den meisten Fällen aber nicht stimmt. Siehe auch Universalismus.

    »Alle hochgetriebene Individuation
    kehrt sich gegen das Ich und neigt
    wieder zu dessen Zerstörung.«
    Herrmann Hesse (1877–1962)
    Deutschsprachiger Schriftsteller


    Inkarnation (von lat. »incarnatio« = ins Fleischliche) Menschwerdung, Fleischwerdung (eines Gottes). Auch die Wiedergeburt einer Seele in einem anderen Körper.

    Intellektualismus 1. Philosophische Lehre, die behauptet, dass alles durch den Verstand oder die Vernunft erkennbar und steuerbar sei. Damit einher geht in der Regel eine Abwertung des Gefühls. 2. Der Intellektualismus als ontologische Position behauptet, der Kern des Seins sei eine Art Weltvernunft. Hauptvertreter ist Hegel. Gegenposition ist der Voluntarismus, wie ihn besonders Schopenhauer und Nietzsche vertreten.

    Interdependenz (von lat. »inter« = zwischen und »dependere« = abhängen) Gegenseitige Abhängigkeit und Wechselwirkung von Dingen, Tatbeständen, Eigenschaften etc. Siehe auch Dependenz.

    Intersubjektiv (lat.) vielen Subjekten (Personen) zugänglich, eigen, verständlich.

    Jacobi, Friedrich Heinrich (1743–1819) Deutscher Philosoph und Schriftsteller. Vertrat eine christliche Gefühlsphilosophie und beeinflusste die Romantiker. Zu Kant und zur Sprache schrieb er:

    Und es fehlte nur noch an einer Kritik der Sprache, die eine Metakritik der Vernunft sein würde, um uns alle über Metaphysik eines Sinnes werden zu lassen. Friedrich Heinrich Jacobi

    Er kritisierte das kantische »Ding an sich«. Ohne dessen Annahme komme man nicht in die kantische Philosophie hinein, aber mit dessen Annahme könne man nicht in ihr bleiben.

    Jonas, Hans (1903–1993) Deutsch-amerikanischer Philosoph und Religionshistoriker. Beschäftigte sich besonders mit dem Verhältnis von Mensch und Natur. Trat für eine Ethik des verantwortungsvollen Handels innerhalb der technischen Zivilisation ein. »Worst case-Denken«: Wenn eine bestimmte technische Entwicklung auch nur die Möglichkeit beinhaltet, das Fortexistieren der menschlichen Gattung zu gefährden, sollte sie nicht entwickelt werden. Neufassung des kantischen kategorischen Imperativs:

    Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf der Erde. Hans Jonas

    Die Verantwortung für den Mitmenschen müsse ergänzt werden, um die Verantwortung für künftige Generationen und die Natur. Jonas kritisierte den Poststrukturalismus.

    Kepler, Johannes (1571–1630) Deutscher Astronom, Mathematiker und Philosoph. Erkannte und formulierte die mathematischen Gesetze der Planetenbewegungen – die Keplerschen Gesetze. Vollbrachte darüber hinaus auf fast allen Gebieten der damaligen Naturwissenschaft Bahnbrechendes.

    Kierkegaard, Sören (1813–1855) Dänischer Philosoph. Urvater des Existentialismus. Misstraute allem Allgemeinen, allem Abstrakten. Alle wirklichen Probleme im Leben seien immer praktische Einzelfragen. Während das objektive Denken gegen das Subjekt und dessen Existenz gleichgültig sei, sei der subjektive Denker als Existierender an seinem Denken interessiert, er existiere ja darin. Existenz ist für Kierkegaard der innerste, unfassbare, personale Kern des Einzelmenschen. Die Grundsituation des Menschen sei Angst und Verzweiflung, Krankheit zum Tode. Es gebe drei menschliche Existenzmöglichkeiten: 1. Im ästhetischen Stadium verhalte sich der Mensch (passiv) anschauend und genießend. Er verfalle so der Daseinsleere. 2. Im ethischen Stadium ergreife der Mensch (aktiv) bestimmte Möglichkeiten und verwerfe andere. Durch Entscheidung gelange er zu Wirklichkeit und Dasein. 3. Im religiösen Stadium erkenne der Mensch dann allerdings, dass auch ethische Entscheidungen nichts an seiner Endlichkeit und Nichtigkeit ändern würden. Aus der äußersten Verzweiflung darüber könne der Mensch nur dann einen Ausweg finden, wenn sich ihm, ohne dass er selbst etwas dazu tun kann, eine neue Möglichkeit eröffne. In dieser erfahre er, dass er eine Mischung aus Endlichkeit und Unendlichkeit sei, von Gott abhänge etc. pp.

    Jeder Philosoph ist Herr in seinem Irrenhaus. Jean Paul

    Klages, Ludwig (1872–1956) Deutscher Philosoph, einer der Vertreter der Lebensphilosophie. Die fließenden kontinuierlichen Lebensvorgänge könnten vom diskontinuierlichen menschlichen Bewusstsein nur unvollkommen begriffen werden. Der Leib sei die Erscheinung der Seele und die Seele sei der Sinn des Leibes. Während Leib und Seele untrennbar zusammengehörige Pole des Lebens seien, dränge sich der Geist wie ein Keil zwischen beide. Die vom Geist nicht beeinträchtigte Seele erlebe die Welt als eine Folge von Bildern, von beseelten Gestalten. Der Geist zerhacke das kontinuierliche Fließen in kleine Stücke. Der Geist sei eine dem Leben fremde, feindliche, außerraumzeitliche, akosmische Kraft.

    Kognitiv (von lat. »cognoscere« = erkennen, erfahren) Wissend, erkennend u. ä. m.

    Kognitivismus (von lat. »cognitio« = Erkenntnis) 1. Gegenposition zum Skeptizismus. 2. Gegenposition zum ethischen Relativismus bzw. Nihilismus.

    Kohärenz (von lat. »cohaerere«= zusammenhängen) Innerer oder äußerer Zusammenhang.

    Kondition (von lat. »condicio« = Übereinkunft, Bedingung, Zustand) Geschäftsbedingungen. Körperlicher Zustand bzw. körperliche Leistungsfähigkeit.

    Konditional Bedingend. In der Logik eine »Wenn ..., dann ...«-Beziehung.

    Konditionalismus Philosophische Richtung, in der der Begriff »Ursache« durch den Begriff »Bedingung« ersetzt wird.

    Konfession (von lat. »confessio« = Bekenntnis) Glaubensbekenntnis, Glaubensgemeinschaft.

    Konfuzius Latinisierter Name des bedeutendsten chinesischen Philosophen Kung Fu Tze (551–479 v. Chr.), der die chinesische Philosophie und Gesellschaft bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts in kaum überschätzbarer Weise geprägt hat.

    Der Edle ist würdevoll, ohne überheblich zu sein; der Gemeine ist überheblich, ohne würdevoll zu sein. Der Edle strebt nach Harmonie, nicht nach Gleichheit; der Gemeine strebt nach Gleichheit, nicht nach Harmonie. Der Edle stellt Anforderungen an sich selbst; der Gemeine stellt Anforderungen an die anderen Menschen. Konfuzius

    Konjunktion (von lat. »con-iungere« = zusammen- bzw. verbinden) Verbindung. In der Logik gibt es den Konjunktor »und«.

    Konszientialismus (von lat. »conscientia« = Mitwissen, Bewusstsein, Gewissen) Die Auffassung, dass die Dinge unserer Erkenntnis nur als Inhalte unseres Bewusstseins existieren. Siehe auch Subjektiver Idealismus .

    Konvention (von lat. »conventio« = Übereinkunft) Vertrag, Abmachung.

    Konventionalismus Philosophische Lehre, nach der wissenschaftliche Theorien ihre Geltung durch Konvention erlangen und nicht dadurch, dass sie objektiv wahr sind.

    Kopernikus, Nicolaus (1473–1543). Bedeutender deutsch-polnischer Astronom. Begründete das »Kopernikanische Weltbild«, nach dem die Erde ein Körper ist, der um die Sonne kreist und sich dabei um seine eigene Achse dreht. Er löste damit die mittelalterliche Vorstellung ab, dass die Erde der unbewegliche Mittelpunkt des Universums sei.

    Kreationismus (von lat. »creare« = erschaffen) Fundamentalchristliche Auffassung, nach der die Welt von einem intelligenten Schöpfer (Gott) kreiert wurde und es eine andere vernünftige Erklärung für die Welt und ihre konkrete Beschaffenheit nicht gebe. Der Kreationismus ist besonders in den USA eine starke Bewegung, die erreichen will, dass die Evolutionstheorie Darwins an den Schulen nicht mehr unterrichtet werden darf oder aber neben dieser auch der Kreationismus im Biologieunterricht behandelt werden muss.

    Kreativ (von lat. »creare« = erschaffen) Schöpferisch im geistigen und/oder materiellen Bereich, etwas Neues hervorbringen.

    Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646–1716) Deutscher Philosoph und Universalwissenschaftler. Vollbrachte hervorragende Leistungen auf fast allen Wissensgebieten. Mathematiker, Erfinder der Differenzialrechnung. Einige seiner physikalischen Ideen waren zukunftsweisend, wie weiter vorne im Zusammenhang der Erklärung des Begriffes Kraft gezeigt worden war. Leibniz war auch Staatsrechtler, Historiker und politischer Aktivist. Einige seiner Ideen auf diesen Gebieten werden heutzutage allerdings einhellig abgelehnt. So schlug er z. B. vor, die Kreuzzüge wieder einzuführen, um darüber die Einigung Europas voranzutreiben. Auch behauptete er, unsere Welt sei die beste aller möglichen. Da sie von einem allmächtigen, allwissenden und gleichzeitig »Lieben« Gott geschaffen worden sei, könne dies gar nicht anders sein.

    Wer seine Schüler das ABC gelehrt, hat eine größere Tat vollbracht als der Feldherr, der eine Schlacht geschlagen. Gottfried Wilhelm Leibniz

    Lessing, Gotthold Ephraim (1729–1781) Einer der Hauptvertreter der Deutschen Aufklärung, Kämpfer gegen Unfreiheit, für Menschlichkeit und religiöse Toleranz. Sinn der Menschheitsgeschichte sei die fortschreitende Erziehung der Menschen zu Vernunft und Liebe. Die geschichtlichen Religionen seien Stufen auf diesem Weg. Die Vervollkommnung des Menschen sei allerdings ein nie endender Prozess. Lessing neigte in diesem Zusammenhang der Lehre von der Seelenwanderung, also der Wiedergeburt zu. Heutzutage ist Lessing weitgehend nur noch als Dichter bekannt.

    Letztbegründung Eine Behauptung, die einer weiteren Begründung nicht bedarf. Im gesellschaftlichen, zwischenmenschlichen Bereich muss eine solche Letztbegründung »intersubjektivierbar« sein. Ob eine solche Letztbegründung möglich sei, ist in der gegenwärtigen Philosophie umstritten.

    Leukipp (geb. ca. 480/470 v. Chr.) Griechischer Philosoph, erster Vertreter der Atomtheorie und Lehrer Demokrits.

    Lichtenberg, Georg Christoph (1742–1799) Deutscher Physiker, der einer breiteren Öffentlichkeit aber besonders wegen seiner scharfsinnigen und bissigen Aphorismen bekannt ist.

    Logos (von gr. »logos« = ) Begriff, Argument; Gesetz; Lehre; Menschliche Vernunft; Göttliche Vernunft u. v. Ä. m.

    Locke, John (1632–1704) Englischer Philosoph, politischer Theoretiker und Staatsmann. Begründer des Liberalismus, geistiger Wegbereiter der »Glorious Revolution«, der englischen bürgerlichen Revolution im 17. Jahrhundert. Mit seinen erkenntnistheoretischen Überlegungen Vorläufer von Berkeley und Hume. Konsequenter Vertreter des Empirismus. Es sei nichts im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war.

    »Was unser Denken begreifen
    kann, ist kaum ein Punkt,
    fast gar nichts im Verhältnis zu dem,
    was es nicht begreifen kann.«
    John Locke


    Mach, Ernst (1838–1916) Österreichischer Physiker und Philosoph. Begründer des Empiriokritizismus (zusammen mit Avenarius), einer Richtung des Positivismus. Materielle Dinge seien nur stabile Zusammenhänge von Empfindungselementen. Beeinflusste Einstein. Seine Theorien wurden Ausgangspunkt für die Entstehung des Wiener Kreises. Sein Denken beinhaltete auch aufklärerische und sozialkritische Elemente.

    Manipulation (von lat. »manus« = Hand). Ursprünglich (geschickter) Handgriff 1. (In der Regel mündliche oder schriftliche) Einwirkung auf andere, um bei diesen ohne oder gegen deren Wissen ein bestimmtes Denken, Fühlen und Verhalten hervorzurufen. 2. Veränderung, die (nicht unbedingt aber tendenziell) als etwas Negatives oder Verbotenes angesehen wird.

    Marcel, Gabriel (1889–1973) Französischer Philosoph und Dramatiker, Vertreter eines christlichen Existentialismus, der diese Zuordnung aber ablehnte. Er nannte sich Neo-Sokratiker. Ursprünglich Jude, trat 1929 zum Katholizismus über. Der frühe Tod der Mutter bestimmte seine Philosophie. Er sieht die Frau und Mutter in einem schutzlosen Raum dem gierigen Haben-Wollen des Mannes ausgeliefert (Ödipuskomplex). Haben- und Verfügen-Wollen sei die (verwerfliche) neuzeitliche Einstellung des Menschen. Sie beraube den Menschen des Bezugs zum anderen Menschen. Wahres Sein beruhe auf dem Dialog mit dem Anderen, dem »Du«, und letztlich mit Gott, als dem »absoluten Du«. Durch Überschreitung des eigenständlichen Bewusstseins werde das Sein als Mysterium erlebt, an dem der Mensch teilhabe.

    Marcus Aurelius (121–180) Der einzige römische Kaiser, der Philosoph war. Schrieb seine Philosophie in den »Selbstbetrachtungen« nieder. Vertrat dort die stoischen Tugenden der Bedürfnislosigkeit, Milde und Nachsicht. Prunk und Bequemlichkeit verachtete er. Sein Leben verbrachte er größtenteils in den Heerlagern seiner Legionen. Das Christentum verachtete er als einen Rückfall in barbarischen Aberglauben.

    Asien, Europa – Winkel der Welt; der ganze Ozean – ein Tropfen des Alls! Der Athos – eine winzige Scholle des Weltganzen; die ganze Gegenwart – ein Augenblick der Ewigkeit! Marcus Aurelius

    (Der Athos ist ein Berg in Nordafrika, über 2000 Meter hoch.)

    Maxime (von lat. »maxime« = am meisten, am liebsten) Leitsatz, Grundsatz der Lebensführung.

    Mentalismus (von lat. »mens« = Verstand, denkender Geist) In der Philosophie die Auffassung, dass der Geist die wirkliche Welt ist. Eine moderne Form des Idealismus. In der Psychologie die Erforschung mentaler Prozesse selbst, nicht ihrer (eventuellen) physiologischen Grundlagen oder des von ihnen (eventuell) verursachten Verhaltens.

    Mill, John Stuart (1806–1873) Englischer Philosoph, bedeutender Vertreter des Empirismus. Die Erfahrung sei die einzige Quelle von Erkenntnis und die Induktion das einzige zulässige Erkenntnisverfahren. Er versuchte, eine einheitliche Methodologie für alle Wissenschaften zu begründen. Führte Mathematik auf Sinneswahrnehmung zurück und Logik auf die menschliche Art, zu denken.

    Montaigne, Michel de (1533–1592) Französischer Philosoph, Humanist, Schriftsteller und Politiker. Begründer des Essays als eigenständiger literarischer Form, die er benutzte, um seine Gedanken über Philosophie, Religion, Geschichte, Politik, Literatur, persönliche Lebensführung und Kindererziehung (Pädagogik) aufzuschreiben. Begründer des neuzeitlichen Skeptizismus. Gilt als Vorläufer der Aufklärung.

    »Das Staunen ist das Fundament der
    ganzen Philosophie; ihr Fortschreiten geschieht
    durch das fortgesetzte Untersuchen der Dinge;
    ihr Ende schließlich ist die Unwissenheit.«
    Michel de Montaigne


    Moore, George Edward (1873–1958) Einer der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, Mitbegründer der Analytischen Philosophie, der »Common Sense Philosophy« und der »Ordinary Language Philosophy«. Vertreter des (Naiven) Realismus und des Empirismus. Moore wandte sich sowohl gegen den Idealismus wie gegen den Skeptizismus. Er hielt es für eine ungeheuerliche Zumutung sich vorzustellen, die Welt sei eine Schöpfung des Geistes.

    Mutation (von lat. »mutatio« = Veränderung) Veränderung des Erbgutes bzw. der Gene. Dies führt der Evolutionstheorie nach zur Veränderung der Lebewesen und der Entstehung immer höherer Arten.

    Mystik (von gr. »myein« = [Augen oder Lippen] Schließen) Geheimlehre. Unter dem Begriff Mystik werden religiöse Aktivitäten zusammengefasst, die nicht auf das Jenseits gerichtet sind – wie es in den Religionen vorherrschend ist –, sondern die eine Vereinigung mit der Gottheit auch schon in dieser Welt, im Diesseits anstreben. Hierfür werden Praktiken und (angebliche) Erkenntnisse propagiert und praktiziert. Mystische Bewegungen hat es in verschiedenen Kulturen und Religionen gegeben.

    Das tiefste und erhabenste Gefühl, dessen wir fähig sind, ist das Erlebnis des Mystischen. Aus ihm allein keimt wahre Wissenschaft. Wem dieses Gefühl fremd ist, wer sich nicht mehr wundern und in Ehrfurcht verlieren kann, der ist seelisch bereits tot. Albert Einstein

    Als Mystiker werden im weiteren Sinne alle Menschen bezeichnet, von denen man meint, sie seien etwas realitätsfern, versponnen, wundergläubig und verträumt.

    Mysterium (Religiöses) Geheimnis.

    Mythos (von gr. »mythos« = Wort, Rede, Erzählung) In der Regel überlieferte Geschichten, Sagen etc. aus der Frühzeit eines Volkes. Es entstehen aber auch ständig neue Mythen, die einzelne Menschen oder Gruppen von Menschen entwickeln.

    Mythologie 1. Geordnete Gesamtheit der Mythen eines Volkes. 2. Die wissenschaftliche Lehre von den Mythen.

    Naturalismus In der Philosophie ein Sammelbegriff für monistische Auffassungen, die alles Existierende, ob materiell, geistig, ethisch etc. als nur aus der Natur heraus für existent und erklärbar halten (metaphysisch-ontologischer Naturalismus). Dies ist u. a. eine Absage an alles Supranaturalistische wie Gott, platonische Ideen etc. Alles dies bräuchte man nicht zur Erklärung der Welt (erkenntnistheoretischer Naturalismus). Ethischer Naturalismus bedeutet, dass ethische Auffassungen auf in der Natur Vorhandenes zurückführbar oder reduzierbar seien. Tiere und Kleinkinder, die noch nicht durch die jeweilige Kultur beeinflusst seien, strebten immer nach Lust und Vermeidung von Unlust. Daraus wird abgeleitet, Lust sei der oberste ethische Wert. Dem widersprach Moore, der behauptete, Ethik sei ein eigenständiger Phänomenbereich (nicht-naturalistische Ethik).

    Negation (von lat. »negare« = verneinen) Verneinung, Ablehnung. In der hegelschen Dialektik ein Aspekt der Antithese. In der Logik die Ausschließung »nicht«.

    Newton, Isaac (1643–1727) Sehr bedeutender englischer Naturwissenschaftler, Physiker und Mathematiker, der für die damalige Zeit Hervorragendes in Optik, Mechanik und Mathematik geleistet hat. Nach seinem Gravitationsgesetz ist es die gleiche Kraft, die den fallenden Apfel zur Erde zieht, die auch die Planeten in ihrer Bahn hält. Seine Annahme eines absoluten Raumes, einer absoluten Zeit und einer absoluten Bewegung galt ca. 200 Jahre lang unter vielen Naturwissenschaftlern als unumstößliche Wahrheit letzter Instanz. Besonders durch die Relativitätstheorie Einsteins gilt die newtonsche Physik als veraltet. Newton selbst sah Wissenschaft als einen nie endenden Prozess.

    In der Wissenschaft gleichen wir alle nur den Kindern, die am Rande des Wissens hier und da einen Kiesel aufheben, während sich der weite Ozean des Unbekannten vor unseren Augen erstreckt. Isaac Newton

    Nihilismus (von lat. »nihil« = nichts) Ein vieldeutiger Begriff, der immer etwas mit Verneinung zu tun hat. Kann bedeuten: 1. Die Existenz jeglicher allgemeingültiger Aussagen wird verneint. 2. Die Möglichkeit von Erkenntnis wird verneint. 3. Die Existenz irgendeines Sinns des Lebens, der Welt oder des Seins wird verneint. 4. Die Existenz allgemein verbindlicher ethischer Werte und Normen wird verneint. 5. Die Existenz, Wirksamkeit oder Erkennbarkeit Gottes wird verneint. Siehe auch Nonkognitivismus, Skeptizismus und Relativismus.

    Nonkognitivismus (von lat. »non« = nicht und »cognitio« = Erkenntnis) Position, nach der ethische Aussagen keine Aussagen über objektive Zustände sind. Ethischer Relativismus bzw. Nihilismus. Siehe auch Kognitivismus.

    Nous (gr.) Geist, Vernunft. Häufig benutzter Begriff in der antiken Philosophie. Objektiver Geist, Gott, Weltseele, erster Beweger sowie auch der denkende und unsterbliche Teil der subjektiven menschlichen Seele.

    Objekt (von lat. »obiectare« = entgegenwerfen, »objectus« = entgegenstellen) Das von mir bzw. anderen Subjekten unabhängig Existierende. Etwas, das für mein Denken oder Handeln von Interesse ist. Siehe auch Objektivismus und Objektiver Idealismus.

    Objektiv Das, was unabhängig von einem erkennenden Subjekt ist, unabhängig von subjektiven, geistigen »Zutaten« existiert.

    Objektivismus oder Objektphilosophie Bezeichnung für philosophisches Denken oder philosophische Systeme, die als Ausgangspunkt des Philosophierens ein wie auch immer geartetes vom Subjekt unabhängig existierendes objektives Sein haben. Unter diesen Begriff können allerdings völlig divergierende Philosophien subsumiert werden. Sowohl die materialistischen, wie die idealistischen Systeme. Gegensatz Subjektivismus.

    Ockhams Rasiermesser Eine philosophische und wissenschaftliche Regel der Einfachheit, der Sparsamkeit und der Kohärenz. Die einfachere, unkompliziertere Erklärung wird der komplizierteren Erklärung vorgezogen.

    Wenn wir während eines orkanartigen Sturms einen umgekippten Baukran sehen, dann ist die einfachste Erklärung die, dass der Sturm ihn zu Fall gebracht hat. Es könnte aber auch ein Meteor gewesen sein. Vielleicht ist auch gerade aus einem Gen-Labor ein wiedererschaffener Dinosaurier ausgebrochen. Diese Annahme setzt aber diverse andere Annahmen voraus: die Möglichkeit, Dinosaurier zu schaffen, dass sie ausgebrochen sind etc. Die Erklärung, dass der Sturm den Kran umgekippt hat, ist die einfachere, naheliegendere. Deshalb werden die komplizierteren Erklärungen mit Ockhams Rasiermesser weggeschnitten.


    Im praktischen Leben ist diese Methode unverzichtbar. Ob man mit ihr auch philosophisches Wissen erlangen kann, ist umstritten.

    Okkultismus (von lat. »occultus« = geheim, verborgen). Beschäftigung mit tatsächlich oder angeblich existierenden übersinnlichen Erscheinungen und Wahrnehmungen, zum Beispiel Magie – Glaube an Zauberei, an die Wirksamkeit ritueller Praktiken –, Telepathie – außersinnliche Gedankenübertragung –, Psychokinese – Bewegen von Gegenständen durch reine Geisteskraft, Hellsehen (aus Karten, Handflächen, Tiergedärmen) und Zukunftsvoraussage.

    Optimismus Die Welt und das Leben positiv beurteilen und die Annahme, dass sich die Welt im weiteren Verlauf der Entwicklung verbessern wird. Gegensatz Pessimismus. Ein populäres Beispiel, das aber keineswegs erschöpfend ist:

    Für den Optimisten ist das Glas halbvoll. Für den Pessimisten ist das Glas halbleer.


    Ordinary Language Philosophy Sich mit der Alltagssprache beschäftigende Philosophie. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr einflussreiche philosophische Strömung besonders in englischsprachigen Ländern. Siehe auch Analytische Philosophie.

    Ostwald, Wilhelm (1853–1932) Deutscher Chemiker (Nobelpreisträger) und Philosoph, Vertreter eines fortgeschrittenen naturwissenschaftlichen Materialismus. Begründete die philosophische Lehre vom »energetischen Monismus« bzw. des Energismus. Er hat Grundaussagen der Relativitätstheorie vorweggenommen.

    Panentheismus Versuch der Verschmelzung von Theismus und Pantheismus.

    Die ganze Welt ist in Gott, aber Gott ist mehr als die Welt.


    Panlogismus »All-Vernunftlehre«. Das Sein wird mit Vernunft gleichgesetzt oder die gesamte Wirklichkeit wird als von einem Vernunftprinzip durchwaltet angesehen. Hauptvertreter dieser Vorstellung ist Hegel.

    Parabel (von gr. »parabole« = Danebengehendes) Gleichnis, belehrende Erzählung.

    Paradigma (von gr. »para« = neben, über und »deiknynai« = erkennen lassen) Beispiel, Muster. In der Philosophie besonders Denkmuster.

    Parapsychologie Untersuchung von Phänomenen wie außersinnliche Wahrnehmung (Telepathie, Hellsehen, Präkognition, das heißt Zukunftsvoraussage, Retrokognition, das heißt außersinnliches Wissen um vergangene Ereignisse) und Psychokinese bzw. Telekinese, das heißt Bewegen von Gegenständen durch Gedanken. Es gibt eine Überschneidung mit dem Okkultismus. Der Unterschied ist aber, dass es unter den Parapsychologen auch Wissenschaftler und Philosophen gibt, was bei den Okkultisten nicht der Fall ist.

    Partikularismus (von lat. »part« = (An-)Teil) Ungefähr »den Teil über das Ganze stellen«. In der Philosophie die Untersuchung einzelner Teile des Seins ohne Berücksichtigung anderer Seinsbereiche. Oft verbunden damit ist die Auffassung, dass es keine alle Seinsbereiche verbindenden allgemeinen Prinzipien gebe. So u. a. im Poststrukturalismus.

    Pascal, (1623–1662) Französischer Philosoph, Physiker und Mathematiker. Pascal zeigte viele gute Beispiele für die Bedeutung des Skeptizismus, blieb aber ein tief religiöser Mensch. Das rationale und mathematische Denken lasse unsere tiefsten Bedürfnisse unbefriedigt.

    »Ein Tropfen Liebe ist mehr
    als ein Ozean Verstand.«
    Blaise Pascal


    Das Spannungsverhältnis zwischen Vernunft und Gefühl erzeuge einen »Bürgerkrieg im Menschen«. Mathematik sei der Ideal-Typus von Wissenschaft. In anderen Wissenschaften seien letztlich nur Ausschließungsbehauptungen sicher (Falsifikation).

    Die höchste Form der Verstandeserkenntnis ist, dass der Verstand seine eigenen Grenzen erkennt. Ein Verstand, der zu seinen Grenzen nicht vordringt, ist nur schwach ausgebildet. Blaise Pascal

    Peirce, Charles Sanders (1839–1914) Amerikanischer Philosoph, Logiker und vielseitiger Naturwissenschaftler. Begründer des Pragmatismus. Der Wahrheitsgehalt einer Aussage liege ausschließlich in ihrer praktischen Verwertbarkeit. Begründete auch die Semiotik, der Lehre von den Zeichen und deren Bedeutung.

    Perspektivismus Grundsätzlich die Auffassung, dass die Erkenntnis abhänge von der Perspektive des Erkennenden und deshalb immer beschränkt sei, keine objektive Wahrheit möglich sei. Siehe auch Relativismus .

    Perzeption (von lat. »percipere« = erfassen, wahrnehmen) Sinnliches Erfassen bzw. Wahrnehmen als erste Stufe der Erkenntnis. Siehe auch Apperzeption.

    Pessimismus Die Welt und das Leben negativ beurteilen und die Annahme, dass sich die Welt im weiteren Verlauf der Entwicklung nicht verbessern wird. Gegensatz Optimismus.

    Phänomen (von gr. »fainomeno« = Erscheinung) Ungewöhnliche Erscheinung. Mensch mit außergewöhnlichen Fähigkeiten.

    Phänomenalismus Philosophische Auffassung, der zufolge wir die Dinge nur so erkennen können, wie sie uns erscheinen, nicht, wie sie an sich sind. Geht auf Kant zurück.

    Philia (gr.) Liebe, Freundschaft, nichtsexuelle Liebe.

    Physik (von gr. »physis« = Natur) Eine Naturwissenschaft, die sich besonders mit dem Aufbau der unbelebten Materie, mit der Bewegung, mit den Strahlungen und den Kraftfeldern beschäftigt. Darüber hinaus stellt die Physik aber auch Hypothesen auf über den grundsätzlichen Aufbau der Welt, soweit diese mit naturwissenschaftlich-mathematischen Methoden erkennbar ist. Die Grenze zur Metaphysik kann allerdings fließend sein. Physikalische Theorien können von großer philosophischer Bedeutung sein. Begriffe wie Raum, Zeit, Bewegung und Materie haben in der modernen Physik eine andere Bedeutung als in den physikalischen Theorien früherer Jahrhunderte und heute noch im Alltagsverständnis. Manche philosophische Aussage, die dem Alltagsverstand als absurd erscheint, ist vor dem Hintergrund moderner physikalischer Theorien gar nicht mehr so absurd.

    Die moderne Physik führt uns notwendig zu Gott hin, nicht von ihm fort. Keiner der Erfinder des Atheismus war Naturwissenschaftler. Alle waren sie sehr mittelmäßige Philosophen. Arthur Stanley Eddington

    Physikalismus Neopositivistische Auffassung, nach der alle sinnvollen Aussagen sich auf empirisch wahrnehmbare physikalische Gegenstände und Prozesse beziehen (können). Alle wissenschaftlichen Thesen könnten prinzipiell in einer physikalischen Sprache wiedergegeben werden.

    Planck, Max (1858–1947) Deutscher Physiker, Begründer der Quantentheorie, die die Gesetze der mikrophysikalischen Gebilde (Lichtquanten, Elementarteilchen, Atome, Moleküle) entwickelt und erläutert. Neben Albert Einstein einer der bedeutendsten Physiker des 20. Jahrhunderts, der das Bild, das die heutige Naturwissenschaft von der Materie und damit von der materiellen Welt hat, entscheidend mit prägte.

    »Man klagt darüber, dass unsere Generation
    keine Philosophen habe. Mit Unrecht.
    Sie sitzen jetzt nur in einer anderen Fakultät.
    Sie heißen Max Planck und Albert Einstein.«
    Adolf von Harnack (1851–1930)
    Deutscher protestantischer Theologe


    Plotin (205–270) Römischer Philosoph der Spätantike. Wichtigster Vertreter des Neuplatonismus. Gott stehe jenseits aller Gegensätze und aller Fasslichkeit (negative Theologie). Gott sei das Höchste, Vollkommenste, Übergute usw. Gott ströme über in seiner Überfülle und schaffe dadurch alles andere (Emanation). Das höchste Ziel des Menschen und seine einzige Glückseligkeit bestehe darin, dass sich seine Seele mit dem Göttlichen, aus dem sie hervorgegangen sei, wieder vereinige. Beeinflusste mit dieser Idee stark Augustinus und die christlichen Mystiker.

    Man muss sein Auge gleichsam schließen, man muss ein anderes dafür eintauschen und eröffnen, das alle besitzen, dessen sich aber wenige bedienen. Plotin

    Pluralismus (von lat. »pluriens« = mehrfach) In der Philosophie eine Lehre, nach der es nicht nur eine Grundsubstanz, ein Grundprinzip etc. gibt (Monismus), auch nicht nur zwei (Dualismus), sondern viele nicht auseinander ableitbare Grundelemente, Seinsbereiche etc. In der Gesellschaft(stheorie) der Zustand bzw. die Befürwortung unterschiedlicher Vorstellungen, Organisationen etc., die um Einfluss ringen. Gegensatz: Totalitarismus.

    Postulat (von lat. »postulare« = fordern) Forderung, Behauptung. Im Gegensatz zur Hypothese wird beim Postulat nicht in Erwägung gezogen, dass dieses falsch sein könnte. Zum Beispiel können Behauptungen aufgestellt werden, die nur auf Basis bestimmter Postulate richtig oder plausibel sind. Im praktischen Leben sind Postulate nicht verzichtbar. Würden wir nicht von der Richtigkeit unserer Wahrnehmungen und Erinnerungen ausgehen, wären wir schnell handlungsunfähig. Problematisch wird es, wenn man die Richtigkeit von Erinnerungen und Wahrnehmung verabsolutiert und glaubt, absolute ontologische Wahrheiten aus ihnen ableiten zu können.

    Prädestination (von lat. »prä« = vor und »destinatus« = bestimmt) Vorherbestimmung, vorherbestimmtes Schicksal. Bei Augustinus und Calvin die Behauptung, Gott habe vor der Erschaffung der Menschen bereits beschlossen, welche davon die ewige Glückseligkeit erreichen und welche der ewigen Verdammnis anheimfallen. Auch in anderen Religionen, zum Beispiel im Islam, gab und gibt es ähnliche Vorstellungen. Die Prädestination ist aber sowohl im Christentum wie im Islam umstritten.

    Prädikat (von lat. »praedicare« = ankündigen) 1. Bewertung, Aussage. 2. Grammatik: Hauptaussage eines Satzes.

    Protagoras (um 481–411) Griechischer Sophist. Stellte den »Homo-mensura-Satz« auf: »Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der Seienden, wie sie sind, der nicht Seienden, wie sie nicht sind.«

    Qualität (von lat. »qualitas« = Beschaffenheit) Eigenschaft, Wert etc. Grundkategorie bei Aristoteles. In der von ihm ausgehenden Denktradition sind die Qualitäten einer Sache die Eigenschaften, die ihr notwendigerweise zukommen, die ihr Wesen ausmachen. Oft wird zwischen primären und sekundären Qualitäten unterschieden. Bei Kant eine Kategoriengruppe. Im dialektischen Denken bedeutet Qualität darüber hinaus »etwas Neues«, oft »Höheres«, auf dem Vorherigen beruhend, aber dennoch anders. In der Gegenwartsphilosophie wird vielfach versucht, die Qualität auf die Quantität zurückzuführen, zum Teil auch die Qualität in Quantität aufzulösen, so dass die Qualität als eine selbstständige Größe verschwindet.

    Quantität (von lat. »quantitas« = Menge, Größe, Umfang) Mess- oder zählbare Menge etc. Grundkategorie bei Aristoteles. Bei Kant eine Kategoriengruppe. Im dialektischen Denken können quantitative Änderungen qualitative Änderungen nach sich ziehen.

    Renan, Ernest (1823–1892) Französischer Schriftsteller und Religionsphilosoph. Lehnte eine auf christlichen Dogmen beruhende Moral ab. Hielt die Weiterentwicklung der Menschen zu Göttern für möglich.

    Revolution (von lat. »revolvere« = zurückwälzen, -rollen) Eine Entwicklung, die in einem plötzlichen (oft gewaltsamen) Sprung vor sich geht und in deren Folge (tatsächlich oder angeblich) qualitativ Neues entsteht. Gegensatz: Evolution.

    Die Revolution ist die erfolgreiche Anstrengung, eine schlechte Regierung loszuwerden und eine schlechtere zu errichten. Oscar Wilde

    Rousseau, Jean-Jacques (1712–1778) Aus Genf stammender Philosoph, der besonders in Frankreich wirkte. War der Auffassung, die Menschheit bewege sich durch Kultur und Wissenschaft von einem unschuldigen Naturzustand weg. »Allmächtiger Gott, befreie uns von der Erleuchtung unserer Väter, führe uns zurück zur Einfalt, Unschuld und Armut, den einzigen Gütern, welche unser Glück befördern ...« Rousseau forderte: »Zurück zur Natur«, so wie in unseren Tagen die ökologischen Fundamentalisten. Er war aber noch weitergehender, da er auch Kultur und Denken ablehnte.

    Sade, Donatien Alphonse François de (1740–1814) Französischer Schriftsteller und Philosoph. Von seinem Namen ist der Begriff Sadismus abgeleitet. Seine Bücher sind wie Abenteuerromane aufgebaut. In ihnen werden ständig Menschen sexuell gequält, wobei die Folterer aus ihrer Tätigkeit sexuelle Befriedigung erlangen und häufig nebenbei philosophische Gespräche führen, in denen Materialismus und Atheismus vertreten werden. In seinen Geschichten triumphieren Immoralität, Egoismus und Rücksichtslosigkeit immer über Moral und Tugend. De Sade hat erstmals aufgeschrieben, was andere Menschen bis dahin nur gedacht haben. De Sade verbrachte einen großen Teil seines Lebens in Gefängnissen und Irrenanstalten. Seit der Entstehung der Tiefenpsychologie, besonders der Werke Freuds und der des Sexualforschers Wilhelm Reich, ist Sades pathologisches Innenleben besser begreifbar.

    Schiller, Friedrich von (1759–1805) Deutscher Dichter, Kunstkritiker und Philosoph, der besonders auf den Gebieten der Ethik und der Ästhetik die Gedanken Kants weiterentwickelte. Versuchte, den Gegensatz von Pflicht und Neigung im Ideal der »Schönen Seele« aufzuheben. Der Kunst und dem Schönen gab Schiller eine wichtige Rolle in der Erziehung der Menschen.

    »Deine Weisheit sei die Weisheit
    der grauen Haare, aber Dein Herz –
    Dein Herz sei das Herz der
    unschuldigen Kindheit.«
    Friedrich von Schiller


    Scholastik Die christliche Philosophie des Mittelalters. Sie entstand aus den Belehrungen und der Erziehung der Geistlichkeit in den Klosterschulen. Sie diente anfänglich nur diesem Zweck. Von daher war sie keine voraussetzungslose Forschung, sondern sie hatte die Aufgabe, das, was der christliche Glaube bereits als unumstößliche Wahrheit besaß, vernünftig zu begründen und verstehbar zu machen. Sie war nach ihrem eigenen Selbstverständnis »ancilla theologiae«, Magd der Theologie. In der Zeit der Scholastik war Aristoteles der bedeutendste Philosoph. Die scholastische Methode bestand darin, die Aussprüche der vorangegangenen Denker und der Bibel zu den verschiedenen Punkten der Dogmatik zu sichten, zu vergleichen und dann eine meist vermittelnde Synthese aus allen zu ziehen. Dabei wurde aber (und das unterscheidet die Scholastik von Aristoteles) auf Beobachtung der Wirklichkeit und vorurteilsfreier vernünftiger Prüfung verzichtet.

    Semantik (von gr. »semainein« = bezeichnen) Lehre von der Bedeutung sprachlicher Zeichen und Zeichenfolgen, von Wörter, Sätzen und Texten. Teilgebiet der Sprachwissenschaft. Da in der Gegenwartsphilosophie die Sprachphilosophie oder die Auseinandersetzung mit ihr eine große Rolle spielt, hat die Semantik auch eine große philosophische Bedeutung.

    Semiotik (von gr. »semeion« = Zeichen) Lehre von den Zeichen und/oder deren Bedeutung. Teil der philosophischen Sprachtheorie.

    Sensualismus (von lat. »sensus« = Sinnes-, Empfindungsvermögen) Philosophisch-erkenntnistheoretische Lehre, die besagt, dass alle Erkenntnis allein auf Sinneswahrnehmungen beruht. Siehe auch Empirismus. Ein bedeutender Vertreter des Sensualismus war Feuerbach.

    Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, 3. Earl of Shaftesbury (1671–1713) (In der philosophischen Literatur sowohl als Cooper, wie als Shaftesbury erwähnt.) Von besonderer Bedeutung wegen der von ihm vertretenen Gefühlsethik. Die Ursache der sittlichen Auffassungen läge in der Natur des Menschen. Vernunft, Religion, äußere Gesetze, Moden und Meinungen könnten keine Ethik begründen. Wie bei Hutcheson.

    Sophismus (von gr. »sophistis« = Weiser) Eine Erscheinung im antiken Griechenland, von der umstritten ist, ob sie zur Philosophie gehört. Der Sophismus folgte auf die Vorsokratiker und leitete die Blütezeit der griechischen Philosophie mit Sokrates, Platon und Aristoteles ein. Skeptizismus, Subjektivismus, Relativismus und Nihilismus waren die vorherrschenden Züge bei den Sophisten. Diese waren Praktiker. Für sie war theoretisches Wissen ohne große Bedeutung. Wenn es keine Möglichkeit gäbe, mit Sicherheit festzustellen, wer Recht habe, dann käme es darauf an, wer Recht behalte. Die Kunst der Rede war ihnen das Wichtigste, da der Redegewandte sich in den Volksversammlungen und vor den Gerichten am besten durchsetzen konnte. Der Sophist Protagoras sagte, man müsse (durch die Rede) die schwächere Sache zur stärkeren machen können. Und der Sophist Gorgias meinte, die Rede sei wie ein Gift, man könne mit ihr gleichermaßen vergiften und bezaubern.

    Welche Berufsgruppe in unserer Zeit gleicht in diesem Punkte am meisten den Sophisten? (16, 15, 12, 9, 20, 9, 11, 5, 18)


    Die Sophisten haben trotz ihrer Ablehnung von vielem, was Philosophie ausmacht, für die weitere Entwicklung der Philosophie eine große Bedeutung gehabt. Im Gegensatz zu den Philosophen vor ihnen beschäftigten sie sich in erster Linie nicht mit der Natur, sondern mit den Menschen, mit politischen, moralischen, rechtlichen und kulturellen Themen. Sie begannen über das Denken selbst nachzudenken, fragten nach der Berechtigung der vorhandenen Moralvorstellungen und stehen am Beginn der Sprachwissenschaft.

    Spekulation (von lat. »speculatio« = Beschauung) Oft abfällig benutzter Begriff für erfahrungsunabhängiges (nicht an der Empirie, nicht an der Praxis orientiertes) Denken.

    Spengler, Oswald (1880–1936) Deutscher Philosoph, Schriftsteller, Kulturpessimist und Geschichtsmystiker. Kann bedingt zur Strömung der Lebensphilosophie gerechnet werden. Ein Reaktionär in der Tradition Nietzsches, der allerdings eine gewisse Distanz zu den Nazis behielt, nichtsdestotrotz in der Literatur allgemein als ein geistiger Wegbereiter des Faschismus angesehen wird. In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts war er besonders in Deutschland ein außerordentlich populärer Schriftsteller, der ab 1933 – dem Jahr der Machtergreifung der Nazis – nicht mehr in Deutschland im Radio erwähnt werden durfte. Spengler forderte (jedenfalls für Deutschland) einen autoritären Ständestaat, der auf Befehl und Gehorsam beruhe und den er der »englischen Demokratie« vorzog. Diese von ihm propagierte Gesellschaft war aber keine auf biologistischem Rassedenken aufgebaute Nazi-Gesellschaft, sondern eine Art idealisiertes Preußentum. Geschichte sei nicht ein fortlaufender Prozess, sondern ein Aufeinanderfolgen unabhängiger Kulturen. Jede Kultur sei ein Organismus, ein Lebewesen. So wie Lebewesen wüchsen, blühten und vergingen, so auch Kulturen. Durch die Untersuchung der schon da gewesenen Hochkulturen, der Herausarbeitung bestimmter grundsätzlicher Entwicklungen in allen diesen Kulturen und dem Vergleich mit dem Zustand unserer abendländischen Kultur kam Spengler zu den Ergebnis, dass die abendländische Kultur ihren Höhepunkt überschritten habe und nun mit Notwendigkeit ihrem Untergang entgegengehe. So heißt sein populärstes Buch Der Untergang des Abendlandes.

    Der Geist denkt, das Geld lenkt. Oswald Spengler

    Steiner, Rudolf (1861–1925) Begründer der Anthroposophie, einer religiös-esoterischen Bewegung und Weltanschauung, die von ihren Anhängern allerdings anders bewertet wird. Sie sehen in ihr eine Geisteswissenschaft, einen Erkenntnisweg zum Geistigen im Menschen und in der Welt, in deren Verlauf der Mensch eine stufenweise Entwicklung nachvollzieht, um höhere seelische Fähigkeiten zu entwickeln und übersinnliche Erkenntnisse zu erlangen. Steiner knüpft an die Deutschen Idealisten und Goethe an, verbindet diese mit einigen zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und mit christlichen, indischen und okkulten Auffassungen. In der etablierten Wissenschaft und Philosophie gilt das Werk Steiners als nichtwissenschaftliche bzw. nichtphilosophische Esoterik. Die in der Öffentlichkeit am stärksten bekannte und einflussreichste Schöpfung Steiners und der Anthroposophie sind die Waldorfschulen.

    Das Denken ist jenseits von Subjekt und Objekt. Es bildet diese beiden Begriffe ebenso wie alle anderen. [...] Das Subjekt denkt nicht deshalb, weil es Subjekt ist; sondern es erscheint sich als ein Subjekt, weil es zu denken vermag. [...] Ich darf niemals sagen, dass mein individuelles Subjekt denkt; dieses lebt vielmehr selbst von des Denkens Gnaden. Rudolf Steiner

    Stendhal (= Henri Beyle – 1783–1842) Häufig zitierter französischer Schriftsteller. Schrieb zeitkritische psychologische Sittenbilder, denen ein nonkonformistisches Individuum gegenübergestellt wird.

    Stoizismus Eine der zwei vorherrschenden Lebensphilosophien in der Antike (neben dem Epikureismus). Der Mensch sei ein Vernunftwesen, das die universelle Gesetzmäßigkeit in der Welt erkennen könne. Die einzige Tugend sei ein im Wissen um diese Gesetzmäßigkeit geführtes vernünftiges Leben. Hierin bestehe die einzige Glückseligkeit. Demgegenüber gebe es nur ein einziges Übel: unvernünftiges Leben. Alles andere, was von den Menschen im Allgemeinen hochgeschätzt werde, zum Beispiel Leben, Gesundheit, Ehre, Besitz, Lust oder was sie zu vermeiden suchten, zum Beispiel Krankheit, Tod, Armut, Knechtschaft, sei weder gut noch schlecht, sondern gleichgültig. Aufgabe des Menschen sei ein fortwährender Kampf gegen die Affekte. Sie gaukelten ihnen Gleichgültiges und Schlechtes als wertvoll vor. Das Ziel solle ihre völlige Überwindung sein. Der Stoizismus forderte allen Ereignissen, sowohl den (nach Meinung der Nichtstoiker) negativen wie positiven, mit Leidenschaftslosigkeit (gr. »apatheia«) zu begegnen. Wer dies erreicht habe, der sei wahrhaft weise. Alle anderen Menschen seien mehr oder weniger dumm. Die Stoiker forderten als erste weltanschauliche Strömung in der antiken Welt eine allgemeine Gerechtigkeit und Menschenliebe. Der Stoizismus hat mit seiner Ethik ganz entscheidend das aufkommende Christentum beeinflusst.

    Subjekt (von lat. »subjectum« = Zugrundeliegendes) In der Philosophie ein bewusstes, denkendes und handelndes Ich. Siehe auch Objekt.

    Subjektiv 1. Aus der Sicht eines Subjekts, eventuell sein geistiges Produkt, das eventuell nicht mit dem vom Subjekt unabhängigen objektiven Dingen, Tatbeständen, Beziehungen, Eigenschaften etc. übereinstimmt. 2. Einem Subjekt zugehörig oder von ihm ausgehend. Siehe auch intersubjektiv. 3. Voreingenommen, unsachlich.

    Subjektivismus oder Subjektphilosophie Bezeichnung für philosophisches Denken oder philosophische Systeme, die als Ausgangspunkt des Philosophierens das denkende Subjekt haben und nicht ein wie auch immer geartetes »objektives Sein«. Siehe auch Subjektiver Idealismus . Gegensatz Objektivismus.

    Substanz (von lat. »substantia« = Darunterstehendes) In der Philosophie das aus sich selbst Seiende. Weitere Bedeutungen: Stoff, Materie, das, was einer Sache Wert verleiht.

    Syntax (von gr. »syntaksis« = Zusammenordnung) Die in einer Sprache normale Verbindung von Wörter zu Wortgruppen. Wichtiger Begriff in der Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie.

    System (von gr. »sytema« = Zusammenstellung) Zusammenschluss einzelner Teile zu einem geordneten Ganzen, wobei das Ganze dann mehr ist als die Summe seiner Teile und die Teile eventuell nur im Ganzen existieren können oder Sinn haben. Die Teile werden innerhalb des Systems nicht nach ihrem Wesen, sondern ihrer Funktion bestimmt. Wissenschaft ist die systematische Einheit einzelner Erkenntnisse. Ein philosophisches System ist aus vielen Einzelaussagen zusammengesetzt und will ein Gesamtbild des Seins oder einzelner Teile des Seins darstellen. Systematiker gehen davon aus, dass die Wirklichkeit (wie ihre einzelnen Teile) ein System sei und deshalb auch nur in einem System von Erkenntnissen erfasst werden könne. Andere Philosophen bestreiten dies und wählen zur Darstellung ihrer Auffassungen bewusst eine unsystematische Vorgehensweise, zum Beispiel Nietzsche und die Poststrukturalisten.

    Kein einziges Organ unseres Körpers kann für sich allein am Leben bleiben. Ein Wort ist mehr als die Summe seiner Silben. Kein einziges Teil eines Flugzeuges kann für sich allein fliegen. Jedenfalls nicht über längere Zeit.


    Szientismus (von lat. »scientia« = Kenntnis) Die Auffassung, dass nur Wissen und wissenschaftliche Erkenntnis Grundlage von Wahrheit sein kann. Gegensatz: Fideismus. Negativ gebraucht bedeutet der Begriff »Wissenschaftsgläubigkeit«.

    Teleologie (von gr. »telos« = Ziel – Nicht verwechseln mit Theologie!) Die Lehre von der Zielgerichtetheit und Zielstrebigkeit jeder Entwicklung. Diese werde vom Ziel her bestimmt. In der Philosophie ist diese Theorie weit verbreitet und wird u. a. von Aristoteles, Kant und Hegel vertreten. Die Teleologie beinhaltet in der Regel den Determinismus.

    Term(e) (lat.) Zeichen bzw. eine Reihe von Zeichen zur Beschreibung von Objekten.

    Terminus (lat.) Begriff, Fachausdruck.

    Terminologie Vom Wortursprung her die Lehre von der Fachsprache eines bestimmten Gebietes. Tatsächlich aber diese Fachsprache selbst.

    Theos (gr.) Gott. Wortteil vieler wichtiger philosophischer und religiöser Begriffe.

    Theologie Eigentlich »Wissenschaft von Gott«. Faktisch ist es die Wissenschaft von dem – als wahr angenommenen – Christentum, von seiner Offenbarung, Überlieferung und Geschichte.

    Theorie (von gr. »theoria« = Betrachtung. Vom Wortursprung eigentlich »Gottesschau«) 1. Nach Aristoteles die Fähigkeit der Vernunft zur Erfassung der höchsten Begriffe und Urteile. 2. Systematische Gedankensammlung zur Erklärung gewisser Tatbestände. 3. Theorie als Gegensatz zur Praxis als eine rein wissenschaftliche Betrachtung.

    Theismus Glaube, dass ein Gott existiert. Theisten sind nicht unbedingt Anhänger einer bestimmten Religion.

    Tradition (von lat. »tradere« = übergeben, überliefern) Überlieferungen, Gewohnheiten, Gebräuche.

    Tradieren Überliefern u. ä.

    Transzendental (von lat. »transcensus« = in etwa »Übersteigung« Bei der Erkenntnis »übersteigen« wir nach Kant von vornherein die sinnlichen Eindrücke, da wir diese durch die apriorischen Kategorien erfahren. Bei Husserl transzendentale oder phänomenologische Reduktion. Nicht verwechseln mit Transzendenz!

    Transzendenz (von lat. »transcendens« = überschreitend) Die Grenzen der Erfahrung und des sinnlich Wahrnehmbaren überschreiten (Gegensatz immanent). Nicht verwechseln mit transzendental!

    Tyrannis (gr.) Der Tyrann war der Führer einer griechischen Staatsform in der Antike. Herrschaft eines Einzelnen. Im Gegensatz zur Monarchie wird unter Tyrannei meist eine Gewalt- oder Willkürherrschaft verstanden.

    Universalismus (von lat. »universalis« = allgemein) Philosophische Lehre, die das Allgemeine über das Besondere stellt. Alles Besondere lasse sich unter allgemeine Prinzipien ordnen. Gegensatz u. a. Partikularismus, Individualismus.

    Vaihinger, Hans (1852–1933) Deutscher Philosoph. Entwickelte die Philosophie des Als-Ob oder des Fiktionalismus. Fiktionen seien im Unterschied zu Hypothesen Aussagen, von denen wir wüssten, dass sie falsch seien, die wir aber dennoch als Hilfskonstruktionen mit Erfolg einsetzten, um künftige Erfahrungen vorauszusagen, was uns wiederum zu zweckgerichtetem Handeln befähigen würde. Diese Fiktionen bildeten mit der Zeit eine ganze Welt für sich, die für alles höhere geistige Leben, für Wissenschaft, Philosophie, Religion etc. wichtiger seien als die »wirkliche« Welt. Vaihinger war ein Vertreter des Pragmatismus: Wahrheit sei nichts anderes als Nützlichkeit für das Leben.

    Vico, Giambattista (1668–1744) Italienischer Philosoph, besonders Geschichtsphilosoph, Begründer der Völkerpsychologie, der spekulativen Geschichtsphilosophie, der Wissenssoziologie und Wegbereiter des Historismus. Der Mensch könne nur begreifen, was er selbst schaffe, die geschichtliche Welt. Umfassende Naturerkenntnis sei dagegen nur Gott möglich. Wandte sich gegen ein mathematisch-physikalisches Wissenschaftsverständnis, da es vieles ausblende, zum Beispiel Politik, Rhetorik, Kunst, Geschichte. Behauptete die Gesetzmäßigkeit des Aufstiegs und Untergangs der Kulturen. Die Vertreter des Radikalen Konstruktivismus sehen in Vico einen ihrer Vorläufer.

    Virtualität (von lat. »virtus« = Kraft) Echt Erscheinendes, aber keine Wirklichkeit. Siehe auch Schein.

    Virtuelle Realität Von einem Computer simulierte Wirklichkeit. Siehe auch Fiktion.

    Volition (von lat. »voluntas« = Wille) Prozess der Willensbildung.

    Volitional Willentlich.

    Voluntarismus Philosophische Lehre, nach der der Wille (nicht die Vernunft) das Grundprinzip des Seins darstellt. Bedeutende Vertreter sind Nietzsche und Schopenhauer. Auf die Gesellschaft übertragen bedeutet es, dem Willen des Menschen (weniger den objektiven Umständen) eine große Bedeutung zu geben. Gegensatz: Intellektualismus.

    Vielfach wird behauptet, die Marxisten im 20. Jahrhundert seien im Gefolge Lenins im Gegensatz zu Marx bezogen auf die Gesellschaft Voluntaristen gewesen.


    Vorsokratiker Die griechischen Philosophen, die zeitlich dem Sokrates und damit der Blütezeit der griechischen Philosophie mit Platon und Aristoteles vorausgingen. Die Vorsokratiker sind die Begründer der Philosophie. Es sind frühe Denker mit zum Teil ganz unterschiedlichen Auffassungen. Die Milesischen Naturphilosophen (Thales, Anaximandros, Anaximenes), Pythagoras und die Pythagoreer, die Eleaten (Xenophanes, Parmenides, Zenon von Elea) und die jüngeren Naturphilosophen (Heraklit, Empedokles, Anaxagoras, Leukipp und Demokrit). Die Philosophie und Wissenschaft der Vorsokratiker löste sich gerade vom Mythos bzw. ging aus Mythen hervor, ist häufig noch eine Mischung aus wissenschaftlich-philosophischer Welterklärung und Mythenbildung. Hauptthemen waren die Suche nach einem Urstoff oder einem Urprinzip, das Verhältnis von Sein und Werden und von Sein und Schein. Zum Teil werden auch die Sophisten zu den Vorsokratikern gezählt.

    Weizsäcker, Carl Friedrich von (1912–2007) Deutscher Physiker und Philosoph, Indeterminist: Aus Fakten ließen sich Möglichkeiten, aber keine Gewissheiten ableiten. Behauptet die grundlegende Bedeutung der Struktur der Zeit als Voraussetzung der Möglichkeit objektivierbarer Erkenntnis. Physik sei Fundamentalwissenschaft. Die äußere Natur und der Mensch, Objekt und Subjekt, physikalisch-naturwissenschaftliche und metaphysisch-religiöse Fachbereiche seien verbundene Teile einer umfassenderen Einheit. Entwickelte mehrere atomphysikalische Theorien.

    »Die Physik erklärt die Geheimnisse
    der Natur nicht, sie führt sie auf
    tieferliegende Geheimnisse zurück.«
    Carl Friedrich von Weizsäcker


    Wellenmechanik Eine von Erwin Schrödinger begründete Theorie, nach der die von Einstein erkannte Doppelnatur des Lichts – Teilchen und Welle – auch für die Elektronen und die gesamte Materie gilt (Schrödinger-Gleichung).

    Welt Ein nicht einheitlich gebrauchter Begriff. Bedeutungen: 1. Welt = (der Planet) Erde. 2. Welt = Universum, Weltall. 3. Welt = Materielle Welt (im Unterschied zu den nichtmateriellen Dingen, zum Beispiel dem Bewusstsein). 4. Welt = das allumfassende Sein. Die Frage, wie real die von uns wahrgenommene (materielle) Welt ist bzw. was für eine Art von Existenz sie hat, ist eines der zentralen Probleme der abendländischen Philosophie.

    Weltanschauung Die Gesamtheit aller Auffassungen über die Welt, von ihrer grundsätzlichen Beschaffenheit, ihrer Herkunft, ihrem Ziel, Sinn, Wert etc. und die Stellung des Menschen in ihr. Weltanschauungen beinhalten im Unterschied zu Erkenntnissen auch nicht begründbare Elemente, wie Deutungen, Ideale und grundsätzliche Vorstellungen der Lebensgestaltung, eventuell auch metaphysische und religiöse Auffassung. Der Begriff Weltanschauung hat heutzutage in der Wissenschaft und Philosophie wegen der nicht begründbaren Elemente eher einen negativen Klang. Es gibt aber auch Menschen, die sich ausdrücklich zur Weltanschauung bekennen.

    Weltbild Die Gesamtheit aller Auffassungen über die Welt. Dabei handelt es sich in der Regel um das naturwissenschaftlich abgesicherte Wissen. Zusätzlich kann das Wissen anderer Wissenschaften hinzutreten. Weltbilder sind zeit- und kulturabhängig (Beispiel: Kopernikanisches Weltbild). Im Gegensatz zur Weltanschauung beinhaltet ein Weltbild in der Regel keine Wertungen und Deutungen, keine letzten Fragen nach Sinn und Wert der Welt, nach Gut und Böse etc. (Das »naturwissenschaftliche Weltbild« ist keine Weltanschauung.) Es gibt aber auch Fälle, wo die Begriffe Weltanschauung und Weltbild nicht unterscheidbar sind. (Das »Christliche Weltbild« ist eine Weltanschauung.)

    Wert Ein vieldeutiger Begriff, jeweils abhängig von der wissenschaftlichen oder philosophischen Disziplin. In der Philosophie wird wie im Alltagsverständnis mehrheitlich unter Wert etwas verstanden, das akzeptiert, verinnerlicht, gewünscht, erstrebt, verehrt wird. Wert ist ein Orientierungsmaßstab, er ist Sinn und Norm für die Bevorzugung eines Dinges oder einer Handlung. Wie Werte zustande kommen bzw. welche Existenzart sie haben, ist umstritten. Einige meinen, es gibt objektive Werte, die unabhängig vom Menschen existieren. Andere meinen, Werte setzen immer ein wertendes Subjekt voraus, Werte seien mithin etwas Subjektives. Auch Zwischenpositionen werden vertreten. Siehe auch Ethik .

    Wiedergeburt Ein in vielen philosophischen Systemen, Religionen und esoterischen Weltanschauungen vorhandener Glaube, dem zufolge ein Mensch nach seinem Tode als ein anderer Mensch oder als ein anderes Lebewesen wiedergeboren wird, sein Bewusstsein bzw. sein »Ich« in einem anderen Körper fortexistiert. Diese Wiedergeburt kann je nach konkretem Glauben in einem Menschen, Tier, Engel oder einem andersartigen Lebewesen vor sich gehen und irgendwann in der Zukunft auch mal enden. Verbunden mit dieser Vorstellung ist oft der Glaube, auch früher schon als ein anderes Lebewesen existiert zu haben, als man gegenwärtig ist.

    Wiener Kreis Eine 1924 als »Verein Ernst Mach« entstandene Diskussionsrunde bedeutender Philosophen (besonders Positivisten, Logiker und Sprachforscher), der zum Ausgangspunkt des Neopositivismus wurde. Den Mitgliedern des Wiener Kreises ging es um »Wissenschaftliche Weltanschauung«. Darunter verstanden sie die Verbindung von Empirismus und Logik und die Ablehnung der Metaphysik. Diese philosophische Strömung wird auch »Logischer Empirismus« genannt. Starke Einflüsse von Wittgenstein. Die meisten Mitglieder des Wiener Kreises emigrierten vor Ausbruch des 2. Weltkrieges in die USA und hatten dort einen gewaltigen Einfluss auf die Philosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Siehe auch Analytische Philosophie.

    Wittgenstein, Ludwig (1889–1951) Österreichisch-britischer Sprachphilosoph und Logiker, einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Hatte großen Einfluss auf die sprachanalytische und dadurch auf die Philosophie des 20. Jahrhunderts insgesamt. Stammte aus einer Großindustriellenfamilie und hatte zu drei Viertel jüdische Vorfahren. Verschenkte sein Millionenerbe (größtenteils allerdings an seine sowieso reichen Geschwister) und lebte in großer Bescheidenheit. Litt sein Leben lang unter Depressionen und war häufig am Rande des Selbstmordes. Ein vielseitig begabter Mensch, der sich außer als Sprachphilosoph und Logiker auch als Ingenieur, Architekt, Dorfschullehrer, Gärtnergehilfe und Krankenpfleger betätigte.

    »Die Methode zu Philosophieren ist,
    sich wahnsinnig zu machen und
    den Wahnsinn wieder zu heilen.«
    Ludwig Wittgenstein


    Xenophanes (um 600 v. Chr.) Antiker griechischer Philosoph und Religionskritiker. Kritisierte den Wunder- und Aberglaube und die Seelenwanderungsvorstellung. Nach Xenophanes gibt es nur einen einzigen Gott, der weder in seiner Gestalt noch in seinen Gedanken dem Menschen vergleichbar sei. Dieser Gott sei allgegenwärtig, er sei mit dem Weltganzen identisch (Pantheismus). Xenophanes stellte als Erster die Behauptung auf, es gebe hinter der Vielfalt der Erscheinungen ein ewiges, unveränderliches Sein.

    Zhuang Zhou (auch Zhuang Tse – man findet viele weitere Schreibweisen, ca. 365–290 v. Chr.) war ein chinesischer Philosoph. Er wies auf die Relativität von Erfahrungen und Wertmaßstäben hin und versuchte, den Menschen falsche Gewissheiten bewusst zu machen. Seine philosophischen Auffassungen gab er vielfach in Parabeln wieder. Mit seiner bekanntesten, dem »Schmetterlingstraum« habe ich diese Einführung in die Philosophie eingeleitet.

    »Es ist derjenige am weitesten
    von der Wahrheit entfernt,
    der auf alles eine Antwort hat.«
    Zhuang Zhou


    Zyniker (von gr. »Kyon« = Hund) Schamloser, beleidigender, sarkastischer Mensch. Geht zurück auf die antike Schule der Kyniker.


    Zum Inhaltsverzeichnis


    Nachwort

    Im Sommer 2007 wurde mir von einer Mitarbeiterin des Redline Verlags angeboten, ein Buch mit dem Titel »Philosophie für Kids« zu schreiben. Der Verlag hatte bereits Bücher unter den Titeln »Physik für Kids«, »Chemie für Kids«, »Biologie für Kids« u. w. herausgegeben. Aufmerksam geworden war man auf mich, weil ich mit meinen im Internet veröffentlichten philosophischen Texte in den Suchmaschinen gut platziert war (und bin!) und weil mein »philolex« unter Schülern und Studenten – soweit sie für Philosophie Interesse haben – eine gewisse Bekanntschaft hatte (und hat!).

    Ich nahm das Angebot gerne an. Ergab sich für mich doch die Chance von einem »Hobby-Schriftsteller« zu einem »richtigen« Schriftsteller zu werden. Für die Schriftstellerverbände ist ein Schriftsteller nur, wer ein Buch veröffentlicht hat, das er nicht selbst finanziert hat.

    Als ich zu Beginn des Jahres 2008 mein Manuskript beim Verlag einreichte, war die eben erwähnte Mitarbeiterin leider in Mutterschaftsurlaub. Die Menschen mit denen ich nun zu tun hatte, verlangten von mir, einige hundert Fremdwörter und philosophische Fachbegriffe zu entfernen. Das ging aber nicht. Da hätte ich völlig andere Texte schreiben müssen. Eine Einleitung in die Philosophie kommt ohne eine gewisse Menge an Fremdwörtern und Fachbegriffen nicht aus. Alle werden bei ihrer Ersterwähnung mit allgemein bekannten deutschen Wörtern erklärt, soweit das möglich ist. Auch in den anderen » ... für Kids«-Büchern werden jede Menge Fachbegriffe verwendet. Um diese Bücher zu verstehen, muss ein älteres Kind schon überdurchschnittlich begabt und am Thema interessiert sein. Aber beim Buch »Philosophie für Kids« sollte das anders sein.

    Leider konnte ich mich mit dem Verlag nicht einigen und so kam das Buch nicht zu Stande. Wenn man den Titel bei einer Suchmaschine eingibt, bekommt man heute noch das nie erschienen Buch angeboten.

    Ich überarbeitete den Text. Statt Kinder anzusprechen, kindgemäße Beispiele zu verwenden, sprach ich nun Erwachsene, auch Jugendliche an. Ich schrieb ein paar zusätzliche Kapitel und ein paar zusätzliche Abschnitte für die bereits vorhandenen Kapitel (bis ins Jahr 2012 hinein) und veröffentlichte den Text sukzessive im Internet unter dem Titel »Einführung in die Philosophie«.

    Wenn ich mir die Arbeit schon gemacht habe, dann will ich nicht, dass sie anschließend in irgendeiner Schublade bzw. auf irgendeiner Festplatte »vergammelt«.

    Die Kapitel 10 bis 13 und einige Abschnitte in den anderen Kapiteln sind über vier Jahre hinweg geschrieben worden. (Die waren in der ursprünglichen Planung drin und schon entworfen. Da aber das Buch nicht zu lang werden sollte, dann doch nicht vorgesehen.) Da ich nicht alles, was ich je geschrieben habe, im Bewusstsein präsent habe, gibt es Zitate, Absätze und Erklärungen möglicherweise doppelt.

    Die Texte hatten ursprünglich auf dem Monitor eine feste Breite (600 Pixel). Wegen der Veränderung der Ausgabegeräte, statt herkömmlicher Monitore auch Tabletts und Smartphones, und der Vergrößerungsmöglichkeit, die die heutigen Browser anbieten, bin ich davon abgegangen. Die Texte sind aber noch nicht an allen Stellen der freien Breite und dem freien Zeilenumbruch angepasst, was mitunter unschön aussieht.

    Dass dieser Text nicht als Buch erschienen ist, hat für den Leser den Vorteil, dass er keine 20 Euro zahlen muss, um den Text zu lesen.

    Der Vorteil für mich ist, dass der Text weiterhin mir gehört, ich frei über ihn verfügen kann, das Copyright für ihn habe. Ich kann den Text jederzeit überarbeiten und ergänzen.

    Der Nachteil für mich: Ich bin auch weiterhin kein »richtiger« Schriftsteller :°(

    Ich habe hunderte kürzere und längere Texte geschrieben, habe jeden Monat eine fünfstellige Leserzahl. In den letzten 14 Jahren habe ich Leser in siebenstelliger Zahl in über 100 Ländern erreicht. So mancher »richtiger« Schriftsteller wäre froh, wenn er ein Bruchteil dieser Leserzahl hätte.

    Peter Möller
    Berlin, im März 2012

    »Sich im Spiegel zu beschaun,
    Kann den Affen nur erbaun.
    Wirke! nur in seinen Werken
    Kann der Mensch sich selbst bemerken.«
    Friedrich Rückert





    Inhaltsverzeichnis

    Vorwort
    Einleitung
            Wie sollte der Leser mit dieser Einführung arbeiten?
            Philosophie und Naturwissenschaften
            Griechisch und Lateinisch
            Die Farben in diesem Text

    1.Kapitel
    Was ist Philosophie?
        Philosophie und Einzelwissenschaften
        Teilbereiche der Philosophie
        Warum Sie sich mit Philosophie beschäftigen sollten
        Grundsätzliches zur Philosophie
        Abgrenzung zu anderen Wissensbereichen und Aktivitäten
            Fragen und Aufgaben

    2.Kapitel
    Die Grundfrage der Philosophie
                Analogieschluss
        Materialismus
            Realismus
        Idealismus
            Objektiver Idealismus
            Subjektiver Idealismus
            Spiritualismus
            Idealismus und Materialismus
        Agnostizismus
        Dualismus
                Popper und Eccles
                Religionen
        Monismus
        Mittelwege
        Scheinprobleme
        Synthetische Positionen
        Zusammenfassung
            Aufgaben

    3.Kapitel
    Grundsätzliche Tatbestände der Welt
            Perpetuum mobile
        Ontologie und Metaphysik
            Ontologie
            Metaphysik
        Sein und Schein
        Bewusstsein, Geist und Seele
            Bewusstsein
                Selbstbewusstsein
                Weltbewusstsein
            Geist
                Weltgeist
            Seele
                Unsterblichkeit der Seele
                Seelenwanderung
                Weltseele
            Naturwissenschaft und Bewusstsein
        Energie, Kraft und Materie
            Energie
                Energismus
            Kraft
            Materie
                Lenin
        Raum und Zeit
            Raum
            Zeit
                Ewigkeit
                Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
                Erinnerungen und Erwartungen
            Kant
            Menschliches Vorstellungsvermögen und Welt
                Zeit
                Raum
        Bewegung, Kausalität, Gesetz und Mathematik
            Bewegung
            Kausalität
                Kant
            Gesetze
                Kant
            Mathematik

    4.Kapitel
    Erkenntnistheorie
                Epistemologie
        Empirismus
            Abbildtheorie
            Paradoxon des Empirismus
            Induktion
        Rationalismus
            Denken
            Vernunft
            Verstand
            Intelligenz
            Deduktion
        Synthetische Positionen
        Intuition
                Intuitionismus
        Gefühl
            Was alles Gefühl genannt wird
                Gruppe von Bewusstseinsinhalten
                Lust und Unlust
                Gefühl als Wissen
                Gefühle als Grundlage von Ethik
            Gefühl in der Philosophie
        Glaube
            Die Bewertung des Glaubens in der Philosophie
            Glaubenskritik
        Meinen, Glauben und Wissen
            Wissenschaft
        Wahrheit und Wahrheitstheorien
            Korrespondenztheorie
            Prädikativer und attributiver Wahrheitsbegriff
            Evidentialismus
            Kritische Grundhaltung zur objektiven Wahrheit
            Konsenstheorie
            Kohärenztheorie
            Pragmatischer Wahrheitsbegriff
            Utilitaristischer Wahrheitsbegriff
            Wahrheit ganz unphilosophisch
        Skeptizismus und Dogmatismus
            Dogmatismus
                Dogmatisches Denken und Verhalten
            Fanatismus
            Dummheit
            Absolutismus
            Skeptizismus
                Antiker Skeptizismus
                Der neuzeitliche Skeptizismus
            Skeptizismus nicht gleich Unwissenheit
        Relativismus und Historismus
            Relativismus
            Historismus
        Sprachkritik
        Verifikation und Falsifikation
            Verifikation
            Falsifikation
        Evolutionäre Erkenntnistheorie
            Bedeutende Vertreter der Evolutionären Erkenntnistheorie
                Konrad Lorenz
                Hoimar von Ditfurth
                Rupert Riedl
                Egon Brunswik
                Karl Popper
            Ratiomorpher Apparat
        Überwucherung des Mittels über den Zweck
        Vergleich Tier - Mensch
        Die buddhistische Lehre von den zwei Wahrheiten
        Subjektivistische Auffassungen
        Wertfreie Erkenntnisse?
            Max Webers Wertfreiheitspostulat
            Der Positivismusstreit
            Lösungen

    5.Kapitel
    Logik und Denken
        Logik
            Analytik
            Syllogistik
                Obersatz, Untersatz, Konklusion.
                Kategorische Urteile
                Logisches Quadrat
                Beweis
                Allgemeine Sätze
                Unlogisches
            Moderne bzw. symbolische Logik
                Aussagenlogik/Aussagenkalkül - Junktorenlogik
                Prädikatenlogik/Prädikatenkalkül - Quantorenlogik
                Konstante und Variable
                4. Spalte der vier Kategorischen Urteile
                Logische Kontradiktion
                Logische Tautologie
                Gesetz der doppelten Negation
                Komplexe Formeln
                Logik als Instrument technischer Wirklichkeitsbeherrschung bzw. -veränderung
            Weitergehende Vorstellungen von Logik
        Denkfallen, Denksackgassen und Denkhilfen.
            Denkfallen und -sackgassen, widersprüchliche Begriffe und Aussagen
                Kann Gott allmächtig sein?
                Antinomie
                Paradoxon
                Aporie
                Das Schiff des Theseus
                Dilemma
                Krokodilschluss
            Verwirrung durch Sprache
            Wiederholung statt Erkenntnis
                Tautologie
                Pleonasmus
            Täuschung statt Erkenntnis
                Petitio Principii
                Circulus vitiosus
                Idem per idem
                Cum hoc, ergo propter hoc
                Mathematik
            Denkhilfen
                Metapher
                Oxymoron
            Lösungen

    6.Kapitel
    Dialektik
            Es bewegt sich und es bewegt sich nicht
        Entstehung und unterschiedliche Bedeutung der Dialektik
        Einige Grundsätze der Dialektik
            Dialektik in China
                Die Yin-Yang Lehre
                Li und Qi
        Wie Dinge und Eigenschaften sind und gleichzeitig nicht sind
            Die Relativität von Eigenschaften
                Blinde kennen keine Dunkelheit
                Gleich und ungleich zu gleich
                Gegensätzliche Gefühle wechseln
                Vergangenheit und Zukunft
            Die Relativität von Dingen
                Das Schiff des Theseus
            Materie und Geist
                Subjektives und Objektives
            Wer bin ich?
                Die buddhistische Dharma-Lehre
                Seelenwanderung
                Weltbewusstsein
            Das Sein und das Nichts
            Verschiedene Wirklichkeiten
                Aber irgendwie muss es doch schließlich sein!?
        Einige weitere Aspekte der Dialektik
            Aufheben
            Die Einheit und der Kampf der Gegensätze
            Das Umschlagen quantitativer in qualitative Veränderungen
            Vom Niederen zum Höheren
                Höherentwicklung der Materie
                Höherentwicklung des Lebens
                Höherentwicklung des Bewusstseins
                Objektives Wissen
                Höherentwicklung der Ethik
                Ontologischer Mehrwert
                Kategoriales Novum
            Lösungen

    7.Kapitel
    Wille, Freiheit und Determinismus
        Determinismus
            Kausalität und Determinismus
            Möglichkeit und Unmöglichkeit
            Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit
            Zufall
            Wahrscheinlichkeit, Möglichkeit und Zukunft
            Dialektik
        Präferierung
            World of propensities
            Gene und Lebensumstände
        Willensfreiheit
        Schuld und Verantwortung
        Naturwissenschaftliche Positionen
            Heisenberg

    8.Kapitel
    Ethik
        Ethik, Moral, Sitte etc.
            Ethik
            Moral
            Sitte und Sittlichkeit
            Tugend
            Gut und Böse
                Ideale
                Handeln
            Verschiedene Ethiken
        Inhaltliche Aussagen der Ethik
            Humanistische Ethik
            Faschistische oder autoritäre Ethik
            Individualistische oder egoistische Ethik
            Altruistische und utilitaristische Ethik
        Art der Herleitung der Ethik
            Objektivistische Wertethik
            Subjektivistische Ethik
            Güterethik
                Glück
                Zielethik
                Gesinnungsethik und Verantwortungsethik
            Formalethik
        Art der Begründung der Ethik
            Vernunftethik und Diskursethik
            Pflichtethik
            Gefühlsethik
                Emotivismus

    9.Kapitel
    Religion, Gott und Tod
        Religion
            Merkmale von Religion
        Gott
            Animismus und Polytheismus
            Monotheismus
            Das Problem der Theodizee
            Pantheismus
            Bedeutende Vertreter des Pantheismus in Europa
            Pantheismus in Indien
                Brahmanismus
                Buddhismus
                Purusha und Prakriti
            Pantheismus gleich Atheismus?
        Philosophie und Gott
            Gottesbeweise
                Teleologische Gottesbeweis
                Ontologischer Gottesbeweis
                Kosmologischer Gottesbeweis
                Pascalsche Wette
            Gedanken, die auf einen ideellen Ursprung der Welt hinweisen.
            Religionskritik
        Gott erst in Zukunft existent?
        Tod
            Materialisten
            Objektiver Idealismus
            Skeptiker und andere
            Sprachliche Tücken
            Todesangst
            Nahe-Tod-Erlebnisse
            Überwindung des Todes durch Wissenschaft und Technik?
            Lösungen

    10.Kapitel
    Der Mensch
        Geschichte der philosophischen Anthropologie
            Marx
            Darwin
            Freud
        Philosophische Anthropologie im 20. Jahrhundert
            Scheler
            Gehlen
            Plessner
        Synthetische Auffassung
        Bedürfnisse

    11.Kapitel
    Philosophische Psychologie
        Psychologie
            Psychologismus
        Wichtige Begriffe für Psychologie und Philosophie
            Sozialisation
            Unbewusstes und Unterbewusstes
            Ich
                Essenzialismus und Aktualismus
                Solipsismus
            Panpsychismus
            Traum
            Glück
            Liebe
            Affekte
            Angst
        Für die Philosophie bedeutende Psychologen
            Carl Gustav Carus
            Wilhelm Wundt
            Sigmund Freud
            Alfred Adler
            Carl Gustav Jung
            Erich Fromm
            Wilhelm Reich
            Jean Piaget
            Burrhus Frederic Skinner
        Für die Philosophie bedeutende psychologische Strömungen
            Tiefenpsychologie
            Gestaltpsychologie
            Psychopathologie

    12.Kapitel
    Staats- und Gesellschaftsphilosophie
        Gesellschaft
            Soziologie
            Gesellschaftsphilosophie
            Geschichte
            Geschichtsphilosophie
                Grundfrage der Philosophie
                Historismus
                Historizismus
        Staat
            Staatsphilosophie
            Geschichte der Staatsphilosophie
                Konfuzius
                Platon
                Aristoteles
                Von Aquin
                Machiavelli
                Grotius
                Morus
                Hobbes
                Bodin
                Althusius
                Locke
                Montesquieu
                Rousseau
                Kant
                Fichte
                Hegel
                Marx
                Lenin
                Popper
                Rawls
            Politik
            Recht
                Rechtsphilosophie
                Naturrecht und Rechtspositivismus
                Rechtsvorstellungen verschiedener Philosophen
            Macht
                Verschiedene Philosophen zur Macht
            Gewaltenteilung
                Horizontale Gewaltenteilung
                Vertikale Gewaltenteilung
                Subsidiaritätsprinzip
                Vierte Gewalt – Massenmedien
                Fünfte Gewalt – Lobbyismus
                Weitere Formen von Gewaltenbegrenzung
                Aristotelische Gewaltenteilung
                Gegner der Gewaltenteilung
                Gewaltmonopol des Staates
            Demokratie
                Humanismus
                Elemente einer modernen Demokratie
                Verschiedene Demokratieauffassungen
            Poppers Paradoxa
            Politisch-gesellschaftlichen Grundströmungen
                Kommunismus und Sozialismus
                Anarchismus
                Liberalismus
                Konservatismus
                Faschismus
                Sozialdarwinismus

    13.Kapitel
    Ästhetik
        Ästhetik in der Geschichte
        Kunst im gegenwärtigen Verständnis
            Musik

    14.Kapitel
    Die wichtigsten philosophischen Strömungen
        Analytische Philosophie
        Aufklärung
        Existentialismus
            Bedeutende Vertreter des Existentialismus
        Frankfurter Schule
            Bedeutende Vertreter der Frankfurter Schule
                Max Horkheimer
                Theodor W. Adorno
                Jürgen Habermas
        Kynische Schule
        Marxismus
                Dialektischer Materialismus
                Historischer Materialismus
                Geschichte
                Kommunismus
                Kunst und Philosophie
                Marxismus
            Lenin
        Metaphysik im 19. und 20. Jahrhundert
                Deutscher Idealismus
                Induktive Metaphysik
                Neue Ontologie
            Metaphysiknahe Strömungen
        Neukantianismus
        Phänomenologie
        Positivismus und Neopositivismus
                Positivismus – Auguste Comte
                Neopositivismus
                Rudolf Carnap
        Radikaler Konstruktivismus
                Methodischer Konstruktivismus
        Strukturalismus und Poststrukturalismus
            Strukturalismus
                Struktur
                Synchronie und Diachronie
                Signifikant und Signifikat
            Poststrukturalismus
                Bedeutende Vertreter des Poststrukturalismus

    15.Kapitel
    Die wichtigsten Philosophen
        Heraklit
        Sokrates
        Platon
        Aristoteles
        Descartes
        Spinoza
        Kant
        Hegel
            Das Wahre ist das Ganze
            Selbstentfaltung des Weltgeistes
            Geschichtsphilosophie
        Schopenhauer
            Hegel und Schopenhauer
        Nietzsche
        Heidegger
        Russell
        Popper
            Kritischer Rationalismus
            Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie
            Gesellschaftsphilosophie
            Offene Gesellschaft
            Kritik an Marx und den Marxisten
            »Trial-and-error-methode«
            Sprachphilosophie
            Die Theorie der drei Welten
            Objektive Erkenntnis

    16.Kapitel
    Sach- und Personenlexikon


    Nachwort


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